Kevin Clarke
Operetta Research Center
18 Spetember, 2017
Ja, es gibt Menschen die Dragqueens als Wegbereiterinnen des modernen queeren Lebens sehen und damit auch als Vorkämpferinnen einer offeneren und toleranteren Gesellschaft, was sexuelle Vielfalt und Akzeptanz angeht. Erst kürzlich veröffentlichte Darryl W. Bullock in der britischen Zeitung The Guardian einen langen Artikel über den “Pansy Craze”, der in den 1920er Jahren Städte wie New York, London, Paris und Berlin ergriff. In Clubs und Untergrundbars traten damals Männer als Frauen auf, die Gendernormen sprengten. Manchmal auch Frauen als Männer. Sie kreierten ein eigenes Unterhaltungsgenre und eigene Lieder, die bis heute legendär sind. Das Lila Lied von Mischa Spoliansky zählt dazu (“Wir sind nun mal, anders als die andern”), um beim deutschen Repertoire zu bleiben.
Ein gutes Jahrhundert später gibt es sie immer noch, die Damenimitatorinnen auf der deutschen Musiktheaterbühne. Und sie treten immer noch in Szenelokalitäten auf, um dort das moderne Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten und zu besingen. Erheiterung (und auch Belehrung) der Allgemeinheit. Einer, der das seit Jahren tut und in Berlin absoluten Kultstatus erlangt hat, ist Ades Zabel. Als Kunstfigur Edith Schröder aus Neukölln stellt er mit immer wieder neuen Stücken Glanz und Elend einer Hartz-VIII-Empfängerin dar, mit eigenen Patchwork-Musicals, bei denen meist Bernd Mottl Regie führt. Nach mehreren Höhenflügen in jüngster Vergangenheit ist Zabel mit seinen Mitstreiterinnen Biggy van Blond und Bob Schneider zurück, um das Spektakel Fly, Edith, Fly zu präsentieren. Eine BER-Show mit allen dazugehörigen Desastern, inklusive Bruchlandung auf Mallorca und Nacktflugangeboten von Schönefeld bei einer Fluggesellschaft namens EditJet.
Das hätte sehr lustig werden können, denn selbstverständlich sind Zabel, Blond und Schneider als Stewardessen-Team über den Lüften ein Comedy-Traum, mit Roman Shamov als dauerbesoffenem Kapitän. Aber Regisseur Mottl und die Textautoren haben es sich mit Vom Ballermann zum BER dann doch sehr einfach gemacht und alle bereits tausendmal gesehenen dramaturgischen Tricks nochmal hervorgeholt, um eine ewig gleiche Geschichte zu erzählen: Edith Schröder verlässt Neukölln, landet irgendwo in der Fremde, absolviert dort eine schräge Schlagerparade (mit viel Helene-Fischer- und Andrea-Berg-Musik) und manövriert sich am Ende wieder zurück nach Hause. Weil’s da doch am schönsten ist. Selbst wenn’s überall vor Hipstern wimmelt, die aber inzwischen weiterzuziehen scheinen – nach Spandau!
Zugegeben, das Ganze servieren die drei Cross-Dresser mit vielen musikalischen Einlagen auch diesmal gekonnt. Und ich habe ihnen durchweg gerne zugesehen. Aber in der Ausarbeitung ist dieses neue Stück doch weit unterm Durchschnitt. Besonders was die geradezu haarsträubend banale Musikauswahl betrifft. Das ist inzwischen jenseits von Trash angesiedelt, was schade ist. Denn die drei Damendarsteller sind blendende Entertainerinnen und wissen genau, wie man Songs gut über die Rampe bringt. Nicht umsonst ist ihre aktuelle Show immer ausverkauft.
Ich habe mich mehrmals gefragt, wie die drei wohl wirken könnten in einem richtig guten Stück mit richtig guter Musik. Zweifellos wären Zabel, Biggy van Blond und Bob Schneider ideale Kandidaten, um beim aktuellen Operettenrevival in der Hauptstadt mitzuwirken. (Zabel war ohnehin bei Frau Luna im Tipi-Zelt dabei und umwerfend.) Die drei zusammen zu erleben in Werken wie Drei alte Schachteln oder selbst in einer Flugzeug-Operette wie Les chevaliers du ciel von Frances Lopez wäre ein Traum. Fly, Edith, Fly ist dagegen eine weitgehend vertane Chance – die aber trotzdem Spaß macht. Das ist das Wunder!
Sehr geschickt gemacht sind die Filme von Jörn Hartmann mit denen die Handlung in Umbau- und Umziehmomenten nahtlos weiterlaufen kann. Diese Clips zeugen von hohem handwerklichem Können. Umso bedauerlicher, dass Zabel & Co. sich nach Hostel Hermannstraße und Die wilden Weiber von Neukölln nicht mehr haben einfallen lassen, als auf Mallorca in “Jutta‘s Stadl” ein Oktoberfest des Grauens zu veranstalten, mit so viel Kokain, dass alle Schlagerfuzzies spätestens beim zweiten Refrain zusammenbrechen.
Das kann man lustig finden, oder auch nicht.
Immerhin: eine Einzelnummer war dann zwischen all dem Altbekannten herausragend und neu, nämlich die, wo Biggy von Blond wegen Drogenbesitz in einem spanischen Gefängnis landet und plötzlich von drei lesbischen Aufseherinnen bedrängt wird. Daraus einsteht eine Art “Cell Block Tango”, der hier aber “Leckos la Cucaracha” heißt. Das war so schräg, politisch unkorrekt und aberwitzig, dass die Szene allein den Besuch der Show lohnend macht. Und daran erinnert, dass da bei den sogenannten Neuköllnicals im BKA deutlich mehr geht!
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