Kevin Clarke
www.klassik.com
29 May, 2014
Manchmal lohnt sich ja ein Ausflug in die tiefste Musiktheaterprovinz. Zum Beispiel ins schöne Stendal in der Altmark. Die meisten werden die historische Hansestadt nur als ICE-Stopp kennen, wo man hinter lärmdämmenden Mauern historische Kirchtürme sieht. Und wohin man mit dem Auto von Berlin aus über verschlungene Landstraßen fahren muss, wofür man bei eigentlich kurzen 120 Kilometer gut zwei Stunden braucht. Stau nicht mitgerechnet.
In Stendal gibt’s das TdA, das Theater der Altmark. Ein Gebäude von 1991, das demnächst saniert werden muss und das nicht wirklich den historischen Charme der Elb-Stadt spiegelt. Das aber einen Grips-Theater-artigen Zuschauerraum hat, der bei meinem Besuch randvoll war. Denn alle Stendaler wollten, wie’s scheint, die letzte Vorstellung von Die Drei von der Tankstelle sehen. Eine entzückende Produktion von Tim Hellmann, die wegen ihrer attraktiven Bühnenbilder (Mark Späth) und noch attraktiveren Besetzung der Hauptrollen beeindruckt und lockt. Und natürlich mit einer Fülle von Schlagern, die jeder mitsingen kann. Allen voran der unverwüstliche 6/8-Marsch „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das schönste was es gibt auf der Welt.“
Das TdA hat eigentlich keine Musiktheatersparte, wenn ich den Spielplan richtig deute.
Die wenigen Opernaufführungen sind Gastspiele des Nordharzer Städtebundtheaters. Trotzdem werden scheinbar einmal pro Spielzeit die Brandenburger Symphoniker ins Haus geholt, für eine kleine Produktion wie eben diese Bühnenadaption des Tonfilmklassikers von 1930. In diesem Fall stammt die Adaption von Andreas Gergen und Christian Struppeck. Sie nimmt die bekannte Geschichte von den drei Freunden Willy (Andreas Müller), Hans (Michael Magel) und Kurt (Michael Putschli) – einst Paraderollen von Willy Fritsch, Heinz Rühmann und Oskar Karlweis –, die sich alle drei in die Fabrikantentochter Lilian (Navina Heyne) verlieben und füllen das Handlungsgerüst mit etlichen weiteren Heymann-Song an. Womit es ein musikalisch überreicher Abend wird, wo „Hoppla, jetzt komm ich“ auf „Mir liegen die reiferen Jahrgänge“ trifft, also Heymann-Musik aus den 30er und 50er Jahren. Was aber gut funktioniert. Und eine Freude ist anzuhören.
Die Freude ergibt sich daraus, dass die malerische Inszenierung ganz schlicht und fließend den Film-Plot erzählt.
Mit zwei Schiebewänden, ein paar fahrbaren Requisiten und zwei Glitzervorhängen. Die für Showflair sorgen, der nur begrenzt an die 1930er Jahre gemahnt, diese Epoche kurz vor der Machtergreifung Hitlers aber trotzdem unaufdringlich evoziert. Ebenso die Kostüme, die manchmal eher nach Fifties aussehen oder allgemein „Retro“, aber in sich absolut stimmig wirken. Und in denen alle Darsteller gut aussehen. Was ja fast einem Wunder gleichkommt.
Diese Darsteller sind aus dem Schauspielensemble und bewegen sich auf der kleinen Bühne exzellent in einer musikalischen Komödie. Allen voran Andreas Müller ist ein Traum von einem Willy. Groß, dunkelhaarig und schlaksig, entwickelt er eine ideale Bühnenpräsenz als leicht tollpatschiger Liebhaber, mit gutem Gespür für Timing beim Tanken und mit einer unverkrampften Tenorstimme, die zwischen Dialog und Lied mit größtmöglicher Natürlichkeit hin und her pendelt. Also all das, was Willy Fritsch einst vormachte. Nur dass Müller keine Fritsch-Kopie liefert, sondern aus seinem Willy eine ganz eigene Interpretation macht. Ihm zur Seite die blonde Navina Heyne, ebenfalls von einer bestechenden darstellerischen und gesanglichen Natürlichkeit, die einnimmt. Rein gesanglich fallen daneben Angelika Hofstetter als Fräulein Mondschein und Annett Siegmund als Edith von Turoff etwas ab, aber sie machen ihre Sache insgesamt so gut und mit so viel Charme, dass man sich daran kaum stört. Denn als Figuren sind so lebendig und famos. Am Pult der junge musikalische Leiter des TdA, Jakob Brenner. Von der ersten Reihe des Parketts hatte ich sozusagen freie Sicht auf ihn und staunte über die leidenschaftliche Hingabe, mit der er Heymanns schmissige Musik dirigiert. Das Orchester folgte dieser Leidenschaft und Schmissigkeit nur bedingt, speziell die krachenden Bläser und entfesselten Schlagwerker. Der Streicher-Apparat suchte teils nicht mal Sichtkontakt mit dem Mann am Pult und spielte einfach vor sich hin. Was schade war, denn dadurch entwickelten viele lyrische Stellen erst nach kurzen Anlaufschwierigkeiten den richtigen Schmelz. Aber der rhythmische Drive war da und spürbar und befeuerte die Darsteller oben auf der Bühne. Und selbst bei einigen extremen Koordinationsproblemen mit dem Chor (in der einzigen Massenszene des Stücks, wo die drei Herren alle gleichzeitig mit Lilian im Kit Kat Club verabredet sind), schaffte es Brenner, alle schlussendlich wieder zusammenzubringen.
Also, Ende gut, alles gut? Absolut.
Von den verschiedenen Tankstellen-Versionen, die ich bislang sehen durfte, war dies mit Abstand die beste. Am Ende erklatschte sich das Publikum eine Zugabe nach der anderen. Ich persönlich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt nach einer Musiktheateraufführung fünf Zugaben geboten bekam – vom kompletten Ensemble! Man kann das sicher als Zeichen der anhalten Popularität der Heymann-Schlager sehen und als Zeichen für die mitreißende Qualität der Aufführung.
Mein einziges Bedauern war, dass in dieser Gergen/Struppeck-Fassung der von den Originalautoren vorgesehen dekonstruistische Schluss weggelassen wurde. Zur Erinnerung: Im Film von 1930 stellen die beiden Liebenden Lilian und Willy fest, dass sie unter den gegebenen Umständen auf keinen Fall zusammenkommen können. Aber eine „Operette“ (oder Tonfilmoperette) ohne Happy End geht nicht. Also treten beide Darsteller vor einen silbernen Glitzervorhang, wie er auch in Stendal vorhanden war, und debattieren mit dem Publikum, wie man dieses Desaster abwenden könnte. Woraufhin die Schlussszene nochmal gespielt wird, diesmal aber als bewusst „falsches“ Operettenfinale. Auf diesen selbstironischen Schlenker haben Gergen/Struppeck verzichtet, ebenso Regisseur Tim Hellmann.
Er hätte der Aufführung jedoch jenes ironische Zwinkern gegeben, das die Darsteller ihr durchweg gaben. Ein Zwinkern, das im Zweifelsfall aus Klamauk Kunst macht.
Ich bin gespannt, ob es die gleichen Kräfte sein werden, die im TdA nächste Spielzeit die Nazi-Operette Maske in Blau präsentieren werden, ebenfalls von Brenner dirigiert.
Es wäre sicher angenehm, die schwülstige Fred-Raymond-Musik mit singenden Schauspielern dieses Kalibers zu hören statt mit handelsüblichen Operettenkräften. Als Nächstes wird Jakob Brenner mit seinem Tankstellen-Willy allerdings ein Open-Air-Spektakel nach dem Rolandslied zeigen. Titel: Ritter Roland. Mit Musik von Brenner selbst. Man darf gespannt sein. Auch darauf, ob diese tollen Darsteller demnächst auf einer großen Bühne außerhalb der tiefesten Musiktheaterprovinz zu sehen sein werden. Wünschen würde ich es ihnen sehr!