Kevin Clarke
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23 May, 2014
Es dauert nicht lange bis klar wird, dass dies ein außergewöhnlicher Musiktheaterabend wird – der nach dem post-postmodernen Dekonstruktionsprinzip die gängigen Themen und Techniken des derzeitigen Regietheaters aufgreift, auf den Kopf stellt und als etwas gänzliche Neues und Eigenes wieder ausspuckt: einerseits parodistisch-humorvoll, andererseits ehrlich und berührend. Die Rede ist von der Show ‚Mich beschäftigt einfach die Aufrechterhaltung von Erotik in langjährigen Beziehungen in größerem Maße als die Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems‘. Zugegebenermaßen ein etwas sperriger Titel. Er trifft aber genau, worum es geht und was die zehn Musicalstudenten der UdK Berlin im UNI.Theater in der Fasanenstraße zeigen. In einer Show, die eine Kollage aus Liedern, Schlagern, Chansons, Theatermonologen (von Shakespeare und Schnitzler bis zu Lea Lohrer und Xavier Durringer) und einer gigantischen choreographischen Einlage ist. Mit Starpianist Adam Benzwi als mitreißendem und einfühlsamen Begleiter.
Gleich zu Beginn erklärt der charismatische Jan-Philipp Rekeszus als zwielichtiger „Master of Ceremonies“ dem Publikum: „Guten Abend meinen Damen und Herren! Herzlich willkommen zu unserer Show ‚O-Gott-O-Gott! Fragen über das Leben und den Tod im 21. Jahrhundert‘. Wie immer haben wir für Sie eine Auswahl handverlesener Zeitgenossen eingeladen, die uns auf dem Prüfstand des Hier und Jetzt einen schonungslosen – möglicherweise leidenschaftlichen – Einblick in ihre intimsten existentiellen Wünsche und Bedürfnisse erlauben. Erleben wir gleich aus nächste Nähe, worauf es in diesem Leben ankommt: Hoffnungen, Träume, Pläne, Ängste, Sorgen, Schwächen.“
Rinnsteinprinzessin
Zusammengestellt hat diesen O-Gott-o-Gott-Abend Rhys Martin, mit Co-Regisseurin Ulrike Jackwerth und zusammen mit dem Musicalnachwuchs selbst. Und um es gleich zu sagen: Dieser Nachwuchs ist 2014 spektakulär. Nicht nur der durch den Abend führende Showmaster Jan-Philipp Rekeszus selbst, sondern auch alle anderen neun Mitwirkenden, die nacheinander Solos haben und Seelenstriptease-mit-Musik vorführen.
Auf so überzeugende Weise, dass mir mehrmals der Atem stockte.
(Etwa wenn Dennis Hupka einen jungen Schwulen spielt, der nach einem schüchternen Annäherungsversuch von Rekeszus zusammengeschlagen wird und das Chanson „Rinnsteinprinzessin“ von Rainer Bielfeld singt. Oder später Rekeszus selbst, als er seinen Mir-ist-alles-egal-Monolog beendet mit „Wie jeder andere Mann“ aus dem Musical ‚Rudolf‘, wo am Schluss eine solch ergriffene Stille herrscht, das niemand klatscht. Ein Gänsehautmoment von vielen.)
Augenblicke und Ausnahmetalente
Ich habe im Laufe der Jahre schon öfter die Kollagen der UdK-Studenten gesehen und war schon oft beeindruckt von Einzelleistungen. Manchmal kann man da ja junge aufstrebende Künstler erleben, die mit so viel Charisma und Talent gesegnet sind, dass man sofort ahnt: Die werden Karriere machen! Erfreulicherweise haben einige dieser Ausnahmetalente inzwischen tatsächlich groß Karriere gemacht, so dass die Jahrgangskollage auch eine Art Talentschau für die Zukunft ist. Gleichzeitig ein Vergnügen für den Augenblick: Denn so viel Energie, Frische und Leidenschaft sieht man in späteren Aufführungen an regulären Theater selten. Oder nur im Idealfall.
Bislang betreute Professor Peter Kock die UdK-Kollagen. Er zauberte immer wieder mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten neue Shows herbei, die aus dem ein oder anderen Grund spannend waren. Auch wenn reine Stimmkraft selten ein Erkennungsmerkmal der Musicalstudenten in Berlin war. Sie waren als Typen immer perfekt, spielten immer gut, tanzten gut. Sangen aber nur manchmal außergewöhnlich.
Dramaturgie auf Halbnackt
Der Jahrgang 2014 ist da anders. Denn hier fällt sofort auf, wie exzellent alle (!) Sänger sind. Man hört junge ausbaufähige Charakterstimmen mit interessanten Timbres und müheloser Technik. (Hat die UdK einen neuen Vocal Coach?) Das geht schon los mit Katharina Beatrice Hierl und dem allerersten Song des Abends, „Einsames Gewand“ aus ‚Die Päpstin‘. Nicht unbedingt ein Musical, für das sich mein Herz normalerweise erwärmen würde, aber in dieser Version umwerfend. Genauso Sophia Euskirchen mit dem Nachkriegsoperettentitel „Und eines Tages war es dann so weit“ aus Lotar Olias‘ ‚Prairie Salon‘. Oder Devi-Ananda Dahm mit „Ich sag nie nein“ („I’m just a girl you can’t say no“) aus Rodgers & Hammersteins ‚Oklahoma‘.
Die Übergänge vom modernen zu klassischen Musical, zu Operette, Chanson und Pop und Dialogpassagen – ohne jegliches Stottern in der Gangschaltung – waren grandios.
Und beglückend. Und da die Studenten ja auf den Ernst des Berufslebens vorbereitet werden sollen, ist es absolut sinnvoll, dass sie viele der Titel singen, die da draußen auch als Job im Angebot sind, in Regietheaterdekonstruktionen, wie sie nun mal aktuell üblich sind. Und mit denen man sich als Sänger arrangieren muss. Inklusive diverse Halbnacktauftritte, die dramaturgisch nicht wirklich nötig sind, mit denen man aber ebenfalls lernen muss umzugehen. (Und auch das sei verraten: Alle zehn sehen in Unterhosen mehr als süß aus!)
Im Zentrum der Show steht das Thema Beziehung, und wieso junge Menschen wie diese Studenten damit eher beschäftigt sind als mit Politik und Wirtschaftskrisen. Anfangs dachte ich, die teils sehr erwachsenen Punkte, die da abgehandelt werden – zur Freunde eines erwachsenen Zuschauers wie ich – können in dieser Tiefe und Abgeklärtheit („mal eben einen Porno gedreht usw.) doch nicht wirklich das spiegeln, was im Kopf von Anfang 20-Jährigen vorgeht oder andere Juniorzuschauer interessieren. Aber weit gefehlt. Meine beiden 16-jährigen Sitznachbarn, die ich fragte, ob sie mit diesen Themen etwas anfangen konnten, schauten mich beide mit leuchtenden Augen an und sagten: „Natürlich!“ Und ich muss im Nachhinein konstatieren, dass die Art und Weise, wie diese Jugendlichen mit den ganz großen Fragen des Lebens umgehen – Liebe, Trennung, Tod – deutlich reifer wirkte, als vieles, was ich von sogenannten ‚erwachsenen‘ Theatermachern in den letzten Jahren gesehen habe. Das hatte ich so nicht erwartet, und das war eine ziemlich großartige Erfahrung.
Kälbermarsch
Genauso großartig war die rothaarige Feline Zimmermann mit den Chanson „Umtauschen“ (ebenfalls von Günter Neumann) und Kiara Brunken mit ihrem Solo aus ‚Frühlingserwachen‘. Und genauso attraktiv wie die Damen ist die komplette Herrenriege: der dunkelhäutige Anthony Kirby („Sie sehen etwas finster aus. ganz großen Fragen des Lebens Sie sind hier geboren? Wirklich? Im Schwarzwald? Ha, ha“), der eine auffallend individuelle Bühnenpräsenz hat und „Hätt‘ ich nur ein Hirn“ aus dem ‚Zauberer von Oz‘ wunderbar singt. Dennis Hupka darf sich später für die homophobe Gewalt revangieren und in einem Boxkampf seinen Gegner niederschlagen, mit dem Lied „Heut‘ ist der Tag“ aus ‚Drei Musketiere‘, was er mit hellem leuchtendem Tenor tut.
Die aufregendste Stimme hat allerdings Rekeszus, dessen „Kälbermarsch“ von Eisler/Brecht phänomenal gesungen ist.
Fabian-Joubert Gallmeister ist fast zu schön um wahr zu sein und glänzt u.a. mit „In der Straße wo du wohnst“ aus ‚My Fair Lady‘ – ein Idealbesetzung für den Freddy Eynsford-Hill, in jeder Hinsicht!
Süße Transe aus Transsilvanien
Anfangs etwas unscheinbar und aus dem Rahmen fallend war Dennis Weißert, ganz in Schwarz gekleidet und wie ein Fremdkörper im Ensemble wirkend. Aber das ist Absicht. Denn dieser Fremdkörper macht zum Schluss eine spektakuläre Verwandlung durch und kriegt als „Süße Transe aus Transsilvanien“ einen Sonderapplaus. Sein Umziehmonolog fasst den doppelbödigen Humor gut zusammen, der die Show und diese künftigen Showstars charakterisiert: „Ich arbeite seit zwei Jahren an einem Musical.Eines der Probleme im Umgang mit Kultur liegt heute darin, dass der Kunde sie nicht annimmt, weil eine zu lange Vorbereitungsphase notwendig wäre. Tiere als Hauptdarsteller sind sehr beliebt, das hat eine Studie ergeben. Klar verständliche Handlungsmuster in erfrischend frech-witzigen Dialogen, die die Abgründe des Menschseins auf das Tierreich übertragen. Das alles mit ausgefallenen Kostümen und ohne den erhobenen Zeigefinger. Charmant, Special Effects und Musik, bei der jeder mitgehen kann. Wir haben herausgefunden, dass 47 Prozent der Befragten gerne die Geschichte einer verloren gegangenen Robbe sehen würden, die nach einer aufrüttelnden Reise durch den Ozean zu sich selbst findet. Und das alles getanzt. Die Musik aus dem Bereich der Popmusik, aber von einem Streicher-Ensemble eingespielt.
Die Songs sollten einen klaren Wiedererkennungseffekt haben und den Zuschauer an seine Jugendjahre erinnern. Das Musical verlegt seine Handlung im ersten Akt auf eine Gruppe Seelöwen in der Antarktis.
Der zweite Akt spielt auf Rollschuhen. Der dritte Akt spielt in Nepal, wo die Hauptfigur, eine Robbe am Meeresgrund, zu sich selbst findet. Eine Choreographie für Eisbären auf Schlittschuhen, sie haben Probleme mit dem anderen Geschlecht, und die lösen sie bis zum fünften Akt. Der vierte Akt spielt dann wieder in Düsseldorf, im Büro, wo die Robbe alles, was sie auf ihrer Reise gelernt hat, auch sofort praktisch umsetzen kann: Sie hat ihre Reise genutzt, um Mensch zu werden, und bringt dies nun auch sehr gut rüber. Das ist letztlich auch der Mehrwert von Kultur, sie bringt uns auf andere Gedanken, sie schafft Ausgleich. Wenn Kultur gut gemacht ist, erfüllt sie einen ähnlich guten Zweck wie Sport.“
Dauerbrenner
Es ist schade, dass diese phänomenale Show nur vier Mal aufgeführt wird. Eigentlich müsste jemand sie übernehmen und als Dauerbrenner in einem großen Berliner Theater spielen. Ich habe jedenfalls beschlossen, sofort nochmal reinzugehen. Denn ich habe selten einen so umwerfenden und inspirierenden, berührenden und beglückenden Musiktheaterabend erlebt wie ‚Mich beschäftigt einfach die Aufrechterhaltung von Erotik in langjährigen Beziehungen in größerem Maße als die Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems.‘ Wie’s mit diesen zehn Darstellern weitergehen wird, darf man mit Spannung abwarten. Und Großes erwarten. Sehr Großes!