Gerrit Waidelich
Operetta Research Center
12. November 2025
Das Publikum von Blindenmarkt sowie alle Operettenfreunde, die von weit her dorthin gepilgert sind, werden hier dankenswerterweise mit einem ihm weitgehend unbekannten Werk vertraut gemacht, das alle Qualitäten populärer Operetten aufweist.

“Der Schokoladensoldat” with Martin Mairinger as Bumerli. (Photo: Lukas Johann)
Zwar hatte Udo Jürgens 1972 George Bernard Shaws Komödie Arms and the Man (1894) im Theater an der Wien unter dem Titel Helden, Helden zwischenzeitlich wachgeküsst, doch einen jahrzehntelangen Erfolg erzielte das Sujet wohl doch nur als Operette von Oscar Straus, der 1908 die recht neue und stofflich sehr aktuelle Comedy des irischen Satirikers in musikalischer Gestalt auf die Bühne des Theaters an der Wien brachte.
George Orwell hielt Helden für die beste und witzigste Komödie Shaws, auch der als Librettist und Rezensent aktive Alfred Grünwald befand: „Diese hinreißend kluge, klassisch witzige und himmlisch geistvolle Komödie des zweitgrößten Theaterbriten [nach Shakespeare!] gehört ohne Zweifel zu den fünf oder sechs besten Lustspielen der Weltliteratur.“ Und wenn der Schweizer Dramatiker Dürrenmatt konstatierte, der Welt sei nur noch die Komödie beizukommen, so ist das getrost auf das Genre der satirischen Operette zu übertragen. Auch an das grotesk-hintersinnige, Antikriegs-Schauspiel Operette des polnischen Autors Witold Gombrowicz mag man denken.
Entlarvung der Heldenpose
Als stofflichen Hintergrund seiner Komödie hatte Shaw den Konflikt des serbisch-bulgarischen Krieges von 1885/86 gewählt, in dem Bulgaren u. a. darum kämpften, von Reparationszahlungen an das osmanische Reich befreit zu werden. Ein Angriff aus Serbien, unterstützt auch von Österreich-Ungarn, befeuerte die kriegerischen Auseinandersetzungen, letztlich wuchsen aber mehrere bulgarische Teilgebiete zeitweilig zum Fürstentum Bulgarien zusammen. Es geht Shaw um die Entlarvung der Phrase und Heldenpose, das vermeintliche Heldentum im Krieg wird grundsätzlich infrage gestellt. Der begehrte Friedensnobelpreis wurde dem Pazifisten Shaw nicht verliehen, nur jener für Literatur 1925. In Wien sorgte die Komödie noch 1922 in der Zwischenkriegszeit für politischen Zündstoff. Dem Burgtheater blieb bei seinem Gastspiel im Schönbrunner Schlosstheater aufgrund der wütenden Proteste bulgarischer Studenten nichts anderes übrig als die Aufführungsserie abzubrechen.

M. Ottmann als Mascha in “Der tapfere Soldat”, Theater des Westens, Berlin 1909. (Photo: Theatermuseum Wien)
Es war aber für Straus zunächst gar nicht so einfach, die Rechte dafür zu erlangen, Shaws Stück für das Musiktheater zu gewinnen. Gegenüber Straus’ Librettisten Leopold Jacobson (Co-Autor: Rudolf Bernauer) räumte Shaw zwar die Berechtigung ein, sein Schauspiel als Vorlage eines Operetten-Librettos zu adaptieren, machte aber spezielle Bedingungen geltend: zwar durfte die Handlung übernommen werden, nicht jedoch der Wortlaut seiner originalen Dialoge. So waren Straus’ Textdichter also gezwungen, diese sogenannte „Prosa“ völlig neu zu erfinden. Shaw war durch und durch Musikkenner (und renommierter Feuilletonist), aber vielleicht hat gerade dies ihn dazu bewogen, gegenüber Bearbeitern seiner geschliffenen Formulierungen skeptisch zu sein.
Dass Straus, gerade auch nach seiner Mitwirkung im Kabarett Überbrettl von dem Shaw’schen Sujet begeistert war, liegt auf der Hand. Über Jahrhunderte verdingten sich Schweizer als willige Söldner fremder Heere. Sprichwörtlich war ihr Heimweh, dem sie in der Ferne verfielen. Bumerli dagegen bleibt der stets schlagfertige und bestens gelaunte Charmeur, der alle Damen verzaubert, neben der nur scheinbar widerspenstigen jungen Nadina auch deren Freundin Mascha und die Mutter Aurelia.
„Komm, komm! Held meiner Träume“
Auch wenn einem zunächst nur zwei sangbare Melodien ins Ohr zu gehen scheinen, so hat der Tapfere Soldat von Straus doch mindestens ein halbes Dutzend musikalische Ohrwürmer zu bieten, insbesondere den sehnsüchtigen Walzer „Komm, komm! Held meiner Träume, … mein Ideal!“ Gewitzt und erotisch zweideutig zieht Nadina den in ihr Schlafgemach eindringenden Fremdling durch den Kakao, indem sie spitzbübisch formuliert: „Ach du kleiner Pralinésoldat, das Süße ist dein Faible, ei um dich ist’s wirklich jammerschad, wozu hast du den Säbel!“
Mit diesen Zeilen kam es auch zu dem im Englischen üblichen Alternativtitel der Operette The Chocolate Soldier. Bumerli versucht, seine Retterin zu umgarnen: „Ja, ich gesteh’ es ehrlich zu, daß ich sehr gerne leben tu, ich hatte für das Sterben nie, besonders große Sympathie.“ Sie entgegnet in einer veritablen Arie aber mit einem Verweis auf ihren offiziellen Verlobten Alexius: „Ich bin verlobt mit einem Manne, wie’s keinen schönern zweiten gibt.“ Und doch jammern die Damen einhellig: „Ach was fangen wir denn an, wir sind gänzlich ohne Mann … ohne Männer hat das Leben keinen Zweck!“
Dagegen darf sich Alexius überzeugt brüsten: „Denn mir hat in diesen Landen, noch kein Weib je widerstanden!“ um dann einzuräumen „ich habe es selber zuerst nicht geglaubt, was ich für ein Held gewesen!“ Und selbst Vater Popoff pudelt sich auf: „Ich habe gekämpft ohne Ruh, ohne Rast, ich habe gefochten, ich habe …“ worauf Alexius ihm sogleich bestätigend ins Wort fällt: „du hast!“ Und als Quintessenz artikuliert das Quintett der Gesprächspartner: „unser Leben ist uns lieber. Nur kein Krieg und kein Gefecht, denk’ ich dran so wird mir schlecht … ja so ein Krieg, der ist infam!“ Bei seiner unverhofften Rückkehr im nächsten Akt meldet sich der Schweizer Bumerli nach einem beschaulich tönenden Kuhreigen mit der beschwingten 6/8-Melodie: „Wenn man so dürfte, wie man wollte, wenn man so könnte, wie man sollte, hätte das Leben manchen Reiz einerseits und and’rerseits!“ Ein Kuss-Duett von Nadina und Bumerli ist nicht nur durch den schnippisch-spöttischen Tonfall Nadinas originell, es mündet auch in einen graziös-komischen Nachtanz beider. Und doch droht Nadina noch die Vermählung mit Alexius, bis Mascha dazwischenfunkt und mittels eines Konterfeis von Nadina, das sie Bumerli gewidmet hat, klarstellt, dass die Paare anders verbandelt sein sollten. Der plötzlich aufkommende Argwohn, was denn der Schweizer in Nadinas Schlafzimmer getrieben haben mochte, wird durch ein „Pardon“, er habe ja lediglich den „Balkon“ bestiegen, beschwichtigt. Mit dem Klang des hier wiederholten Sehnsuchtswalzers wird allen unmissverständlich klar: „Das war der Held ihrer Träume, ihr Ideal!“
Kuss- und Schlussgesang
Nachdem sich Nadina dann vorläufig und zum Schein von Bumerli losgesagt hat, erklingt neuerlich ein Kuhreigen, während sie einen Abschiedsbrief formuliert. Immerhin gibt Mascha sich dann Alexius hin, selbst wenn sie ihn aufzieht: „du bist ein Mann und darum bist du dumm!“, bzw. „Drum laß dich nicht mit Frauen ein, stets wirst du der Gefoppte sein.“ Letztlich aber wird dadurch alles in die rechten Bahnen gelenkt, dass der vermeintliche Missetäter Bumerli erfolgreich um die Hand der Kompromittierten anhält. Ein neuerlicher Kuss- und Schlussgesang versöhnt alle. Um noch einen weiteren Schlager präsentieren zu können, wurde in Blindenmarkt “Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will” aus Straus’ gleichnamiger Operette (1932) eingelegt.

Jasmin Bilek (Mascha) und Lukas Johan (Alexius Spiridoff) in “Der Schokoladensoldat”. (Photo: Lukas Beck)
Festivalchef Michael Garschall erwies sich seit Anbeginn der Herbsttage-Tradition als Garant dafür, Aufführungen herauszubringen, die das Publikum liebt. Gleichwohl machte er in seiner Begrüßungsansprache nicht nur deutlich, wie wichtig es sei, die Gattung Operette zu pflegen, sondern gedachte auch der großpolitischen Wetterlage – das gebot nicht zuletzt das Süjet dieser besonderen Operette. Übrigens: zur Premiere begrüßten die Bühnensoldaten Verteidigungsministerin Klaudia Tanner schon beim Eintreffen als Ehrengast.
Offenbach und Sullivan
Regisseur Marcus Ganser und Dirigent Thomas Böttcher haben von Straus’ Operette eigens eine Fassung für Blindenmarkt erarbeitet, die den Blick „auf die satirischen Spitzen schärfen will, „ohne den Charme der Musik zu schmälern“. Sie lassen namentlich jene Momente zum Vorschein kommen, in denen sich Straus an Offenbach und Sullivan orientierte.
Durchwegs originell und flott bringt Ganser, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, alle wichtigen Aspekte des Stücks in seiner Inszenierung auf die kleine Bühne, auf der auch eine Drehscheibe für Tempo sorgt. Er greift die Technik und Ästhetik des Comic-Strips auf, dies gilt sowohl für die Optik, als auch für die rhythmisch eingeblendeten Kraftausdrücke, wie sie im Comic üblich sind. Die vorzüglich programmierte Video-Wall kommentiert die Handlung permanent mit Schwarz/Weiß-Effekten, im Vordergrund bieten dazu die quietschbunten Kostüme (Anna-Sophie Lienbacher) und Frisuren (Maske: Tina Feßl) einen effektvollen Gegenpol. Kontrastreich und exakt im Timing ist die Lichtregie von Lukas Siman. Lisa-Marie Rettenbacher hat wie im Vorjahr die witzige Bewegungs-Choreographie gestaltet und erarbeitet.
Lächerlich gezeichneter eitler Tölpel
Zu Beginn gehen die Protagonisten davon aus, der „tapfere“ Major Alexius Spiridoff (Lukas Johan, Bariton), verlobt mit Nadina Popoff (Lena Stöckelle, Sopran), habe „dem Feind“ eine empfindliche Niederlage beschert, was keiner dem lächerlich gezeichneten eitlen Tölpel abnehmen würde, nicht einmal die anfangs gutgläubige potentielle Schwiegermama Aurelia (Christa Ratzenböck, Mezzo). Dass sich der Schönling weit mehr für die schlagfertige Mascha (Jasmin Bilek), als für seine Braut interessiert, wird schließlich dabei helfen, den Knoten zu entwirren „wer mit wem“ idealiter verbandelt ist oder sein sollte.

Lena Stöckelle (Nadina Popoff) und Martin Mairinger (Bumerli) in “Der Schokoladensoldat”. (Photo: Lukas Beck)
Aber nicht nur Gerüchte über heldenhafte Großtaten stehen im Raum, sondern auch ein veritabler, scheinbar gegnerischer Soldat in Nadinas Schlafzimmer, bzw. auf dem Balkon desselben. Und dieser Söldner und Deserteur zugleich, Bumerli (Martin Mairinger, Tenor) wendet sich dreist an die junge Schöne, in der Erwartung, dass sie ihn vor seinen marodierenden Kameraden verstecken möge. Sie lehnt dies zunächst kategorisch ab, lässt sich dann jedoch rasch von seiner einnehmenden Persönlichkeit bezirzen. Schon hundert Jahre zuvor (1813) hatte der Freiheitsdichter Theodor Körner einen solchen Plot (Der vierjährige Posten) auf die Bühne des Theaters an der Wien gebracht, und auch damals wurde dieser Stoff über einen Fahnenflüchtling zwei dutzend Mal vertont. Noch in unseren Tagen griffen Irene Dische und Elfriede Jelinek Körners Lustspiel um den tolldreisten Deserteur auf, um mit diesem dann ganz eigene Akzente zu setzen.

“Der Schokoladensoldat” bei den Herbsttagen 2025. (Photo: Lukas Beck)
In der Inszenierung der Herbsttage ist zunächst zu sehen, wie im Hintergrund Soldaten quasi aus der Retorte, als Fabrikware oder Pappkameraden maschinell ausgespuckt werden, die sich dann rechts auf einer Rutsche als quicklebendige Menschen von Fleisch und Blut entpuppen und in den Vordergrund katapultieren lassen. Anfangs scheint es, als würden die drei Damen alle jungen Männer wahrnehmen wie bei Shows der Chippendales, da eine Boygroup à la Erik Charell mit blankem Oberkörper posierend aufmarschiert bzw. -tanzt. Diese kecke Lesart des Mannes als Objekt weiblicher Lüste (Schokosoldaten als „Männer zum Anbeißen?“), bei der in der Projektion auch eine Skulptur in Arno-Breker-Manier aufscheint, verfolgt die Inszenierung aber nicht weiter.

Christa Ratzenböck (Aurelia Popoff), Jasmin Bilek (Mascha) und Lena Stöckelle (Nadina Popoff) in “Der Schokoladensoldat” bei den Herbsttagen 2025. (Photo: Lukas Beck)
Absolute Idealbesetzung
Während Hauptdarsteller Martin Mairinger im Werbefolder und auf dem Programmheft noch mit Vollbart posiert, mutiert er auf der Bühne dann zu einem glattrasierten Milchbart, was zu der Rolle bestens passt. Mairinger hat nicht nur – und dies bereits als Sängerknabe – Erfahrungen im Konzertbereich und in Opernrollen gesammelt, er war auch schon Protagonist in anderen Oscar-Straus-Operetten: Siegfried in den lustigen Nibelungen und Leutnant Niki im Walzertraum. Als Bumerli (bei Shaw und Udo Jürgens: Bluntschli) ist Mairinger – in zünftiger roter Lederhose und -Weste – eine absolute Idealbesetzung, der den Typus des kecken Naivlings in köstlicher Weise darbot und mit sehr angenehmem Timbre auch durchwegs wortdeutlich sang und sprach. Auch Lena Stöckelle ist mit ihrem nobel timbrierten Koloratursopran eine ganz und gar überzeugende Nadina.
Georg Kusztrich als Vater Kasimir Popoff, der stets mit besänftigenden, geradezu pazifistischen Ratschlägen aufwartet, gibt einen Typus, der jeglichem Klischee des polternden Operetten-Vaters widerspricht. Die Mutter Aurelia von Christa Ratzenböck ist wie immer von der starken persönlichen Note ihrer Darstellerin charakterisiert. Köstliche Chargen sind Christian Mayr als Massakroff sowie Stephan Eder und Günther Schörkhuber als Soldaten.

Lena Stöckelle (Nadina Popoff), Jasmin Bilek (Mascha), Christian Mayr (Massakroff), Christa Ratzenböck (Aurelia Popoff), Günther Schörkhuber (Soldat 2 ) sowie Crew & Studio (Soldaten) in “Der Schokoladensoldat”. (Photo: Lukas Beck)
Der Ablauf der Vorstellung ging wie am Schnürchen, dazu trägt maßgeblich die Crew aus vier Tänzerinnen und Tänzern bei, sowie die sechs Studiomitglieder, die gewandt agieren und singen. Wie es auch in vielen Heeren dieser Welt heute üblich ist, sind die Soldaten auf der Bühne von Blindenmarkt paritätisch männlichen und weiblichen Geschlechts.
Inspirierend temperamentvoll
Der als Dirigent seit Jahrzehnten erfahrene Thomas Böttcher leitet das Orchester im Graben und das große Ensemble an Solisten und Choristen auf der Bühne inspirierend temperamentvoll, und er hat ein besonderes Gespür für den sinnlichen Ton der Straus’schen Partitur. Der Klangfarbenreichtum der Bläser besticht, die Streicher des Kammerorchesters Ybbsfeld spielen markant und präzise. Kurt Dlouhy, jahrzehntelang der Maestro am Pult des über 40 Musiker|innen zählenden Kammerorchesters, hat heuer „nur“ mehr die Choreinstudierung übernommen. Aber dieser 14köpfige Chor bereichert die Aufführung durch Klangfülle und darstellerische Gewandtheit. Bestens eingebunden in die Aufführung ist auch der überraschend vollstimmige Kinderchor.
Auf die Technik, auch Operettendarsteller, wie jene im Musical, mit Mikroports zu verstärken, wird in Blindenmarkt verzichtet. Und trotz der speziellen Akustik der vergleichsweise niedrigen Ybbsfeldhalle kommen alle Mitwirkenden mit ihrer ausgezeichneter Gesangs- und Sprechtechnik bestens über die Rampe, dies auch in den zur Hälfte gesungenen Tanznummern. Zu erwähnen ist außerdem ein opulent illustriertes, sehr informatives Programmheft (Redaktion und Texte: Laurenz Rogi, Grafik: Janet Oberlerchner).
Zu erleben ist Der Schokoladensoldat bei den Herbsttagen noch bis zum Nationalfeiertag, dem 26. Oktober. Möge Lehárs für 2026 geplanter Zarewitsch, der ja einen ganz anderen Operettentypus darstellt, das Publikum in Blindenmarkt ähnlich begeistern.