“Der Krimi geht weiter. Noch immer lässt die Offenbach-Philologie viele Fragen offen”

Boris Kehrmann
Opernwelt 2012/5, S. 68-69
1 May, 2012

Gehört Offenbach nicht allen? Auch Jean-Christophe Kecks Offenbach-Edition lässt Fragen offen. Ein Versuch, einige zu klären.

Offenbach_1876

Jacques Offenbach in 1876.

Die Offenbach-Philologie ist eine Katastrophe. Wer wissen möchte, in welcher Form der Meister seine Werke niederschrieb, greift seit 1999 zur vom Verlag Boosey & Hawkes so genannten «Kritischen und praktischen Ausgabe» von Jean-Christophe Keck. Die Bezeichnung macht stutzig. Eine praktische Ausgabe macht Theatern ein Werk in spielbarer Form zugänglich. Eine historisch-kritische Ausgabe druckt alle erreichbaren Quellen so ab, wie sie überliefert sind – ungeachtet ihrer Aufführbarkeit. Eine «kritische und praktische Ausgabe» ist also ein Ding der Unmöglichkeit. Schlägt man die Kaufpartitur von «La vie parisienne» in der Offenbach-Edition Keck (OEK) auf, stolpert man gleich über die «Ouverture de concert (Version de Vienne)» und die Angabe, dass die «Instrumentation von Jean-Christophe Keck für die Pariser Orchesterbesetzung bearbeitet» worden sei. Warum «Konzertouvertüre»? Der Kritische Bericht, der aus Kostengründen nur als CD-ROM beiliegt, gibt keine Auskunft. Wie sieht Offenbachs Originalinstrumentation aus? Auch darüber schweigt er sich aus. Welche Quellen gibt es und wo liegen sie? Das Quellenverzeichnis nennt zwei Partiturabschriften der Wiener Fassung im Verlagsarchiv Bote & Bock, Berlin, und in der Privatsammlung Keck. Die Rekonstruktion der Pariser Fassung von 1866/67 beruht auf gedrucktem Orchestermaterial. Blieb die Instrumentation der Fassungen Brüssel 1867 und Paris 1873 unverändert, wie die Kaufpartitur suggeriert, aber nirgends erläutert?

Wer sich unter dem Wust der Offenbach-Bearbeitungen zum Original durcharbeiten möchte, kommt früher oder später an den Punkt, wo er sich entweder mit dem Verlag in Verbindung setzen muss, um sich Leihpartituren der unterschiedlichen Fassungen von Offenbachs Hand zu beschaffen, oder sich gleich an Jean-Christophe Keck wendet.

Das Erste, was einem auf den Nägeln brennt, ist die Frage: Wie hat Offenbach seine Werke hinterlassen? Offenbach, erläutert Keck, habe alle seine Partituren penibel gehütet. Sie waren sein Kapital. Es gibt viele Briefe an seine Verleger, in denen er die Rückgabe der zum Kopieren überlassenen Manuskripte fordert. Nach seinem Tod ordnete und verzeichnete sein Sohn Auguste, selbst Musiker, den kompositorischen Nachlass und ließ alle losen Blätter mit Einlagearien, Skizzen, aus den Manuskripten entfernte, gestrichene Teile oder Alternativfassungen binden. Auguste starb 1883. Nach dem Tod seiner Mutter vier Jahre später kam es zum Streit zwischen den vier Töchtern Offenbachs um die Manuskripte. Die jüngste, Jacqueline, verheiratete Cusset, nahm sie an sich, leugnete es aber, um Begehrlichkeiten abzuschmettern, und hielt sie bis zu ihrem Tod 1936 geheim. Erst nach dem Tod ihrer Tochter lüftete deren Gatte das Geheimnis und verteilte die Partituren unter die Nachkommen der Offenbach-Töchter: die unter einander verfeindeten Familien Comte, Chastenet, Tournal, Brindejoint und Cusset. Die Familien Comte und Brindejoint stellen Keck und damit der OEK alle Quellen in ihrem Besitz zur Verfügung. Die für die Offenbach-Überlieferung zentrale Familie Cusset – sie besitzt einen Großteil der zwischen 1871 und 1881 entstandenen Werke – verweigert jede Einsichtnahme. Das könnte auf den Einfluss des bedeutenden Offenbach-Sammlers und Dirigenten Antonio de Almeida (1928-1997) zurückgehen, zwischen dem und dem parallel recherchierenden Keck es nach anfänglichen Kontakten zum Bruch kam. De Almeida verkaufte seine umfangreiche Offenbach-Handschriftensammlung 1989 an das Stadtarchiv Köln, wo sie zusammen mit der «größten Offenbach-Sammlung der Welt» (Keck) am 3. März 2009 im Untergrund verschwand. 35 % des Offenbach-Bestandes von 2342 Katalognummern sind bisher in der Bergungsdatenbank als gerettet erfasst.

Dort, wo Keck der Zugang zu den Handschriften verwehrt ist, greift er auf die Orchesterstimmen zurück, die zu Offenbachs Lebzeiten auf den Notenpulten der Theater lagen. Sie fanden sich teils bei Verlagen und Antiquariaten, teils noch bei den Theatern (München, Brünn) oder den Bibliotheken, die deren Archive übernahmen (Wien).

Offenbachs «Vie parisienne»-Manuskript besaß der Dirigent Richard Bonynge, der Keck die Einsicht verwehrte, weil er selbst eine Ausgabe machen wollte. Über einen französischen Käufer kam es schließlich in den Besitz der Juilliard-School New York, wo es nun zugänglich ist. Ihm ist zu entnehmen, dass der Komponist für das größere Wiener Orchester seine Pariser Urschrift einfach um einige Instrumentalstimmen ergänzte – für solche Fälle ließ er immer Systeme im Manuskript frei. Der Blick in die Handschriften zeigt, dass genau so wenig Anlass besteht, Offenbach zu bearbeiten wie Mozart oder Beethoven. Auch wenn eifersüchtige Erben und Forscher die Theater seit nunmehr 130 Jahren durch Verschluss seiner Partituren zwingen, Surrogate herzustellen.

Quelle: “Der Krimi geht weiter. Noch immer lässt die Offenbach-Philologie viele Fragen offen”, in: Opernwelt 2012/5, S. 68-69

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