Matthias Kauffmann
Operetta Research Center
17. November 2024
Regisseur Andreas Gergen scheitert im Prinzregententheater an einer zeitgemäßen Neudeutung von Michael Kunzes und Sylvester Levays Mozart!-Musical.
Zunächst zum Positiven: Bei Mozart! handelt es sich um das möglicherweise klügste Drama-Musical aus der Feder des stilprägenden Autorenduos Michael Kunze und Sylvester Levay. Mit Elisabeth haben beide im Jahr 1992 diese eigenwillige Form eines ernsten europäischen Musicals überhaupt erst erschaffen – und es wäre zynisch, es an ästhetischen Maßstäben zu messen, die außerhalb seiner selbst liegen. Doch freilich drängt ein Mozart-Musical solche Vergleiche auf – obwohl das 1999 in Wien uraufgeführte Werk gar nicht den Anspruch erhebt, ein „authentisches“ Bild Wolfgang Amadeus Mozarts zu zeichnen. Vielmehr kritisiert es die Legendenbildung mit populären Mitteln. Anhand biographischer Stationen des großen Komponisten geht es im Grunde um die allgemeine Frage nach der Zerspaltenheit des Künstlers zwischen Kunst und Leben, Virtuosentum und Mensch, Eros und Thanatos.
Toxische Abhängigkeit
Und doch verdichtet Mozart! vor allem ein Thema, das die besten Libretti Michael Kunzes von seiner Elisabeth über Rebecca bis sogar hin zum Tanz der Vampire leitmotivisch verbindet: Kunze kreist stets um die Emanzipation eines zerbrechlichen Individuums gegen die toxische Abhängigkeit von übermächtigen Eltern-Figuren. Die Uraufführungs-Inszenierung von Mozart! durch Opernlegende Harry Kupfer begegnete diesen großen, ersten Sinn-Fragen mit einer intelligenten Mischung aus breit verständlichen Symbolismen und intelligenter Ironie: Der Dreadlock-Punker Mozart scheiterte an der „Kelly Family“ Weber.
Einer vortrefflichen Hamburger Adaption war 2001 kein langer Erfolg beschieden, was nicht zuletzt an der mit ihren 2000 Plätzen völlig überdimensionierten Neuen Flora gelegen haben mag: Im Kern bleibt Mozart! ein Kammerspiel. Das wiederum zeigte vor allem die mutige KERO-Inszenierung des Budapester Operettentheaters, die 2003 nicht viel brauchte, um das Werk ganz auf intensive Sängerdarsteller*innen im fast leeren Raum zu konzentrieren. 2015 schließlich tauschte Harry Kupfer in einer tournee-tauglich reduzierten Produktion für den asiatischen Markt – sie ist auf DVD erhältlich – sein schrilles Ur-Konzept gegen eine deutlich realistischere Optik, die dem Stück nicht besonders gut bekam: Was einst ironisch wirkte, geriet pathetisch.
Shakespearsche Wrestling-Arena
Es ist Andreas Gergen in seiner Neudeutung für die Bayerische Theaterakademie im Prinzregententheater (Premiere am 13.11.2024) positiv zu bescheinigen, dass er versuchte, eben diese Pathos-Fallen mit einem frechen und frischen Regiekonzept für das neue Jahrtausend zu vermeiden. Doch dieser Plan ging leider nicht auf. Das ist zunächst nicht Gergens Schuld: denn den erwähnten Generationen-Konflikt, welchen Wolfgang mit Autoritäten und Elternfiguren auskämpft, kann ein durch die Bank junges Studierenden-Ensemble nicht abbilden. Beispielsweise war die komplexe Rolle des Leopold Mozart ursprünglich einem Thomas Borchert auf den Leib geschneidert, der die Rolle des Widerlings stets zuverlässig verkörpert – und dabei doch schauen ließ, was einen Vater innerlich bewegt. Dies zu zeigen, benötigt eben auch im Ensemble ein autoritäres Altersgefälle.
Andreas Gergen nun hilft sich mit einem Regietrick, der bei Akademie-Produktionen so mancher Altmeister von Christof Nel bis Stefan Huber schon (etwas zu) oft zum Einsatz kam: Ein junges Ensemble eignet sich in einer grellen shakespearschen Wrestling-Arena aus Baugerüsten das Stück als lockeres „Theater auf dem Theater“ an, indem es in Rollen herein- und herausschlüpft, Kostümteile anprobiert, spielerisch Haltungen ausprobiert und auch lustvoll kreativ scheitert. Doch da rächt sich das Werk Mozart! bitter, denn seine großen Sinnfragen vertragen kein brechtsches „Als Ob“! Besonders bekommen das die (brillanten!) Darsteller von Vater Leopold und dem intriganten Fürsterzbischof Colloredo zu spüren, wenn sie beeindruckend würdevoll gegen die Bedeutungsschwere ihrer Rolle anspielen – und damit an einer dramaturgischen Hürde scheitern müssen, für die sie garnichts können.
Eklatanter Mangel an Fokus
Doch auch an Andreas Gergen als einem der wenigen wirklich namhaften deutschsprachigen Musicalregisseure sind sehr kritische Rückfragen zu stellen. Denn worunter der Abend handwerklich leidet, ist ein eklatanter Mangel an Fokus: Gerade aus den hinteren Reihen sieht man zumeist eine indifferente Masse weiß kostümierter Sportsfreund*innen aktionistisch vor sich hinwabern, denen klare spielerische Zentren fehlen. Korrekturen an Licht (eigentlich toll: Benjamin Schmidt) und Kostüm (Conny Lüders) hätten hier einiges auffangen können. Auch die grundsoliden Choreographien von Alex Frei schrumpfen so in ihrer Gesamtwirkung zu indifferenter Gruppen-Steppgymnastik; die Tableau-Nummer „Hier in Wien“ gerinnt in ihrer Gesamtwirkung gar zu einer Art „Temu-Hamilton“.
Der tückische Großraum des Prinzregententheaters mit seinen vertrackten Sichtlinien tötet vor allem Gergens beste Idee: Das Porzellankind Amadé ist hier kein Kinderdarsteller, sondern eine von drei herausragenden Puppenführern gesteuerte abstrakte Figur. Diese drei leisten feinfühligstes figurentheatrales Champions-League-Niveau (Liebe Akademie, wäre dies nicht ein trefflicher Anlass, über die Reaktivierung des Studiengangs „Puppenspiel“ nachzudenken?). Ein Highlight, welches man jedoch kaum angemessen sieht, da die Figur durch ihre ebenfalls weiß kostümierten Akteure praktisch „absäuft“.
Plattester Sexismus
Leider offenbart sich anhand der Kostüme auch das eigentliche Ärgernis des Abends: Seit der Uraufführung vor 25 Jahren hat sich der Gender- und Queer-Diskurs zum Besseren entwickelt, gerade in der Operetten- und Musicalszene. Gergens Regie wirft eben jenen Diskurs um gefühlte Jahrzehnte zurück. Queer kommt hier maximal als erbärmliche Schikaneder-Knallcharge zur Geltung. Ansonsten dominiert biedere Heteronormativität einerseits und ein fragwürdig „verfügbares“ Frauenbild andererseits: Dass Wolfgang als Kompositions-Provision allzeit willige junge Damen zugeführt werden (und wenn schon: Warum keine Jungs und nix dazwischen…?), mag als librettistische Kauzigkeit aus dem vorigen Jahrtausend durchgehen.
Doch wie Meister Gergen die eigentlich feenhafte „gute Mutter“ Baronin von Waldstätten in vulgärer, in den hinteren Reihen kaum mehr als solche erkennbarer Unterwäsche über die Bühne jagt, grenzt an Unverantwortlichkeit – von den menschlichen Hüh-Pferdchen an Colloredos Kutsche ganz zu schweigen! Die sonst so vorbildlich sensible Theaterakademie erliegt hier plattestem Sexismus. Darüber sollte – muss! – nachdiskutiert werden.
Hervorragende Darsteller*innen
Über jede Diskussion erhaben sind die hervorragenden Musicaldarsteller*innen, mit denen sich die Bayerische Theaterakademie einmal mehr als führende Ausbildungsstätte des Genres profiliert. Herauszuheben ist an dieser Stelle Christian Sattler in der Rolle des stürmenden und drängenden jugendlichen Mozart: Ein junger Student, noch mitten in der Ausbildung, spielt mir ungestümer Bühnenlust bereits viele an die Wand! Bravi!!
Die Hauptrolle wurde nach Lebensphase Mozarts gedrittelt und neben Sattler mit Jens Emmert und Raphael Binde hochkarätig besetzt: Emmert beeindruckt insbesondere als gereifter Liebhaber in feinfühligen Duetten mit seiner Constanze, während Binde den dramatischen Finali namentlich im Song „Warum kannst Du mich nicht lieben?“ großartiges Profil verleiht. In der Rolle der Constanze Mozart empfiehlt sich Laura Oswald als eine der interessantesten Power-Frauen ihrer Studiengeneration; gewisse mikrotonale Unebenheiten in der Abräumer-Nummer „Irgendwo wird immer getanzt“ mögen eher auf das Konto einer abendfüllend ungerecht ausbalancierten Raum-Akustik gehen, die bei Musicals im Prinzregententheater immer das Hauptproblem bleibt.
Madleen Dederding ragt als Baronin von Waldstätten weit heraus: Mit welcher Würde sie ihr unsägliches Kostüm vergessen macht, mit welcher Souveränität sie das „Gold von den Sternen“ stimmlich und darstellerisch zum Showstopper des Abends adelt: Diese Frau kann alles, auch Oper, wenn sie will! Gleiches gilt für Teo Pop, der seit mehreren Semestern als spartenübergreifende Musiktheater-Hoffnung auffällt. Die Rolle des Antagonisten Colloredo scheint ihm auf den Leib geschneidert und namentlich das rockige „Wie kann es möglich sein?“ trägt er souverän nach Hause; alles sitzt, bis ins saubere Falsett.
Gnadenlose Akustik
Leider leistet ihm die Regie einige Bärendienste: Neben dem statuarischen Graf Arco von Bjarne Rentz schrumpft der ewig wutschnaubende und schließlich gegen Mozart als Fliegengewichts-Rocky in den Boxring steigende Fürst der Provinz ungewollt zur Leporello-Figur. In mutiger Geradlinigkeit gestaltet Ehab Eissa die schwierige Partie des Leopold Mozart, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, in Vaterrollen-Klischees zu rutschen: Mit „Schließ Dein Herz in Eisen ein“ zeigt er den vom Leben tiefst verletzten Menschen hinter der Fassade. Alida Will gibt dem Nannerl als häusliche Kontrastfigur des Titelhelden einfühlsame Glanzmomente; leider war ihr Part stark zusammengekürzt. Brandon Miller kann die Schikaneder-Partie auch nicht retten und Melanie Maderegger stemmt sich als Cäcilia Weber gewitzt gegen jedwedes Domina-Klischees der Regie. Ihr sekundiert ein bravouröses Ensemble, in dem sich niemand auf Kosten der Anderen in den Vordergrund drängt. Solch gelungenes Teamplay ist auch auf größten Musicalbühnen keine Selbstverständlichkeit.
Aus dem Graben erklingt mit dem Münchner Rundfunkorchester unter der bewährten Stabführung des Musical-Spezialisten Andreas Kowalewitz der wohl größte Klangkörper, den das Werk bislang gesehen hat. Eben dieses Plus zeitigt leider auch ein großes Minus des Abends: Maestro Levays kompositorische Stärken zeigen sich seit jeher in seinen Power-Arien. Seine Schwäche liegt seit jeher in den Eigen-Orchestrationen, was gerade in der Interpretation dieses Luxus-Klangkörpers umso greller hervorsticht: Levays Tendenz zum Unisono des gesamten Streicher-Apparates, die Begleitung der Melodiestimme durch penetrant trompetendes Blech und nicht zuletzt das proseminaristisch monotone Getacker des Schlagzeugs …: Was in Musical-Häusern akustisch „ging“, verpufft in der gnadenlosen Akustik des Prinzregententheaters als bräsiger Klangbrei. Hörbar befreit jubilieren die Streicher, wenn sie in einem der handverlesenen Mozart-Originalzitate schwungvoll kontrapunktieren dürfen.
Gegen Ende des Abends regnet es kubikmetergroße Mozartkugeln, schließlich wird gar ein drei Meter großes Prachtexemplar hereingefahren. Es bringt den Abend auf den Punkt: Er wirkt attraktiv und mit besten Zutaten gefertigt, erweist sich aber als zu klebrig und nährstoffarm, um das Subgenre des Drama-Musicals wirklich produktiv in die Zukunft zu denken. Leider.
Weitere Informationen zum Stück finden sich hier.