Kevin Clarke
Operetta Research Center
30 November, 2014
Zu Weihnachten 2014 schenkt die Komische Oper den Berlinern eine sehr späte – und überfällige – Hauptstadtpremiere von Emmerich Kálmáns letzter Operette: Arizona Lady (1954). Das Werk knüpft an die frühere transatlantische Tradition Kálmáns an und bringt singende und reitende Cowboys auf die Bühne sowie einen knallbunten Wilden Westen, mit einigen dunklen Untertönen. Wir sprachen mit Kálmáns Sohn Charles Kálmán über die Entstehungsgeschichte des Werks, an dem er stark beteiligt war, als musikalischer Vertrauter seines Vaters.
Die meisten Menschen assoziieren mit dem Namen Emmerich Kálmán heute (fälschlicherweise) ausschließlich Ungarn und Wien. Dabei ließ Ihr Vater seine letzte Operette – sein opus magnum summum – fern von all dem im Wilden Westen spielen. Wieso?
Schon als junger Mann, als er noch in Ungarn lebte, verschlang mein Vater Romane übers Leben der Cowboys. Der Far West interessierte ihn. Später in Wien setzte er die Lektüre fort mit Büchern von Max Brandt und sah sich die Stummfilme mit William S. Hart und Tom Mix an. Als dann der Tonfilm auftauchte, waren seine Lieblingsfilme wieder die Far West-Streifen mit Gary Cooper und später mit Henry Fonda. In Amerika, in der Exilzeit, hat er nicht nur große Filme wie The Return of Frank James (1940) oder My Darling Clementine (1946) gesehen, er liebte auch die Low Budget-Western, die so genannten B-Pictures. Er guckte sie sich alle an und schleppte uns Kinder oft mit ins Kino. Er sah sich auch gern die Roy Rodgers-Filme an. Es ist sicher kein Zufall, dass der Hauptakteur in Arizona Lady Roy heißt!
Was faszinierte Ihren Vater am Wilden Westen?
Das farbenfrohe Abenteurer-Ambiente und vermutlich das Thema der Gerechtigkeit, die Idee, dass in diesem primitiven Milieu zwischen Cowboys und Indianern immer für Law & Order gekämpft wird – ein nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs wieder hoch aktuelles Thema.
Warum hat Ihr Vater nicht schon früher eine Cowboy-Operette geschrieben?
Er war ja dran! 1937, lange nachdem er Die Herzogin von Chicago komponiert hatte (die ja ein deutlicher Annäherungsversuch an die USA war und eine große Indianer-Nummer enthält) haben ihm Brammer und Grünwald ein Textbuch mit dem Titel Bozena angeboten, welches in der Tschechei spielte. Mein Vater las es, war begeistert, sagte aber: „Bitte, für mich entweder etwas Ungarisches oder Amerikanisches“. Als die Autoren es ablehnten, ihren Entwurf umzuschreiben, hat er das Libretto abgelehnt. Viele Jahre später hat es Oscar Straus vertont (1952).
Arizona Lady ist als große, moderne Operette konzipiert, mit der Kálmán nach dem Weltkrieg einen Neustart in Europa einläuten wollte – indem er nach den Nazi-Jahren und all den volkstümelnden „Heimat-Operetten“ des Dritten Reichs wieder an die transatlantische Seite des Genres anknüpfte, die er selbst mit der Herzogin von Chicago 1928 zu höchster Blüte geführt und die ihm nach 1933 das Prädikat „entartet“ eingebracht hatte.
Er wollte ursprünglich aus Saratoga Trunk, einer Novelle von Edna Ferber, die 1945 mit Gary Cooper und Ingrid Bergman verfilmt worden war, ein Musical machen. Miss Ferber gab ihm die Rechte jedoch nicht als sie hörte, dass er das Stück in Europa herausbringen wollte. Sie sagte: „Meine Musicals oder die Adaptierung meiner Romane müssen in den USA starten.“
Arizona Lady führte zu einer Aussöhnung mit seinem Ex-Librettisten Alfred Grünwald – mit dem sich Kálmán 1930 zerstritten und seither nicht zusammen gearbeitet hatte.
Trotz des Streits hat mein Vater mit Grünwald den Kontakt immer aufrecht gehalten, besonders im amerikanischen Exil nach 1940. Die beiden haben in New York oft über das alte Wien gesprochen, haben sich die Schellackplatten angehört, die mein Vater aus Europa mitgebracht hatte. Eines Tages sagte Grünwald zu meinem Vater: „Es wird höchste Zeit, dass wir wieder etwas schreiben. Aber es muss etwas sein, wozu die europäische Presse nicht sagen kann, die Herren hätte im Amerika nichts dazu gelernt. Wir müssen die Leute mit etwas Neuem überraschen.“
Gab es auch andere Gründe, eine Wildwest Operette zu schreiben?
Es mag sein, dass Puccinis Mädchen aus dem Goldenen Westen (La Fanciulla del West) ihn inspiriert hat, denn er verehrte Puccini sehr. Es könnte auch sein, dass er wie Dvorak nach all den Jahren in Amerika eine Operette „Aus der Neuen Welt“ komponieren wollte.
Hat er sich von einem konkreten Bühnenwerk inspirieren lassen?
Er sah sich 1949/50 dreimal ein Musical an, welches eigentlich kein Erfolg war, aber das er trotzdem immer wieder sehen wollte. Es hieß Texas, L’il Darlin’, mit Musik von Robert Emmett Dolan und Liedtexten von Johnny Mercer. Einmal nahm er auch Gustave Beer mit, den zweiten Librettisten. Ich glaube zwar nicht, dass das Stück sie konkret inspiriert hat, Arizona Lady zu schreiben, aber sie haben trotzdem etwas von der Cowboy-Atmosphäre geschnuppert.
Hatte Ihr Vater weitere amerikanische Vorbilder?
Er bekam ja immer von allen Broadwayneuigkeiten die Noten zugeschickt, vom Verleger Chapel. Knapp nach der Premiere von South Pacific ist er 1949 nach Europa gereist. Als er zurückkam, sang ganz Amerika die Melodien von Rodgers und Hammerstein. Da sagte Grünwald zu mir: „Charlie, setz’ dich ans Klavier und spiele uns ein paar Sachen aus dem Musical vor, den Walzer ‘Wonderful Guy’.“ Ich habe das gespielt, und Grünwald meinte zu meinem Vater: „So etwas können wir auch!“ Daraufhin schrieb mein Vater den Walzer „Am Sonntag kommt mein Mädel“ (Nr. 15), der das Rezept der ständig wiederholten Refrainnote von Rodgers geschickt verarbeitet. Kálmán fusioniert hier – wie in seinen besten Werken der 1920er Jahren – den zeitgenössischen Broadway-Sound mit der traditionellen Wiener Operette auf perfekte Weise.
In die gleiche Richtung geht auch der schmissige „Song der Prärie“.
Ja, dieses „Reit’, Cowboy, die Welt ist so weit, Cowboy“ ist ganz anders, als was Kálmán in den Jahren zuvor mit seinen historischen Operetten geschrieben hatte. Das ist purer Broadway – so wie in seinen Erfolgsstücken vor 1928. Darum glaube ich auch, dass Arizona Lady von all seinen späten Werken das frischste ist.
Trotz solcher ‚Knaller’-Nummern wollte das Werk in Europa niemand spielen…
Mein Vater hatte das Werk zu 90 Prozent beendet und 1950 dem Opernhaus Zürich angeboten. Dort wurde es abgelehnt. Danach hat er es in München am Gärtnerplatztheater mit dem gleichen negativen Resultat versucht. Man war damals in Deutschland nicht am Broadway oder einer am Broadway orientierten Operette interessiert, spielte lieber die Mariza und Csárdásfürstin als heimatfilmartige Puszta-Folklore. Sogar der ausgewiesene Broadwayhit Oklahoma! aus dem Jahr 1943, an dem sich Arizona Lady deutlich und bewusst orientiert, war 1951 im Rahmen einer Deutschlandtournee ein Flop. Man guckte in der jungen BRD lieber Filme wie Schwarzwaldmädel (1950) oder Grün ist die Heide (1951).
Die Ablehnung seines neuen transatlantischen Werks deprimierte Kálmán scheinbar sehr…
Ja, am Weihnachtstag 1950 hatte er einen schweren Schlaganfall. Er ist nicht gleich daran gestorben, denn er war eine unglaubliche Kämpfernatur. Aber er hat nie wieder richtig sprechen oder Klavier spielen können. Er konnte nur mit Mühe schreiben und hat oft aus Frustration darüber geschluchzt. Übrigens: Grünwald hatte ebenfalls einen Schlaganfall, im Mai 1950. Und Julius Brammer, der alter Partner der Mariza, Bajadere und Zirkusprinzessin, hatte in Juan-les-Pins 1943 ebenfalls einen Schlaganfall.
Ist es nicht seltsam, dass alle drei Männer an der gleichen Krankheit gestorben sind?
Wie konnte Kálmán in dieser gesundheitlichen Verfassung das Werk vollenden?
Im Rohzustand war der Klavierauszug ja fertig. Ich habe davon Musikaufnahmen gemacht, die ich dem Verleger Weinberger gab. Der hat sich mit dem Theater Bern in Verbindung gesetzt und die dortige Uraufführung organisiert. Es wurde vereinbart, dass die Instrumentation von einem erstklassigen Arrangeur gemacht werden sollte, Wolfgang Friebe. Der brachte meinem Vater seine Entwürfe, die er sich solange vorspielen ließ, bis er mit dem Resultat zufrieden war. Herr Friebe knüpfte im Sommer 1953 auch Kontakt zum Bayrischen Rundfunk und erzählte, dass Kálmán im Sanatorium Ebenhausen zur Kur weilte. Daraufhin fragte der BR an, ob er die Uraufführung des neuen Werks im Funk übernehmen dürfe, die dann am 1. Januar 1954 um 20 Uhr stattfand – noch vor der Bühnenpremiere in Bern, die erst am 14. Februar 1954 war.
In Arizona Lady hat sich Ihr Vater einen posthumen Witz erlaubt, der quasi sein künstlerisches Testament ist, denn er starb am 30. Oktober 1953.
(lacht) Ja, er hat seine Bühnenoperetten immer nach den weiblichen Hauptdarstellerinnen benannt. Bei der „Arizona Lady“ aus dem Titel handelt es sich jedoch um ein rassiges Rennpferd. Das ist die ultimative Pointe des Stücks und zeigt Kálmán noch mal als jenen verschmitzten Spaßvogel, der er eigentlich immer war. Mit einem solchen Augenzwinkern hat er sich von der Operettenbühne verabschiedet und mit einem solchen Augenzwinkern sollte man auch seine Musik hören.
was für ein interessantes gespräch, toll