Sigm. Schlesinger
Morgen-Post (Wien)
18 March, 1860
Sie haben wirklich alle Macht und allen Einfluß verloren, die hohen olympischen Herrschaften, die da saßen „auf goldenen Stühlen“, und die Geschicke der Welt und der Menschen lenkten nach unumschränkten Gutdünken und Ermessen; denn besäßen sie nur noch einen Schatten ihrer ehemaligen Gewalt, sie würden es nimmermehr dulden, daß man sie zum Gegenstande so abscheulichen, selbst für entthronte Götter zu ruchlosen Spottes macht, wie es die gottlose Welt thut.
Die letzte Gerichtsstubenseele kann sich mit allen Donnern der Gesetzesparagrafe zur Vertheidigung waffnen, wenn ein unverschämter Zeitungsschreiber seiner Laune ein Bischen [sic] die Zügel schießen lassen will; der kleinste Gott in der endlosen Stufenreihe irdischer Götter kann den verwegenen Possenfabrikanten zerschmettern, der es wagt, sich an dessen Unnahbarkeit zu vergreifen.
Und nur die armen, gestürzten Götter des Olymps stehen schutz- und wehrlos da und müssen es sich ruhig gefallen lassen, daß jeder ausgelassene Spottvogel das, was er anderen Leuten nicht in’s Gesicht pfeifen darf, an ihre Adresse richtet, und müssen es geduldig mit ansehen und anhören, daß man musikalischen Schabernack mit ihnen treibt und eine Opernparodie aus ihnen macht. Und Jupiter, der erhabene Donnergott, muß sich bequemen, als Nestroy zu erscheinen und mit selbstmörderischer Satyre allen den hohen und höchsten Gottheiten die Lehre zum Besten zu geben: „Nur den Schein bewahren, liebe Kinder. Denn wenn’s Volk auch nur’s Volk ist, so sind’s doch am End’ die Leut’ und vor den Leuten heißt’s immer den Nimbus bewahren.[“] (Es brauchte eigene Buchstaben und eigene Schriftzüge, um nur annähernd einen Begriff des unbeschreiblichen Tones zu geben, mit welchem Nestroy das Wort „Nimbus“ in der Nestroy’schen Uebersetzung als „Nihmbes“ hervorbringt.) [„]Nur immer den Nihmbes bewahren!“ Wohin wird es unter solcher Bewandtniß noch mit der Autorität auf Erden kommen!
Doch wir wollen hübsch der Reihe nach erzählen. Nach einer Ouvertüre, die ein Bischen viel Offenbach, ein Bischen wenig Meyerbeer und ein Bischen zu lang ist, geht der Vorhang auf und wir befinden uns vor Theben. Rechts an eine grünumwundene Säule gelehnt steht ein Haus, welches die Ueberschrift trägt: „Orpheus, Direktor des Konservatoriums in Theben. Gibt auch Musikstunden.“ Dem gegenüber steht ein anderes Haus mit der Aufschrift: „Aristeus, arkadischer Schäfer, Honighändler en gros und en detail, Depot im Berge Hymetrus.“ Vor den beiden Häusern dehnt sich ein riesiges Aehrenfeld. Auf den idealen Schauplatz tritt eine ideale Gestalt, die öffentliche Meinung (Frau Grobecker), sein winziges Persönchen, aber in dem Vollbewußtsein ihrer Macht, eine goldene Peitsche in der Hand, mit welcher sie die Menschen, ihr zu folgen, zwingt.
Nach kurzer Rede, worin sie sich und das Stück dem Publikum präsentiert, räumt sie das Feld. Eurydice, Orpheus’ Gattin (Frau Schäfer), die aus einem kleinen ehelichen Schleichweg begriffen, für Aristeus einen Blumenkranz bringt; während sie durch die Thüre des Honighändlers blickt, tritt Orpheus (Herr Grobecker) mit der Violine auf, hält die abgewendete Eurydice für ein Fräulein Chloë, für welches er seinerseits eine gewisse verdächtige Neigung kundgibt und spielt natürlich nach Männersitte in Folge dessen den Doppeltentrüsteten, als er seinen Irrthum gewahr wird. Es folgt eine musikalisch-dramatische Eheszene, in welcher jedoch mehr, etwas zu viel mehr gesprochen als gesungen wird. Wir wissen nicht, hat Offenbach zu wenig Musik oder hat unser Orpheus sich zu viel Worte in die Szene hineingegeben – es folgen gegenseitige Erklärungen untermengt mit ein paar sehr schlechten Witzen über Zukunftsmusik, die vermuthlich nicht auf Rechnung Offenbach’s zu schreiben, sondern hiesige Zuthaten sind, und am Schlusse macht Orpheus Eurydice’n die mysteriöse Enthüllung, daß Aristeus sich vor einem gewissen Etwas in dem Aehrenfeld hüten solle, worauf er befriedigt abgeht, seine Lektionen zu geben. Eurydice bleibt in qualvoller Angst zurück.
„O, bitteres Loos – ruft sie – einen Gatten zu haben, den man nicht liebt, und einen Mann zu lieben, den man nicht zum Gatten hat. Jetzt weiß ich nicht, liebe ich Orpheus nicht, weil er mein Gatte ist oder liebe ich Aristeus, weil er nicht mein Gatte ist? Ist die Liebe ein Hinderniß in der Ehe oder die Ehe ein Hinderniß in der Liebe?“ Nach diesem tiefsinnigen Monolog geht sie ab, Aristeus vor dem geheimnißvollen Etwas in dem Aehrenfeld zu warnen. Erscheint darauf ein nichtmeckernder Ziegenbock und hinter ihm Aristeus (Herr Karl Treumann), etwas geschmacklos bebändert und kostümiert, eher einem phantastischen Sohne der Pußta als einem arkadischen Schäfer gleichend, mit einer riesigen Schalmei, ein rührend frommes Schäferliedlein singend, nach dessen Absingung er sich als ein bloß geheuchelter Aristeus und als verkleideter über- oder vielmehr unternatürlicher Bösewicht dokumentirt. Wir erfahren, daß er von dem gefährlichen Etwas in dem Aehrenfeld weiß[,] und als Eurydice kommt, lockt er sie dorthin; verborgene Schlingen halten sie fest, er zeigt sich in seiner wahren Gestalt, als Pluto, Gott der Unterwelt, greift nach dem Zweizack, führt mit demselben eine Operation des thierischen Magnetismus an Eurydice’n aus und versinkt schließlich mit ihr, nachdem sie noch durch die gleiche magnetische Gewalt getrieben, einen leuchtenden Abschiedsgruß für Orpheus an die Wand geschrieben.
Der rückkehrende Orpheus ist entzückt, als er den Abschiedsgruß, den Willkommensgruß seiner Freiheit[,] entdeckt, wird aber in seinem Entzücken durch die öffentliche Meinung gestört, welche ihn unter Androhung des Verlustes seiner Lektionen zu dem schweren Entschlusse zwingt, von Jupiter sein Weib zurückzubegehren und ihn mit der Peitsche vor sich her nach dem Olymp treibt. Damit schließt das Vorspiel, das trotz der hübschen pikanten Musik durch den verhältnißmäßig sehr matten Dialog jedenfalls viel zu gedehnt erscheint.
Der darauf folgende erste Akt bietet dafür reiche Entschädigung. Hier entwickelt sich in dem Leben und Treiben aus dem Olymp eine Pracht der Dekoration, ein Reichthum der Gruppirung, ein Effekt der Musik (das Spottcouplet Pluto’s und der Aufruhrschor vor Allem), hier herrscht im Dialog so entschieden Nestroy’s kaustischer Witz vor, ergibt sich daraus eine solche Fülle komischer Züge und packender Details, daß dieser Akt unstreitig zu dem Belebtesten und Bewegtesten gehört, was wir noch aus der Bühne gesehen.
Die Handlung desselben ist mit wenig Worten gesagt: Die Entführung Eurydicen’s ist im Olymp ruchbar geworden. Die eifersüchtige Juno (Frl. Herzog) beargwöhnt natürlich sofort ihren hohen Gemal, von dem die olympische chronique scandaleuse viele solcher Geschichtchen zu erzählen weiß, bei welchen der „Nihmbes“ nicht immer gerettet worden, worauf aber Jener feierlich erklärt, daß er „noch niemals so unschuldig gewesen“. Wirklich kömmt [sic] auch seine Unschuld an den Tag, Merkur (Herr Holm) langt an mit der Darstellung des wirklichen Sachverhaltes. Auch Pluto erscheint auf Besuch bei seinem Bruder Donner; es entspinnt sich eine brüderliche Diskussion, welche durch das Hinzukommen des ganzen olympischen Hofes und durch das Auftreten des klageführenden Orpheus mit der öffentlichen Meinung in eine förmliche Gerichtverhandlung gegen den Angeklagten Pluto übergeht und mit dem Spruche endet, daß Letzterer die geraubte Eurydice herauszugeben habe.
Auch im zweiten Akt ist Nestroy der Allwaltende. Er gibt da eine Fliege „zum Summen“ getroffen; als Fliege nämlich schlüpft er in der Unterwelt in Pluto’s „Kaminet“ [sic], da Eurydice zu erlauschen und ihr seine Huldigung darzubringen. Die Musik zu dieser Fliegenszene ist wahrhaft reizend; aber unübertrefflich bleibt die Art und Weise, wie Nestroy die Fliege gibt, wie er mit den Flügeln klappt, wie er sich die Nase reibt, wie er so oft er an die Fensterscheiben ankömmt, den kurz abgebrochenen Sauseton herausstoßt, den die Fließe in solchem Falle von sich gibt. Die Wirkung müßte wohl noch gesteigerter sein, wenn es möglich gewesen wäre, mittelst Flugmaschinen die Fliege wirklich in der Lust herumsummen und nicht den Boden berühren zu lassen. Noch hat dieser Akt eine groteske Figur, das blutrothe Faktotum Pluto’s, Hanns Styx (Hr. Knaak) den Schatten des abgeschiedenen Prinzen von Arkadien, der so lange Lethe trinkt um zu vergessen, bis er sogar die Befehle seines Herrn vergißt und dessen Lied vom „Prinzen von Arkadien“ in Paris das populärste Motiv aus dem „Orpheus“ geworem ist. Herr Knaak trägt es ohne Stimme gut vor.
Der letzte Akt bringt in einer prachtvollen Dekoration – Unterweltslandschaft, Ufer des [Okeanos], unterweltlich-dunkelnder Himmel mit Mond – ein Götterfest mit einem schönen (von den Damen Schäfer, Weinberger und Stummer) gesungenen Trinkliede und einem reizend instrumentierten Höllentanze. Während des Tanzes will Jupiter die als Bacchantin maskirte Eurydice entführen, wird aber von Pluto festgehalten und gezwungen, dem eben anlangenden Orpheus sein Weib auszuliefern. Das thut denn Jupiter, doch mit der aus der Mythologie aus der 2. Lateinklasse wohlbekannten Klausel, daß Orpheus sich nicht umsehen dürfe, bevor er den Tartarus verlassen, wenn er nicht Eurydice für immer verlieren wolle. Als zärtlicher Gatte ergreift Orpheus natürlich die erste Gelegenheit, sich umzuschauen und Eurydice wird sofort von Jupiter durch gütliches Uebereinkommen mit Pluto zur „lebenslänglichen Bachantin mit olympischem Hofdekret“ ernannt. Eine glänzende Ansicht des Bacchustempel’s beschließt den wunderlichen phantastisch-komischen Spuck.
Alles in Allem genommen ist der „Orpheus“ eine keckgedachte, geistreiche musikalische Posse, die aber weniger Originalität und weniger das Zeug zum Populärwerden in sich trägt als die kleinen Operetten-Dingerchen Offenbachs. Was die Wirkung der einzelnen Theile betrifft, dürfte sie beim Vorspiel als ermattend, beim ersten Akt als packend, beim zweiten Akt als anziehend bezeichnet werden, während der letzte Akt wieder den lebhaften, blendenden Charakter des ersten anstrebt.
In der Inscenesetzung athmet etwas wie Pariser Hauch. Daß der Dialog lokalisirt wurde, können wir nicht tadeln; aber es lag darin kein Hinderniß, ihn (abgesehen von der Rolle des Jupiter) witziger zu wachen. Die Ausstattung ist wirklich reich; die sechs vorkommenden Dekorationen (Theben, Wolkensitz der Götter, Jupiters Thronsaal, Pluto‘s Gemach, Ufer des [Okeanos], Bacchustempel) sind vielleicht das Schönste und Poetischste, was Lehmann bisher für die Bühne gemacht. Es sind in ihnen die Ueberladung und gekünstelte Effektsucht vermieden, die in Lehmann’s Dekorationen nicht selten fühlbar werden.
In der nächst Nestroy noch erübrigenden Darstellung machen sich vorerst Herr Carl Treumann und Herr Knaack, dann Frl. Herzog geltend. Herr Grobecker verliert durch den Versuch, sich zu viel geltend zu machen, wodurch auch Herr Grois (Mars) die Wirkung seiner gut gewählten Maske verdirbt. Frau Schäfer spielt und singt die Eurydice – als Frau Schäfer. In kleineren Parthien sind noch die Damen Grobecker, Zöllner (Venus) und Weinberger (Diana) zu nennen. Der Erfolg hielt sich an den oben angedeuteten Charakter der einzelnen Akte. Das Vorspiel machte geradezu Fiasko; der erste Akt gefiel entschieden, der zweite sprach an, den letzten und in musikalischer Hinsicht schönsten ließ die Ermüdung, die sich noch vom Vorspiel her des Publikums bemächtigt hatte, nicht zu der Wirkung gelangen, die er unter einer günstigeren Konstellation hätte gewinnen müssen. Glänzend war der Erfolg durchaus nicht; doch ist es sehr möglich, daß die späteren Vorstellungen, die nicht so wie gestern übermächtig gespannten Erwartungen des Publikums mehr befriedigen und daß das Stück dadurch dauernden Halt gewinnt. Unbedingtes Lob fanden nur Nestroy und die Ausstattung.
The fact that the Morgen-Post put their expansive Orpheus in the Underworld review prominently on the front page has to do, probably, with the fact the the Austrian Emperor Franz Joseph and Empress Sissi attended the first performance, together with (gay) Erzherzog Ludwig Viktor. This gave the otherwise “scandalous” show the official stamp of approval which even dissaproving critics could not ignore. It demonstrates that Offenbach and French operetta in these years was a very exclusiv and elistist phenomenon.
To read about the rediscovery in 2019 of the performance material for this Johann Nestroy/Carl Binder version, click here.