Im weißen Rössl. Zwischen Kunst und Kommerz

Moritz Csáky
Musicologica Austriaca
1 December, 2007

1980 brachten die Musik-Konzepte ein Heft heraus, das der Musik und dem sozio-kulturellen Umfeld von Jacques Offenbach gewidmet war.[1] Es ist symptomatisch, dass 26 Jahre verstreichen mussten, bis ein Band folgen sollte, der sich abermals mit dem Genre Operette auseinandersetzt, diesmal mit der (Berliner) Revueoperette der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Ralph Benatzkys Im weißen Rössl.

The text + kritik edition of essays on "Im weißen Rössl".

The text + kritik edition of essays on “Im weißen Rössl”.

Dies bestätigt eine in der Musikwissenschaft anhaltende Situation, denn “mit Operette setzt sich die Forschung nach wie vor kaum auseinander – Unterhaltung und seriöse Wissenschaft passt […] offensichtlich so wenig zusammen wie Swing und Shakespeare” (Marita Berg, S. 79). Weshalb, könnte man fragen, dieser zögerliche Umgang mit einer Gattung der musikalischen Unterhaltungsbranche, die zu ihrer Zeit mit Sicherheit ein breiteres Publikum erreicht hat als manche andere Musikprodukte, mit denen sich zu beschäftigen zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist? Ist es das anhaltende Verdikt eines Karl Kraus, der die Operette nach Offenbach, beginnend mit der Fledermaus, die “des Übels Urquell” sei, “als die ernstgenommene Sinnlosigkeit auf der Bühne” apostrophiert[2] und in der angeblich politikkritischen Offenbachiade einen verbindlichen Maßstab für jede Operettenproduktion erblickt hat? Diese Einschätzung ist weit verbreitet, ihr folgt in jüngster Zeit auch Volker Klotz.[3] Gegenüber diesem Argument wäre freilich eine aufmerksame Relektüre Siegfried Kracauers zu empfehlen,[4] der weniger die Musik als gerade die sozial-politische Relevanz der Werke Offenbachs untersucht und darauf hingewiesen hat, wie sehr die Offenbachiade nicht nur Kritikerin, sondern in erster Linie Stütze des Second Empire gewesen ist; deshalb die harsche Ablehnung Offenbachs von Seiten der zeitgenössischen oppositionellen Republikaner und Sozialdemokraten, deshalb der allmähliche Rückzug Offenbachs nach dem Sturz Napoleons III. im Jahre 1870. Oder wirkt die strikt ablehnende Attitüde Adornos[5] nach, der den Warenfetischismus in der Operette (Ausstattungsoperette) demaskiert und ihr als Unterhaltungsform jegliche ästhetische Berechtigung abgesprochen hat?[6]

Analog dazu hat freilich die heftige Kritik Adornos am Jazz längst an Gültigkeit verloren. Dazu kommt noch der unreflektierte Umgang mit einem historischen Erbe: Die nationalsozialistische Ideologie hat die meisten Operetten des 20. Jahrhunderts als “verjudet”, “entartet” und daher einer bloß “silbernen” Verfallsära zugehörig apostrophiert, das heißt, sie gehörten einem Genre an, das, mit wenigen Ausnahmen, zu verbieten und strikt abzulehnen wäre; im Gegensatz dazu wurde die Operettenproduktion des 19. Jahrhunderts als eine “goldene Ära” bezeichnet und zu einem ernsthaften Genre aufgewertet, was auch seit den 1930er Jahren in einer an die so genannte E-Musik angelehnten, opernhaft-pathetischen Aufführungspraxis ihren Ausdruck fand, die zuweilen ebenso bis in die Gegenwart nachwirkt (vgl. die Platten- und CD-Einspielungen) wie die von der Musikgeschichte kritiklos rezipierte Unterscheidung zwischen der “goldenen” und “silbernen” Operette (S. 106f.):

“Den heutigen Interpreten scheint nicht bewusst zu sein”, meint Kevin Clarke, “welche Ideologie sie damit fortführen” (S. 107).

Das alles mag, so Simon Frith, dazu geführt haben, dass, abgesehen von wenigen Ausnahmen, diese “Pop-Musik” der Jahrzehnte um 1900 von der universitären Musikwissenschaft, die der “Gleichsetzung von Hochkultur und akademischer Kultur”[7] anhängt, bis heute kaum berücksichtigt wird: “Die Ästhetik der Populärkultur gehört zu den vernachlässigten Themen, und es ist an der Zeit, dass wir uns ihr genauso ernsthaft widmen, wie es Allan Bloom u.a. bereits getan haben”.[8]

In einem derart skizzierten Zusammenhang könnten von dem vorliegenden Band wichtige Impulse für die Forschung und für die Aufführungspraxis ausgehen. Mit der Analyse und Rekontextualisierung von Erik Charells und Ralph Benatzkys Revueoperette Im weißen Rössl (Berlin 1930, Großes Schauspielhaus) werden wertvolle neue Erkenntnisse über das musikalische Unterhaltungstheater und das gesellschaftliche Selbstverständnis der Jahrzehnte nach 1918 eingebracht. Neun zum Teil äußerst informative Beiträge beschäftigen sich mit unterschiedlichen Facetten des Inhalts, der Produktion, der Rezeption, der heimischen und internationalen historischen und gegenwärtigen Aufführungspraxis und selbstverständlich mit den Produzenten und Akteuren des Weißen Rössl.

Die Operette geht auf einen Schwank von Oscar Blumenthal und Gustav Kadelburg aus dem Jahre 1897 zurück, sie ist im Teamwork von Textern und Musikern entstanden – eine Produktionsweise, die Norbert Linke schon bei der Entstehung von Johann Strauß Sohns Operetten nachweisen konnte.[9] In der ersten Untersuchung (S. 5-24) würdigt Norbert Abels den Dichter, Librettisten und Schriftsteller Robert Gilbert, der mit seinen Schlagertexten ganz wesentlich zum Erfolg dieser Operette beigetragen hat; seine Lieder seien “Parodien und verulken mit bohrender Diktion den Warencharakter von Musik”.

Denn: “Die Operette reagierte, um sich von der operettenhaft gewordenen Wirklichkeit noch zu unterscheiden, mit der einzig richtigen Antwort: sie wurde zur Parodie der Wirklichkeit” (S. 17).

Ähnlich hatte bereits Kracauer die Offenbachsche Operette des Zweiten Kaiserreichs charakterisiert: “Die Operette konnte entstehen, weil die Gesellschaft, in der sie entstand, operettenhaft war.”[10] Es folgt ein Interview Kevin Clarkes mit Inge Jens, die die Tagebücher Benatzkys[11] herausgegeben hat, über den Lebensweg und das intellektuelle Umfeld des Komponisten, Lyrikers, Essayisten, Feuilletonisten, Drehbuchautors und Übersetzers Benatzky (S. 25-35). Ralf Waldschmidts Beitrag über Benatzkys Kammeroperetten (S. 37-58) veranschaulicht in mustergültiger Weise die musikalisch anspruchsvollen kleineren, heute zumeist vergessenen Stücke, ihre (französischen) Vorlagen und den musikalischen Zitatenreichtum, der bei den nach 1933 in Wien entstandenen Piecen neben “westlichen” Tanzrhythmen, ganz in der Tradition der Wiener Operette, auch auf folkoristische Elemente, Tänze und Rhythmen der zentraleuropäischen Region zurückgreift. Mit diesen Kammeroperetten, wie zum Beispiel Adieu Mimi!, Cocktail, Das kleine Café oder Axel an der Himmelstür, die deutliche zeit- und sozialkritische Bezüge aufweisen, befand sich Benatzky “am Puls der Zeit, er hatte das Zeug dazu, die Operette auf spezifische Weise gegenwartstauglich zu machen und so der abgelebten Gattung neue Impulse zu geben” (S. 57f.). Das Genre Revueoperette hatte in der Person des Leiters des Berliner Großen Schauspielhauses ihren eigentlichen Promotor: Marita Berg veranschaulicht in eindrucksvoller Weise (S. 59-79), wie Erik Charell 1930 das Weiße Rössl in Berlin, London, Paris und New York nach dem Muster früherer Arrangements als eine musiktheatralische Performance in Szene setzte.

Die bereits erwähnte arbeitsteilige Produktionsweise, mit der “sich Benatzky, der gewohnt war, seine eigenen Texte zu vertonen, nur sehr schwer abfinden” konnte (S. 84) – Hans Müller und Erik Charell lieferten die Lustspielvorlage, Schlager von Robert Gilbert, Vertonungen von Bruno Granichstaedten und Robert Stolz wurden eingefügt, die kompositorische Gesamtleitung blieb freilich bei Benatzky –, wird u.a. im Beitrag von Eugen Semrauangesprochen, der sich mit dem “Rivalen” Robert Stolz auseinandersetzt (S. 81-99). Die “Legende” von dessen überragender Bedeutung für die Unterhaltungsmusik, an der Stolz selbst bewusst mitgewirkt hatte (S. 95ff.), nistete sich vor allem in den 1960er Jahren in das öffentliche Bewusstsein ein, unterstützt durch eine nostalgische Rückwendung in die Vergangenheit, die die Nachkriegsjahre kennzeichnete (Titel und Inhalt von Hellmut Andics Buch Der Staat den keiner wollte – in Abwandlung von Reinhold Lorenz’ NS-lastigem Der Staat wider Willen. Österreich 1918-1938 [1938, ²1941] – bezieht sich nicht auf die Jahre nach 1945 [S. 95], sondern auf die Erste Republik!). Von grundsätzlicher und aktueller Bedeutung sind die kritischen Überlegungen von Kevin Clarke über die historische und die gegenwärtige Aufführungspraxis des Weißen Rössl in diversen Bühnen- und Filmfassungen (S. 101-126).

Clarke charakterisiert die Revueoperette der 1930er Jahre, die beim Film sowohl Anleihen machte als sich auch von diesem zu emanzipieren wusste (S. 116 ff.), als “Kitschkunst” im positiven Sinne, sie sei ein “rebellisches Produkt der Moderne”, “eine symmetrische Gegenkunst zur Avant-Garde” (Clement Greenberg 1939, S. 103). In ähnlicher Weise war bereits die Wiener Operette der Jahre um 1900 durch die bewusste Verschränkung von unterschiedlichen regionalen folkloristischen Elementen ein subversiver Protest gegenüber einer immer dominanteren nationalen Ideologie, die nicht auf die Verschmelzung, sondern auf die Exklusion und Trennung nationaler Merkmale setzte. Solche Einsichten gehen mit Überlegungen von John Fiske, Simon Frith oder Lawrence Grossberg über die Popkultur und -musik der Gegenwart konform und widersprechen Volker Klotz’ ablehnender Haltung gegenüber der Revueoperette und dem Musical (S. 113f.). Clarke fordert eine “historisch informierte Aufführungspraxis”: Man sollte sich an den ursprünglichen, “authentischen” Aufführungen orientieren (vom Weißen Rössl gibt es Aufnahmen der Pariser Aufführung von 1932), bevor man ein Werk wieder in Szene setzt. Dieser Forderung nach der Orientierung am “Original” ist zwar grundsätzlich zuzustimmen, es stellt sich aber die Frage, welchen Stellenwert dann ein jeweils verändertes sozio-kulturelles Bewusstsein an den Neuproduktionen “historischer” Werke hat und haben muss.

Eine Antwort darauf gibt das mit den “Geschwistern Pfister”, Christoph Marti und Tobias Bonn geführte Gespräch Manuel Brugs über die Neuproduktion des Weißen Rössl im Jahre 1994 in der Berliner Bar jeder Vernunft (S. 171-179). Die meisten der an der Revueoperette beteiligten Komponisten, Textdichter, Regisseure oder Schauspieler kamen aus dem Judentum; das führte auch zu der radikalen Verurteilung dieses Genres im Dritten Reich; manche von ihnen flohen 1933 zunächst nach Wien, 1938 in die USA, und die das nicht schafften, wurden in den KZs auf tragische Weise umgebracht. Jens-Uwe Völmecke untersucht dieses Phänomen vor allem am Beispiel der Schauspielerinnen und Schauspieler der Uraufführung des Jahres 1930 (S. 127-150): an Max Hansen, Siegfried Arno, Otto Wallburg, Camilla Spira, Trude Lieske, Walter Jankuhn und Paul Hörbiger. Abschließend skizziert Richard Norton die “abenteuerliche Reise des Rössl durch die englischsprachige Welt” (S. 151-169), London, New York und Hollywood. Gerade bei Charells Adaptation für ein englischsprachiges Publikum, die nicht nur zu Textumschreibungen führte, sondern Schlager oder Lieder des Berliner “Originals” einfach wegließ und statt dessen neue einfügte, wird am Beispiel des Weißen Rössl der performative Charakter der Revueoperette deutlich sichtbar.

Der vorliegende materialreiche Band ist ein wichtiger Beitrag für die Erforschung der Operette im 20. Jahrhundert.

Eine Analyse ihrer musikalischen Faktur, die in dem Band leider weitgehend ausgeblendet bleibt, könnte gerade am Beispiel der Operette unter anderem auch Fragen des aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurses aufgreifen:[12] Welchen Anteil hatte das Massenphänomen Operette an der Konstruktion von kollektiven Identitäten, welche Bedeutung kommt dabei musikalischen Motiven, Tanz und Rhythmus zu? Welche identitätsstiftende Funktion hat die musikalische Unterhaltung im Allgemeinen? Eugen Semrau deutet dies in seinem Beitrag an: Während die Generation der 1930er Jahre in der Unterhaltung die Ablenkung von täglichen Sorgen sah, suchte die nachfolgende Generation “in der musikalischen Unterhaltung nicht mehr Ablenkung von den täglichen Sorgen, sondern definierte sich dadurch ein neues Lebensgefühl, das dann im Habitus und der Musik der Beatles zum Symbol eines neuen Zeitalters wurde” (S. 94).

Oder: Inwiefern war die Operette ein repräsentativer Ort von Gedächtnisinhalten, die durch ihre erinnernde Aneignung von Seiten der Rezipienten jeweils neu und unterschiedlich aktualisiert oder kritisch hinterfragt wurden? Ganz abgesehen von solchen kulturwissenschaftlichen Perspektiven geben die anregenden Beiträge wertvolle Hinweise für die Regie und Aufführungspraxis. Sie könnten darüber hinaus auch als eine Aufforderung an die Musikwissenschaft verstanden werden, die musikalischen, kulturellen und sozialen Dimensionen des musikalischen Unterhaltungstheaters mit mehr Aufmerksamkeit zu verfolgen als bisher.

 

[1] Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hg.), Jacques Offenbach (Musik-Konzepte, Bd. 13), München 1980.

[2] Die Fackel, 10. Jahr, Nr. 270-271, 19. Jänner 1909, S. 12.

[3] Volker Klotz, Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, erweiterte Auflage, Kassel u.a. 2004.

[4] Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Werke, Bd. 8), hrsg. von Ingrid Belke, Frankfurt a.M. 2005.

[5] Vgl. u.a. Theodor W. Adorno, “Leichte Musik”, in: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie (Gesammelte Schriften, Bd. 14), hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1997, S. 199-218. Bezeichnender Weise wird in keinem der Beiträge dieses Bandes auf Adorno Bezug genommen.

[6] Zur ästhetischen Dimension von Unterhaltung vgl. Richard Shusterman, “Unterhaltung: Eine Frage für die Ästhetik”, in: Christoph Jacke u.a. (Hg.), Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen, Bielefeld 2006, S. 70-96.

[7] Simon Frith, “Das Gute, das Schlechte und das Mittelmäßige. Zur Verteidigung der Populärkultur gegen den Populismus”, in: Roger Bromley u.a. (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 191-214, hier S. 210.

[8] Ebenda, S. 193.

[9] Norbert Linke, “Es musste einem was einfallen”. Untersuchungen zur kompositorischen Arbeitsweise der “Naturalisten”, Tutzing 1992.

[10] Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach (s. Anm. 4), S. 192.

[11] Ralph Benatzky, Triumph und Tristesse. Aus den Tagebüchern von 1919 bis 1946, hrsg. von Inge Jens und Christiane Niklew, Berlin 1992.

[12] Vgl. dazu Corinna Herr, Monika Woitas (Hg.), Musik mit Methode. Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, Köln u.a. 2006.

 

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