Desirée Nick: Blandine Ebinger Reloaded

Kevin Clarke
klassik.com
13 April, 2017

Dass Desirée Nick eine überlebensgroße Glamourpersönlichkeit ist, die sich im Dschungel, Big-Brother-Container und im Notfall auch auf der Opernbühne mit Bravour durch haarsträubendste Verhältnisse durchschlagen kann, ist bekannt. Und mehrfach bewiesen worden. Viele Menschen bewundern sie dafür. Dass sie auch auf einzigartige Weise singen kann, ist ebenfalls bekannt, spätestens seit sie mit einem Theaterstück über Florence Foster Jenkins tourte oder in der Komischen Oper Berlin bei einer konzertanten Kálmán-Operette allen mit einer improvisierten Einlage die Show stahl. Am Theater Bremen war sie auch als Operettendiva zu bewundern im Weißen Rössl.

Désirée Nick as "Blandine Reloaded." (Photo: Markus Rock)

Désirée Nick as “Blandine Reloaded.” (Photo: Markus Rock)

Ansonsten hat sie ihr schrilles Gesangstalent wiederholt in eklektischen Liedprogrammen vorgeführt, die aber meist nur ein noch eklektischeres Comedy-Programm rahmten, statt einen eigenen musikdramaturgischen Faden zu spinnen, der über Nick selbst als Personality hinausging. Das ist mit ihrem neuen Programm Blandine Reloaded in der Bar jeder Vernunft anders. Denn: Hier widmet sich sich einem in sich geschlossenen Repertoire, dem der Chansonsängerin Blandine Ebinger (1899-1993), einer Urberliner Pflanze, die mit Friedrich Hollaender verheiratet war, im Kabarett Schall und Rauch auftrat und so berühmte Nummern wie „Die hysterische Ziege“ kreierte.

Der Tonfall und das Auftreten von Ebinger und Nick könnten nicht unterschiedlicher sein, aber das Hysterische und Durchgeknallte dieser Lieder kriegt wohl heute kaum jemand so glaubhaft hin, wie Desirée Nick. Vor allem versucht sie in ihrem zweiteiligen Programm mit Volker Sondershausen am Flügel gar nicht erst, das thematische Vorbild sklavisch zu kopieren – sie erschafft stattdessen aus der Vorlage etwas Eigenes, das ganz anders ist. Das ist große Kunst, die deutlich hinausgeht über das was Sänger wie Jonas Kaufmann oder Joseph Calleja mit ihren sogenannten Tribute-Alben gemacht haben. Die Show Desirée Nick: Die letzte lebende Diseuse ist zwar auch ein Tribute-Abend, aber er krämpelt das Diseusenfach um. Radikal. Und erfindet es quasi neu. Dies wiederum erlaubt eine Neuentdeckung der Lieder von Hollaender, Lothar Olias, Kurt Weill, Günter Neumann und all den anderen.

Nick hat keine so ‚angenehme‘ Stimme wie Ebinger. Sie ist keine Easy-Listening-Sängerin, sondern überschreiten Schmerzgrenzen. Aber gerade bei diesen Grenzgängen wird man gezwungen, richtig zuzuhören. Und sich klar darüber zu werden, worum es in diesen Texten wirklich geht. Zum Beispiel in der Arie der Lucy aus der ‚Dreigroschenoper‘ oder in ‚Was zieh ich heute an‘ (von Pierre Montral). Allerdings findet Nick – neuerdings – auch andere Töne, die tiefer liegen und durchaus einschmeichelnd sind, als eine Art verführerischer Sprechgesang. Da gurrt die Stimme, da ist sie kuschelweich. Nur um den Hörer ohne Vorwarnung aus dem Trance herauszureißen.

Das funktioniert nicht auf einer CD, aber es funktioniert als optisch-akustisches Gesamterlebnis.

Von Gesamterlebnis gesprochen: Natürlich singt Desirée Nick die bekannten Lieder nicht nur, wie das andere Chansonsängerinnen in minimalistischen Konzerten auf leerer Bühne tun, sondern die erfindet mit Hilfe von Regisseur Alexander Doering eine Bühnenpersona, die Music Hall und Vaudeville-Elemente nutzt, um die vergangene Welt der Berliner Halbweltbars und Kaschemmen auferstehen zu lassen. Da wirkt Nick manchmal wie ein Wesen aus einer anderen – großen! – Zeit, das plötzlich mitten auf dem Parkdeck in Wilmersdorf im Spiegelzeit gelandet ist. Ja, diese Show macht ihr so schnell niemand nach. Und ja, das Lied ‚Des alten Knaben Wunderhorn‘ von Günter Neumann verwandelt sie mit weißem Schlüpfer und heraushängendem Mini-Dildo in eine Groteske, die über alles hinausgeht, was sich Neumann vermutlich in seinen kühnsten Träumen beim Texten und komponieren vorgestellt hat.

Diese Form der Dekonstruktion, dieser Mix aus Nostalgie, beißender Satire, Unter-der-Gürtellinie-Humor und einer spürbaren Liebe zu dieser Musik wirkt ungeheuer. Auch ungeheuer modern. Und es ist ein Ansatz mit diesem Repertoire umzugehen, der vielleicht origineller ist, als das Zwanziger-Jahre-Konzert von Anne Sophie von Otter, das die Komische Oper für nächste Saison angekündigt hat. Selbstverständlich singt von Otter schöner, aber sie ist eben nicht die Berliner Göre, sie veredelt das Repertoire nur. Nick verweigert sich jeder Veredelung. Und das ist das eigentlich Revolutionäre.

Neu sind, wie erwähnt, die leisen Töne: etwa in “Das Zersägen einer lebenden Dame” oder “Wenn ich mal tot bin”. Und sie traut sich auf vollkommen politisch inkorrekte Weise die Urfassung von Hollaenders “Johnny” zu singen, wie es Ebinger selbst tat – und wie es Marlene Dietrich nicht tat.

Kurz: Dieser Abend ist ein Ereignis. Und in Erwartung eines solchen Ereignisses war bei der Premiere wirklich ganz Berlin anwesend, vom ehemaligen Regierenden bis zu Wolfgang Joop und Romy Haag. Ein älteres Ehepaar an meinem Tisch hatte Nick unlängst in der Berliner Abendschau zu diesem Ebinger-Programm sprechen hören und sich sofort Karten gekauft: sie waren ebenso begeistert wie die vielen geladenen Gäste. Nach den zwei Wochen en suite in Berlin wird eine Tournee folgen.

Désirée Nick in "Die letzte lebende Diseuse." (Photo: XAMAX)

Désirée Nick in “Die letzte lebende Diseuse.” (Photo: XAMAX)

Übrigens: Blandine Ebingers letzter Ehemann, Helwig Hassenpflug, war auch dabei und erzählte auf der Premierenfeier neben diversen privaten Anekdoten, dass ihn Desirée Nick beeindruckt habe. Mehr Kompliment geht kaum, möchte man meinen. Und ich persönlich freue mich, dass Nick nun gezielt solche Themenabende macht, die eine Antwort auf Dagmar Manzels Hollaender-Programm sind oder Katharine Mehrlings Piaf-Abend. Der Klassikbetrieb kann hier durchaus Abwechslung und neue Akzente gebrauchen.

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