Vorsätzlich vergessen? Die Operette der DDR

Kevin Clarke
Neues Deutschland (extended version)
16 March, 2013

In der Ausstellung “Welt der Operette” wurde jüngst in Wien und München auf das “Heitere Musiktheater” der DDR hingewiesen, aber niemand fand es der Mühe wert, darüber zu berichten. Wieso? Und wieso weigert sich die Operettenforschung, sich des Themas anzunehmen? Wieso spielt zudem kein Theater die ehemals erfolgreichen DDR-Stücke, auch nicht zum 100. Geburtstag von Komponist Guido Masanetz?

Auf den ersten Blick würde man meinen, dass an einer umfassenden Aufarbeitung der DDR-Geschichte kein Mangel besteht. Egal ob’s um die Stasi geht oder Homosexualität im Ostteil Deutschlands, Filme der DEFA oder das Alltagsleben im real existierenden Sozialismus, regelmäßig erscheinen Bücher, Ausstellungen, Dokus und Spielfilme, die alle nur erdenklichen Aspekte der DDR-Geschichte beleuchten. Umso erstaunlicher, dass ein ganzer Forschungszweig das Thema mit Missachtung straft.

Die Rede ist von der deutschsprachigen Operettenforschung und ihrer Totalverweigerung, sich mit dem sogenannten “Heiteren Musiktheater” der DDR auseinanderzusetzen.

Das hat eine andere Entwicklung erlebt als die Nachkriegsoperette im Westen. Während in der DDR versucht wurde, Operette als lebendige Kunstform neu zu beleben – mit einer Vielzahl von erfolgreichen Uraufführungen, wie etwa “Bolero” (1952), “Messeschlager Gisela” (1960), “In Frisco ist der Teufel los” (1962) oder “Mein Freund Bunbury” (1964) –, wurde das Genre im Westen regelrecht abgewickelt. Es ging nur mehr darum, alte Stücke zu recyceln und in ein folkloristisches Nostalgiegewand zu stecken, mit ewig wiederholten Titeln wie “Schwarzwaldmädel”, “Csárdásfürstin” und “Im weißen Rössl”. Titel, die irgendwann in dieser Retro-Form niemanden mehr interessierten. Und die vom US-Musical einfach überrollt wurden, beginnend mit dem Sensationserfolg “My Fair Lady”, 1961 am Theater des Westens herausgekommen, zwei Monate nach Bau der Mauer.

The poster of the original version of "In Frisco ist der Teufel los".

The poster of the original version of “In Frisco ist der Teufel los”.

Anders lief die Sache in der DDR, wo seit den 50er Jahren bewusst eine neue Tradition mit Stücken geschaffen wurde, die den veränderten Alltag reflektieren und kritisch durchleuchteten sollten. “Vielfältige Bemühungen um eine neue Operettenkunst drücken überzeugend aus, welche kulturpolitische Konzeption der sozialistische Staat auf dem Gebiet der Unterhaltung verfolgt”, schrieb Otto Schneidereit in “Berlin, wie es weint und lacht” 1968. Und eine Beschäftigung – heute – mit diesen “kulturpolitischen Konzeptionen” ist auch für Nachgeborene spannend, da sich anhand der entsprechenden Stücke von Gerd Natschinski, Guido Masanetz u.a. viel übers Selbstverständnis und ideologische Wunschdenken der DDR-Machthaber ablesen lässt, was auch für jene Historiker von Interesse ist, die sich nicht sonderlich für Musik interessieren.

Denn so wie zu Offenbachs Zeiten die Operette immer genauer Spiegel der Zeitläufe war, so war sie es auch in der DDR. Man muss bloß richtig in den Spiegel schauen.

 

Glamour, Stars und Showbusiness

The cover of the catalogue "Welt der Operette".

The cover of the catalogue “Welt der Operette”.

Als meine Co-Kuratorin Marie-Theres Arnbom und ich vor einem Jahr in Wien am Theatermuseum eine große Ausstellung mit dem Titel “Welt der Operette” eröffneten, ging es uns darum, die vielen Widersprüche des Genres zu beleuchten und vor allem die Parallelwelten aufzuzeigen, die von Anfang an den Reiz der Kunstform ausmachten: die frech-frivole Operette Offenbachs auf der einen und die rührselige Gute-alte-Zeit-Operette auf der anderen Seite. Oder die “entartete” Jazz-Operette der Weimarer Jahre im Gegensatz zur “arisierten” Opium-fürs-Volk-Operette der Nazis. Wie erwähnt bildeten sich nach 1949 in Deutschland unterschiedlichen Operettenformen in der DDR und BRD heraus. Auf diese innerdeutschen Parallelwelten wollten wir in der Ausstellung ebenfalls hinweisen und das Thema für die spätere Münchner Variante der Schau, die im vergangenen Oktober am dortigen Theatermuseum eröffnet wurde, mit einer eigenen Wand und eigenen Exponaten ausführlicher behandeln. Dazu wurde für den Katalog ein Essay beim Spezialisten RolandDippel in Auftrag gegeben, der erste große Text zum Thema überhaupt. Während nun Rezensenten viel über “Die Pornographie der Operette” und “Operette unterm Hakenkreuz” schrieben – zwei der großen Themen der Schau und zwei große Aufsätze im Katalog –, gingen sie am DDR-Schwerpunkt kommentarlos vorbei, genauso wie die berühmten deutschsprachigen Forscher, etwa Operettenpapst a.D. Volker Klotz. In seinem “Operette: Handbuch einer unerhörten Kunst” (1991/2004) wird so ziemlich alles behandelt, nur DDR-Operetten nicht.

Es gibt sie in Klotz’ Operettenuniversum einfach nicht. Auch nicht in anderen Operettenbüchern der Nachkriegszeit, sieht man von Otto Schneidereits “Operette A-Z” (1965) ab oder vom wunderbaren Katalog “Theater in Berlin nach 1945: Musiktheater”, den die Stiftung Stadtmuseum Berlin 2002 herausgebracht hat beim Henschel Verlag. Dort finden sich neben einem Kapitel zu Walter Felsenstein und seiner legendären Version von Offenbachs “Ritter Blaubart” auch zwei Essays von Ines Hahn mit den Titeln “Denn der Mensch nach Ladenschluss liebt den leichten Musenkuss” zur Operettensituation in West-Berlin sowie “Die alten Operetten vergessen machen” zur Situation im Osten. Aber sonst? Weit und breit nichts.

Nun kann man einräumen, dass die DDR aus Sicht der Österreicher weit weg ist, was den Chef des Brandstätter Verlags – wo unser Ausstellungskatalog erschien – dazu hinriss zu erklären:

“Wen interessiert schon die Operettengeschichte der DDR? Wir sind hier in Wien und haben unsere eigene Tradition!”

Er wollte deshalb den Katalogbeitrag von Herrn Dippel streichen, was nur durch Widerspruch der Kuratoren verhindert wurde. Denn wir fanden, dass eine Beschäftigung mit der DDR-Operettengeschichte überfällig sei, auch in Österreich, auch in der deutschsprachigen Operettenforschung allgemein und auch in der deutschen Presselandschaft.

 

Berlin's Metropol-Theater 1968.

Berlin’s Metropol-Theater 1968.

Bordell im Admiralpalast

Bemerkenswerterweise schienen jedoch die Feuilletonisten kein Interesse an DDR-Dingen zu haben. Ebenso wenig die Direktorin des Münchner Museums, die die neu geplante DDR-Wand auf ein lächerliches Minimum an Exponaten und Informationen reduzierte, so dass der Großteil der Fläche leer blieb und einige besonders interessante Aspekte schlichtweg nicht erwähnt werden durften. Zum Beispiel der, dass im Admiralspalast, wo das Metropoltheater nach 1955 einquartiert war, auch eines der berüchtigtsten Bordelle des Landes zu finden war, inklusive Abhöranlage. D.h. ausgerechnet im sozialistischen Teil Deutschlands wurde bis 1989 die ursprünglich von Offenbach geschaffene Nähe von Operette und Halbwelt aufrecht erhalten, im Gegensatz zur gesamten restlichen Welt, wo diese Verbindung spätestens in den 20er Jahren aufgegeben worden war. Was Teil des Themenkomplexes unserer Ausstellung war im Zusammenhang mit Offenbach und dem Paris des Zweiten Kaiserreichs, weswegen gerade dieser Aspekt in Verbindung mit der DDR-Wand die Schau thematisch abgerundet hätte.

Das Museum und seine Direktion fand das jedoch unangebracht. Man mag staunen über solche Prüderie.

Man mag auch staunen, dass heute in Theatern – inklusive jenen im Gebiet der ehemaligen DDR – kein einziger Titel des DDR-Repertoires gespielt wird. Roland Dippel, der selbst als Dramaturg am Theater Rostock arbeitet, sagt dazu: “Vor zehn Jahren schien es noch, als würde neben den regelmäßigen Einstudierungen von ‘Mein Freund Bunbury’ in den neuen Bundesländern mit den Neuproduktionen von ‘Messeschlager Gisela’ an der Neuköllner Oper und am Opernhaus Chemnitz sowie von ‘Servus Peter’ am Theater Annaberg eine Renaissance des Operetten- bzw. Musical-Schaffens der DDR einsetzen. Vor allem die Neuköllner Aufführung von Regisseur Peter Lund bewies mit Witz und einem zeitgemäßen Arrangement die Unterhaltsamkeit und Bühnenwirksamkeit des Stücks von Natschinski und fand bei einem jugendlichen Großstadtpublikum Anklang. Heute scheint es dagegen so, als ob neben der Rehabilitierung unbekannter Johann-Strauß-Operetten und Léhar-Einspielungen für DDR-Operetten kein Bedarf besteht, auch nicht an der Staatsoperette Dresden und der Musikalischen Komödie Leipzig, den beiden einzigen reinen Operettenhäusern der Gesamtrepublik, die direkt aus der Operettenpflege der DDR hervorgegangen sind und daher eigentlich eine besondere Nähe zu diesem Repertoire haben müssten.”

Die Staatsoperette Dresden unter ihrem Intendanten Wolfgang Schaller widmete sich in den letzten Jahren in Form von Tagungen vielen Operettenthemen. Nur nicht dem Thema “DDR”. Fast so, als würde man sich in Dresden für die eigene Vergangenheit schämen.

 

Klassenkampf-Opus

Während an der Staatsoperette Neueinspielungen von seltenen Strauß-Stücken entstehen, schlummern die vorhandenen Aufnahmen von berühmten DDR-Werken in den Archiven und sind – ausnahmslos – nicht auf CD erhältlich. Und das, obwohl auf diesem Aufnahmen berühmte Künstler wie Gisela May oder Reiner Süß zu hören sind, etwa in “In Frisco ist der Teufel los”, bis zur Wende eines der meistgespielten Musiktheaterwerke der DDR.

2014 steht der 100. Geburtstag vom “Frisco”-Komponisten Masanetz an. Roland Dippel hat sich als Musiktheaterdramaturg des Volkstheater Rostock für eine Neuproduktion des Stücks stark gemacht, das nach 1989 nicht mehr aufgeführt wurde. “In die maritime Soziokultur der Hansestadt würde es hervorragend passen”, sagt Dippel, “überdies setzt der Verlag Bärenreiter/Alkor auf den bevorstehenden runden Geburtstag des sich bester Gesundheit erfreuenden Komponisten. Neben Rostock, wo das Projekt aufgrund der wirtschaftlich und kulturpolitisch drastischen Situation höchstwahrscheinlich platzen wird, hat nur ein weiteres Theater vages Interesse an ‘Frisco’ bekundet.” Dabei ist diese “kritische Durchleuchtung des amerikanischen Alltags”, wie Schneidereit einst schrieb – aus Perspektive des Sozialismus – nicht nur oftmals unfreiwillig komisch für heutige Betrachter, sondern als Zeitdokument endlos faszinierend.

Und schmissig ist die Musik von Masanetz allemal, die das Geschehen rund um Alkoholschmuggler im Hafen von San Francisco mit den Mitteln der DDR-Tanzmusik ausmalt, die wie amerikanischer Jazz klingen soll.

Ein großes Klassenkampf-Opus, in dem am Ende die bösen Kapitalisten untergehen und die guten Hafenarbeiter kameradschaftlich zusammenrücken.

Schuld am gegenwärtigen katastrophalen Zustand rund um die DDR-Operette haben auch die Verlage, die nach dem Zusammenbruch der DDR die entsprechenden Titel übernommen haben. Einerseits sind die nicht daran interessiert, Studien zum DDR-Schaffen zu veröffentlichen, selbst wenn ihnen diese druckfertig angeboten werden, wie im Fall von Roland Dippel. Andererseits ergreift z.B. Schott International GmbH, der den Vertrieb des Notenmaterials von den DDR-Verlagen Henschel und VEB Lied der Zeit übernommen hat, keine Initiative zur Promotion der Werke.

 

The DVD edition of "Heißer Sommer".

The DVD edition of “Heißer Sommer”.

Heißer Sommer

“Heute, fast 24 Jahre nach Fall der Mauer, ist es so gut wie aussichtslos, DDR-Operetten zu positionieren”, meintDippel. “Einerseits ist die Hochphase der Ostalgie abgeebbt, in der Wiederaufführungen auf ein breiteres Interesse gestoßen wären. Zum anderen unterscheiden sich die Werke zu sehr von den heute populären Musicals und ihren Sujets. Die Theaterleitungen scheuen sich, die vermuteten Erwartungen ihres Operetten- und Musicalpublikums zu unterwandern.” Dem steht gegenüber, dass beim Festkonzert zum Jubiläum “100 Jahre Musikalische Komödie” im November 2012 der Block mit Ausschnitten aus DDR-Werken weit heftigeren Applaus erhielt als Ausschnitte aus bekannten West-Werken, wieDippel konstatiert. Gerade diese heute geschmähten DDR-Titel würden Operetten- und Musicalforschern auch interessante Vergleiche erlauben, wie beispielsweise die Oscar-Wilde-Adaption vom “Bunbury” als direkte Antwort auf die erfolgreiche George-Bernhard-Shaw-Adaption “My Fair Lady” gesehen werden kann, die in einem ähnlichen historischen britischen Ambiente spielt.

Oder wie “Messeschlager Gisela” eine Antwort auf das Musical “Pyjama Game” ist (mit Doris Day verfilmt), wo es ebenfalls um Mode, Arbeiter und Gewerkschaften geht, nur eben aus US-Blickwinkel.

Auch könnte man “Messeschlager Gisela” in Bezug setzen zum DEFA-Film “Heißer Sommer” von 1967, der nicht nur viele Elemente von “Gisela” weiterführt, sondern ebenfalls Musik von Gerd Natschinski enthält, die hier Schlagerstar Frank Ströbel singt. “Heißer Sommer” ist immerhin derzeit mühelos auf DVD erhältlich und erfreut sich eines gewissen Kult-Status, auch bei Zuschauern, die nicht in der DDR aufgewachsen sind. Wäre es da nicht höchste Eisenbahn, auch die zeitgleichen und inhaltlich oft ähnlichen DDR-Operetten neu bereitzustellen, aufzuführen und zu diskutieren?

Mag sein, dass unsere Wiener- und Münchner Operettenausstellung jetzt abgelaufen ist und die DDR-Wand wieder abgebaut wurde. Der Beitrag von Roland Dippel ist jedoch nach wie vor im Katalog erhältlich. Der Geburtstag von Guido Masanetz steht nach wie vor vor der Tür. Und eine umfassende Auseinandersetzung mit dem “Heiteren Musiktheater” der DDR bleibt ein Desiderat, dessen sich auch Forscher aus den alten Bundesländern problemlos annehmen könnten. Es ist ja nicht so, als würde die (Kultur) Geschichte der DDR nur ehemalige DDR-Bürger betreffen.

(This is an extended version of the article that appeared in the week-end edition of the German newspaper Neues Deutschland, 16 March 2013.)

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