Aus Perspektive eines Operettennostalgikers: „Rebecca“ und „Glöckner“ in Wien

Robert Quitta
Operetta Research Center
7. Februar 2023

Operettenfreunde in Österreich haben derzeit einen schweren Stand. Im sogenannten „Mekka der Operette“ in Mörbisch wird, seit Altbeau Alfons Haider burgenländischer Generalmusikdirektor geworden ist, nur noch Musical gespielt. Letzten Sommer Der König und ich/The King and I, heuer Mamma Mia.

Promo-Bild für die "Mamma Mia"-Produktion in Mörbisch 2023. (Foto: Seefestspiele Mörbisch)

Promo-Bild für die “Mamma Mia”-Produktion in Mörbisch 2023. (Foto: Seefestspiele Mörbisch)

Im Kurort Baden wird das dort traditionell angesiedelte Genre zwar noch ab und zu bedient, und manchmal sogar mit rareren Werken. Das Problem ist nur, dass Intendant Michael Lakner dort nicht nur inszeniert, sondern in letzter Zeit auch noch die genialen Originallibretti eigenhändig komplett umschreibt. Will er sich für seine bevorstehende Pension durch Zusatzverdienste noch rasch ein finanzielles Polster zulegen? Seine Verballhornung und Verhunzung von Lehárs Blauer Mazur wäre jedenfalls ein Fall für den (noch zu errichtenden) Europäischen Operettengerichtshof in Den Haag – und zumindest mit Lebenslangem Bühnenverbot zu ahnden.

Wenn die neue Intendantin der Volksoper, Lotte de Beer, Operette programmiert, dann (wie zur Eröffnung der Saison) Carl Millöckers Die Dubarry – gedopt und aufgepeppt mit Berliner 20er-Jahre-Sound von Theo Mackeben und TV-Promi-Beteiligung (Harald Schmidt!).

Wäre da nicht noch der neue Intendant des Theaters an der Wien, Stefan Herheim, der sich vorläufig zumindest für die französische Ur-Variante des Genres entschieden hat (Offenbachs La Péricholeich habe darüber berichtet), würden die Wiener Operettenfreunde total durch die Finger schauen.

Die Erbsünde dieses fortgesetzten „Operettozids“ war die Entscheidung der sozialdemokratischen Stadtpolitiker, die letzte verbliebene Heimstätte der Wiener Operette – das Raimundtheater – nach seiner Renovierung in den 70er Jahren den städtischen Vereinigten Bühnen Wiens einzugliedern. Klingt nicht umsonst wie ein DDR-Kombinat. Worauf da selbst in weiterer Folge nur noch Franchise-Import-Musicals gespielt wurden.

In den letzten Jahren gab es zaghafte Gegenbewegung, zum Beispiel mit der völlig unter ihrem Wert geschlagenen Produktion Schikaneder, die viel mehr ein Singspiel war als ein Von-der-Stange-Musical, noch dazu in einer ziemlich genialen Inszenierung des Cats-Uraufführungsregisseurs Trevor Nunn. Kam aber trotz oder wegen solcher Meriten bei den Bärlis-BHs- und Slips-werfenden Teenies nicht so wahnsinnig gut an…

Ein zweiter, sogar einigermaßen erfolgreicher Versuch (die Produktion wurde aufgrund des großen Zuspruchs um ein ganzes weiteres Jahr verlängert) war das hausgemachte Jukebox-Musical I Am From Austria mit den Hits des österreichischen Nationalpopbarden Reinhard Fendrich. Das eigentlich – wegen der Mitwirkung zahlreicher gewiefter österreichischer Theaterschauspieler – besser als Neo-Operette zu bezeichnen wäre. Der Erfolg blieb leider folgenlos. Aber es gibt immerhin eine DVD als Live-Mitschnitt.

Anstatt in diese Richtung konsequent weiterzumachen, verfiel man von Seiten der Intendanz munter in alte Muster. Zwar gab und gibt es Gerüchte, das weitere „Jukebox-Werke“ mit Österreich-Bezug in der „Workshop-Phase“ in Vorbereitung wären. Gesehen hat man stattdessen aber nur das uralte und sündteure (was für eine Geldverschwendung!) Cameron-Macintosh-Produkt Miss Saigon (die ja außer dem Hubschrauber wenig Interessantes aufzuweisen hat). Die Reaktion war bei der Kritik naturgemäß nicht gerade enthusiastisch, obwohl die meisten Vorstellungen trotzdem gefüllt waren.

Nichts gelernt habend, musste man auch noch Disneys Drittverwendung des Mary Poppins-Stoffes („das kälteste Musical, das ich je gesehen habe“ schrieb ein Kollege schaudernd) nach Wien holen. Dem nicht genug, subventioniert man den Disney-Konzern nun überdies mit der Übernahme des Glöckners Von Notre Dame ins Etablissement Ronacher.

David Jakobs als Quasimodo in "Der Glöckner von Notre Dame" in Wien. (Foto: VBW / Deen van Meer)

David Jakobs als Quasimodo in “Der Glöckner von Notre Dame” in Wien. (Foto: VBW / Deen van Meer)

Um es kurz zu machen: es war für mich ein grauenvoller Abend. Permanent wurden die Sänger von einem auf voller Lautstärke spielenden und vestärkten Orchester zugedröhnt. Musik mag man das, was man dann hörte, kaum nennen. Es war eine einzige akustische Sauce, alles klang einförmig und wie von einem ziemlich unbegabten und vor allem völlig humorlosen Musicalkompositionscomputerprogramm generiert. Dabei haben die Originalsongs von Alan Menken aus dem Film zweifellos ihren Charme.

Das Bühnenbild ist ein trister Graus, ganz aus Holz. Die scheußlichen Kostüme dürfte man vom lokalen Theater-der-Jugend-Fundus (Abteilung „Mittelalter“) ausgeliehen haben. Die Darsteller/innen waren bemüht, aber meiner Meinung nach letztlich unzureichend.

Szene aus dem "Glöckner von Notre Dame" in Wien. (Foto: VBW / Deen van Meer)

Szene aus dem “Glöckner von Notre Dame” in Wien. (Foto: VBW / Deen van Meer)

Überhaupt verstehe ich den Sinn dieser ganzen Unternehmung nicht. Es gibt ein paar phantastische, nahezu ultimative Verfilmungen dieses Stoffes (nie werde ich Charles Laughton oder Anthony Quinn oder Gina Lollobrigida vergessen). Was bringt es also, diese alte Gruselgeschichte ohne Inspiration mit unzulänglichen Mitteln neu auf die Bühne zu bringen? Das kann doch gegenüber diesen Vorbildern, die sich weltweit ins Gedächtnis eingebrannt haben, zwangsläufig nur abstinken … Disney Magic hin oder her.

Abla Alaoui als Esmeralda und Andreas Lichtenberger (r.) als Frollo in "Der Glöckner von Notre Dame." (Foto: VBW / Deen van Meer)

Abla Alaoui als Esmeralda und Andreas Lichtenberger (r.) als Frollo in “Der Glöckner von Notre Dame.” (Foto: VBW / Deen van Meer)

Was ich nach diesen qualvollen drei Stunden, einer Tortur für Augen und Ohren, noch weniger verstehe, ist, wieso noch irgendjemand dreist behaupten kann, die „Operette“ wäre verstaubt und altmodisch. Der letzte, der dies ungeniert tat, war der derzeitige Standard-Kulturchefredakteur Stephan Hilpold (vorher Mode-und Lifestyle-Experte des Blattes). Er tat es in einem Interview mit Volksopernchefin Lotte de Beer. Wie unbedarft, wie vorurteilsbehaftet, wie ignorant kann man sein? Und das, ohne je einen Kalman, Lehar oder Abraham wahrgenommen zu haben, wie’s scheint? Es werden jetzt überall Paragraphen gegen Hate-Speech eingeführt. Vielleicht sollte man auch einen gegen Operettenphobie hinzufügen? (Nur mal als Idee.)

Die zweite Produktion der VBW, die noch bis Ende dieser Saison in Wien läuft, ist Rebecca im Ronacher. Und das ist gleich eine ganz andere Baustelle.

Nienke Latten in der Titelrolle, Mark Seibert als Maxim De Winter und Ana Milva Gomes als Mrs. Van Hopper in "Rebecca". (Foto: VBW / Deen van Meer)

Nienke Latten in der Titelrolle, Mark Seibert als Maxim De Winter und Ana Milva Gomes als Mrs. Van Hopper in “Rebecca”. (Foto: VBW / Deen van Meer)

Ich atmete förmlich auf, als ich sie am Tag nach dem unseligen Glöckner sah. Rebecca ist ein echtes Musical-Musical, zumindest für meine Ohren. Aber es ist auf einheimischem Mist gewachsen und Ergebnis einer gewissen kreativen Anstrengung, beruhend auf einem bisher noch nicht vertonten Stoff. Das in dieser Hinsicht bereits mehrfach auffällig gewordene Autoren-Duo Sylvester Levay und Michael Kunze hat es als Auftragswerk der VBW 2006 in Wien auf die Welt gebracht. Jetzt ist Rebecca nach langen Jahren und erfolgreichen Gastspielen in zwölf Ländern wieder an den Ursprungsort zurückgekehrt.

Um es kurz zu machen: die Heimkehr war triumphal, und an diesem Abend bereute ich es wirklich nicht, ins Theater gekommen zu sein. Im Gegenteil: ich könnte mir sogar vorstellen, noch einmal hineinzugehen. Die Produktion ist brillant und groß. Levay scheint auch ein Musicalkompositionscomputerprogramm zu benützen, aber er hat sich zumindest eine teurere und vor allem bessere Software geleistet.

Die große Ballszene aus "Rebecca". (Foto: VBW / Deen van Meer)

Die große Ballszene aus “Rebecca”. (Foto: VBW / Deen van Meer)

Francesca Zambello hat eine imposante Inszenierung auf die Beine gestellt. Wunderschöne, raffinierte, grenzgeniale Bühnenbilder im Manderley-Style, die sich außerdem blitzschnell (fast ohne dass man das fast merkt) verwandeln lassen, eine akkurate Lichtdramaturgie, eine aufmerksame Personenregie, traumhafte Kostüme (von Birgit Hutter), eine hinreißende Choreographie (besonders bei der berühmten Maskenballszene).

Natürlich sollte man das perfekt gecastete Ensemble nicht vergessen: Willemijn Verkaik (als die „phöse“ Gouvernante Mrs. Danvers) gelingt es souverän, mit ihrer in Wien sehr beliebten Rollenvorgängerin Susan Rigvada-Dumas zumindest gleichzuziehen. Aber auch alle anderen Darsteller/innen sind schauspielerisch und gesanglich hervorragend: Mark Seibert (Maxim de Winter), Boris Pfeifer (Jack Favell), Aris Sas (als reiner Tor Ben) und die in jeder Hinsicht alles umwerfende Ana Milva Gomes (als Mrs. van Hopper).

Nienke Latten und Mark Seibert in "Rebecca". (Foto: VBW / Deen van Meer)

Nienke Latten und Mark Seibert in “Rebecca”. (Foto: VBW / Deen van Meer)

Aber den Vogel schießt Nienke Latten als Ich-Erzählerin ab. Was für eine Entdeckung: sie ist unschuldig, naiv, berechnend, verführerisch, dumm, aufsässig, charmant und verlogen… und sie singt engelsgleich. Zum Verlieben!

Um mein Glück vollzumachen, spielt das Orchester der Vereinigten Bühnen Wiens unter der Leitung von Herbert Pichler hier so, dass ich sowohl die Partitur nachvollziehen als auch den Sänger/innen (die in vorbildlichster Weise textdeutlich sind) zuhören kann.

Beim Schlussapplaus war ich diesmal selbst fast geneigt, meine Boxershorts auf die Bühne zu werfen …

Mehr Informationen zu den Produktionen der Vereinigten Bühnen Wien finden sich hier.

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