Kevin Clarke
Operetta Research Center
14 September, 2020
Beim Verlag Königshausen & Neumann ist soeben in zwei Bänden Musik und Gesellschaft erschienen, mit den Schlagwörtern „Marktplätze – Kampfzonen – Elysium“ als Untertitel. Es gehe „Von den Kreuzzügen bis zur Romantik“ (Band 1) und „Vom Vormärz bis zur Gegenwart“ (Band 2). Bei den 421 Essays auf 1424 Seiten (!) wird auch „Operettenplüsch“ behandelt, neben DJs, Sinti und Roma, Madrigalen, Riffs, imperiale Symphonik und YouTube usw. Wir haben mit Frieder Reininghaus über die Bände gesprochen, die er zusammen mit Judith Kemp und Alexandra Ziane herausgegeben hat. Wir wollten wissen, wie genau „Operette“ und „Plüsch“ zu Marktplätzen, Kampfzonen und Elysium passen.
Sie haben zwei attraktive Bände zu „Musik und Gesellschaft“ herausgebracht, mit dem Untertitel „Marktplätze, Kampfzonen, Elysium“. Dabei soll auch „Operettenplüsch“ behandelt werden. In welche Subkategorie fällt das Genre bei Ihnen: Markt, Kampfzone oder Elysium?
Operette gehört seit ihren Anfängen sowohl den Zonen der Marktplätze und Kunstparadiese an wie den „Kampfzonen“ des Theaterbetriebs. In denen ist scharfe Konkurrenz die Regel und gibt es keine idyllischen (Arbeits-)Verhältnisse. Mit Operette befasst sich in unserer Anthologie schwerpunktmäßig mehr als ein halbes Dutzend Essays – angefangen vom Jahr 1855 und den Bouffes Parisiennes bis zum Faible für Heimatkunst anlässlich der Aufführungsgeschichte des Weißen Rössl in acht Jahrzehnten. Bei etlichen weiteren Themen mischt sich die Operette kräftig ein – z.B. beim Trinklied, bei den Essays zu Walzer und Walzerseligkeit oder den Lebens- und Arbeitsverhältnissen einer Soubrette.
Warum gibt es einen Text zum „Plüsch“ statt zu Operette „pur“?
Absichtsvoll quer zu den historisch-chronologisch angepflockten Texten wurde ein Essay über Plüsch eingeschaltet, da dieser Begriff in der (oft polemischen) Auseinandersetzung mit Operette im 20. Jahrhundert eine Schlüsselstellung einnahm. Ihm korrespondieren die Elogen auf die Operetten-Reprise, wie sie Herbert Wernicke und Christoph Marthaler im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts vorangetrieben haben. (Anm., Einen Ausschnitt aus Marthalers Großherzogin von Gerolstein mit Anne Sofie von Otter aus Basel/2009 kann man hier sehen:)
Es hat sich in den letzten Jahren viel getan in Bezug auf die Wahrnehmung von Operette als historisch wichtigem Spiegel der Gesellschaft. Wie haben Sie diesen Wandel erlebt – und gab es Momente, wo Sie überrascht waren? Welchen Vorteil hat es, wenn man Unterhaltungskultur berücksichtigt bei der Beschäftigung mit Gesellschaftsgeschichte?
Die gelungenen Produktionen Wernickes und Marthalers erschienen so überraschend wie die aus den Archiven wiedererstandene Zarzuela. Zuletzt sorgte die eine oder andere Operetten-Inszenierung von Barrie Kosky für Verblüffung, z.B. die der Meistersinger von Nürnberg. Bei den Bayreuther Festspielen 2017 marschierte zum pompösen Vorspiel aus der Tiefe des Grabens die Familie Wagner auf – Gattin Cosima, Schwiegervater Liszt, der Meister selbst mit den Hunden Marke und Molly, dazu der Adlatus Hermann Levi (den ausgerechnet die Wagners zum Christentum zwangsbekehren wollten); die Mitglieder des Clans wurden des weiteren anzüglich mit den Figuren der Großen Komischen Oper verknüpft.
Es wäre lebensfern, auch wissenschaftlich kaum zielführend und journalistisch unzulässig, Operette nicht als „Spiegel der Gesellschaft“ zu sehen. Allemal stehen mit der „unerhörten Kunst“ spezifische gesellschaftliche Situationen im Fokus: Bei der in Musik und Gesellschaft exemplarisch vorgeführten Fledermaus z.B. das krisengebeutelte Wien um 1875, bei der Lustigen Witwe aus dem Jahr 1905 „der stolze Mann und die moderne Frau … Und unverblümt geht es dauernd um Geld“. Die 1868 lokalisierte Abhandlung zu Prostitution im Theater, Opern- und Operettenhaus gehört nicht minder zur „Gesellschaftsgeschichte“.
Laut Ankündigung wollen Sie u. a. Schlager und Loveparade, Sinti und Roma, Madrigal und Riff, Operette und YouTube zusammendenken. Warum ist das nicht schon viel früher geschehen?
Von unserer Text-Montage wurden die verschiedenen Dimensionen, Genres und Gattungen der Musik(theater)geschichte möglichst paritätisch ins Visier genommen, die einzelnen Themen nach Kräften nicht „rein historische“ abgehandelt, sondern untereinander und insbesondere im Hinblick auf die Gegenwart „in Beziehung gesetzt“ und vernetzt.
Haben deutschsprachige Musik- oder andere Wissenschaftler ein Problem damit, über einen sehr engen Kernbereich hinauszuschauen?
Die Gründe für die von der Frage vermuteten Defizite der deutschsprachigen Musikwissenschaft liegen in deren Geschichte, zu der wesentlich die lange ver- oder behinderte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Branche gehört. Sie liegen auch in der sozialen Herkunft und den Bildungs-Hintergründen des tonangebenden Personals. Gegen die hierzulande fortdauernden Borniertheiten hat der in den USA lehrende Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann in seiner Siemens-Preisrede 2001 Position bezogen. Auf seinem Wunschzettel, auf den wir uns programmatisch beziehen, steht die grundsätzliche Überwindung „jeglichen Eurozentrismus als eines ideologisierten Umgehens mit anderen Musikkulturen“. Brinkmann verlieh der Erwartung Ausdruck, dass die Methoden des Forschens und Schreibens „von der gesellschaftlichen Dimension der Musik“ her gewählt und bestimmt werden. Zugleich formulierte er die Hoffnung, dass die Textproduktion „für den Sonderbereich der europäisch-westlichen Musiktradition die Meriten des analytischen Zugangs zum musikalischen Werk nicht vergisst“, sich dabei freilich „konsequent von der Gegenwart her definiert“. Schließlich plädierte die bislang wenig beachtete Grundsatzrede dafür, dass die über die Geschichte und Gegenwart im deutschsprachigen Raum Schreibenden „die Kommunikation mit einem Laienpublikum zu einem Kernpunkt“ machen.
Welchen Einfluss hat YouTube für unser Verständnis von Musikgeschichte? Welche Veränderungen haben Sie feststellen können?
Die Verfügbarkeit einer wachsenden Zahl von Werk(ausschnitt)en hat die Horizonte enorm erweitert und die Zugriffe für jedermann erleichtert. Gerade auch Operette und Musical lassen sich in neuer Form goutieren und studieren. Wie genau sich dadurch das Verständnis von Musikgeschichte ändert, kann wohl nur vermittels einer Langzeitstudie herausgefunden werden.
Sie nennen 107 Autor_innen, die 421 Beiträge verfasst haben. Wer hat etwas zu Operette geschrieben und was worum geht’s genau in den Beiträgen? War es schwer Autor_innen zu finden? Hat sich da die Hemmschwelle bei Wissenschaftler_innen verändert, sich zu Operette und/oder Populärkultur zu äußern? Ist das nicht karriereschädlich für akademische Laufbahnen?
Die Namen der Autor_innen stehen im Inhaltsverzeichnis – und selbst wenn wir hier Abstracts anbieten würden, könnten diese die Lektüre der Essays nicht ersetzen. Was die Verschiebung von „Hemmschwellen“ und mögliche „Karriereschädlichkeiten“ betrifft, müssten tunlichst die Akteure befragt werden, nicht Zaungäste oder Gelegenheitsarbeiter des akademischen Betriebs wie wir Herausgeber_innen von Musik und Gesellschaft. Die können allerdings verraten, dass sie durchs Aufspüren von potentiell kompetenten Autor_innen, die Verhandlungen mit diesen und häufig auch die redaktionelle Begleitung mehrere Jahre lang in Atem gehalten wurden, oft bis nach Mitternacht.
Sie behandeln auch anglo-amerikanische Themenbereiche. Wie wichtig ist es, beim unterhaltenden Musiktheater bzw. Popmusik überhaupt, transatlantisch und multinational zu denken?
Ist das nicht eine rhetorische Frage? Der interkontinentale Blick und das grenzüberschreitende Denken ist längst für so gut wie alle Musiksorten wichtig. Beides gehört zu den Voraussetzungen für vernünftige Resultate.
Sehen Sie bei den anglo-amerikanischen Kollegen der Musikwissenschaft Trends, mit denen sie uns voraus sind? Und denen es hierzulande lohne würde nachzueifern: Gender Studies, Queer Studies, Post-Colonialism, Rassimus als Thema, Black Lives Matter usw.?
Die Herausgeber_innen sind keine Trend-Forscher oder Berater der Institutionen des hiesigen akademischen oder Medien-Betriebs. Freilich haben sie sich nach Kräften bemüht, den Abschied von eurozentristischen, klassisch männerdominierten und bildungsbürgerlich-konservativen Blickwinkeln zu beschleunigen. Siehe oben.
Was vorn bzw. hinten ist, erscheint zuvorderst auch als Frage der Blickwinkel. Dazu findet sich eine nachhaltige Sentenz bei Matth. 19.30.
Nimmt die englischsprachige Musikwissenschaft Notiz von den vielen deutschsprachigen Veröffentlichungen rund um Operette bzw. dem neuen Umgang mit Unterhaltungsmusik?
Diese Frage ist doch zuvorderst bitte an sachkundige Kolleg_innen in Eng-, Schott- oder Irland, Australien, Südafrika, Kanada, den Niederlanden oder USA zu richten. Gegenfrage: Nimmt das Gros der deutschsprachigen Musikwissenschaftler_innen Notiz von den vielen deutschsprachigen Veröffentlichungen rund um Operette bzw. dem neuen Umgang mit Unterhaltungsmusik?
Sie arbeiten u.a. in Österreich: Fällt Ihnen in Bezug auf Operette ein Unterschied zwischen dem Umgang mit Operette in Österreich und Deutschland auf? Wie spiegelt sich das in Ihren zwei Bänden wider?
Unsere „Fallstudie“ zum Weißen Rößl 1930/2010 z.B. thematisiert nicht zuletzt den unterschiedlichen Umgang mit dem Genre in den beiden Nachbarländern. Deren Stammeinwohnerschaft bleibt, immer wieder arrogant oder greinend, in gelegentlich aufflackernder rhetorischer Hassliebe innig verbundenen.
Wien, diese weithin ins politische und kulturelle Abseits manövrierte Stadt an der ungarischen Grenze, ist der „Südstaaten-Mentalität“ der aus dem Donauraum stammenden Herausgeber_innen womöglich heimatlicher als Berlin.
Die beiden Bände liegen nun in gebundener Buchform vor. Ist das nicht etwas aus der Zeit gefallen, so etwas in Print auf den Markt zu bringen – wenn viele Menschen nur noch bei Google und Wikipedia nach Informationen suchen? Welchen Einfluss hat das auf unser Verständnis von Musikgeschichte? Und welche Konsequenzen ziehen Sie selbst für die Zukunft daraus?
Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass gerade auch in Teilen des Ausbildungssektors, des Medienbetriebs oder der Dramaturgien Informationen, Quellen und intellektuelle Anregungen nurmehr aus dem Netz bezogen werden.
Freilich erfreut sich auch der Büchermarkt weiterhin eines bemerkenswerten Zuspruchs. Gerade schön und gut gemachte Bücher bieten fortdauernd Lesegenuss. Um einen Vergleich zu bemühen: Durch die sich ausdehnende Schnellgastronomie mögen zwar große Teile der Bevölkerung „versorgt“ werden, aber das gepflegte Restaurant ist deshalb noch lange nicht „aus der Zeit gefallen“. Man will es so wenig missen wie den Landgasthof, die Winzerstube oder die Eckkneipe.
Die in mancherlei Hinsicht anfechtbare Bestückung der Wikipedia-Einträge zu Musik, Musikern und Musikleben in Geschichte und Gegenwart prägt zunehmend das vorherrschende Verständnis von Musikgeschichte. Aber gerade auch zur strategischen Dominanz dieser Segnung versucht unsere Komposition Kontrapunkte zu setzen.
Um denen, die lieber auf einen Bildschirm oder ein Tablet schauen als in ein Buch, oder die im Regal keinen Platz (mehr) haben, soll Musik und Gesellschaft in Kürze als e-Book angeboten werden.