Kevin Clarke
Operetta Research Center
26 June, 2015
Vielleicht ist es Ihnen ja auch schon mal so gegangen: Bei der Lektüre von Texten zur Ur-Operette – also der Frühphase des Genres von zirka 1850 bis 1880 – fällt auf, dass sich zwischen den allgegenwärtigen Lobeshymnen auf die Offenbachiade („französische Musik mit einem Voltaire’schen Geist, frei, übermüthig, mit einem kleinen sardonischen Grinsen, aber hell, geistreich bis zur Banalität […] und ohne die mignardise [= Finesse, Anm.] krankhafter oder blondwienerischer Sinnlichkeit“[1]) immer wieder Verweise aufs „Sittengefährdende“ und „moralisch Verwerfliche“, aufs „Liederliche“ und „Skandalöse“ der neuen Gattung finden. Verweise, die so ganz und gar nicht zum Idealbild passen wollen, das die Operettenforschung von ihrer Lieblingsspielart dieser Musiktheaterform zeichnen will.
Diese kurzen Verweise, oft in Nebensätzen, deuten darauf hin, dass es eine andere Form der Ur-Operette gab, als die, von der wir heute bei Volker Klotz & Co. lesen, oder anders gesagt: es gibt eine andere Möglichkeit, sie wahrzunehmen, sie zu interpretieren und sie vielleicht heute wieder zu spielen. Nämlich nicht als „Volkstheater“[2] und Unterhaltung für „das Publikum der breiten Masse“[3], nicht als „liberté, égalité, fraternité“, sondern als elitäre Veranstaltung für Großstadtsnobs und historische Hipster jenseits der heteronormativen Gesellschaftsordnung.
Um das klarzustellen: Ich möchte nicht behaupten zu wissen, wie genau die Operettensituation in Paris, Wien, Berlin, London oder New York in jenen Jahren war, in denen sich die neue Form des musikalischen Unterhaltungstheaters, die wir heute „Operette“ nennen, rasend schnell verbreitete. Aber es scheint mir notwendig, auf den alternativen Blickwinkel hinzuweisen und die Schlagworte ernst zu nehmen, die man in historischen Quellen findet. Um sie in die kritische Diskussion rund ums Genre einzubauen.
Dass mir diese versteckten Verweise aufgefallen sind, liegt vermutlich daran, dass ich als Mitglied der LGBTQ-Community früh lernen musste, auf Codes zu achten und sie als Zeichen zu deuten, die auf eine andere Welt verweisen – Dorothys berühmtes „Zauberland von Oz“, jenseits des Regenbogens. Einige der regenbogenbunten Zeichen möchte ich Ihnen heute präsentieren und fragen: Was sagen sie aus über das ursprüngliche Publikum der Ur-Operette? Welche Bedürfnisse dieses Publikums wurden von den Stücken und der Art ihrer Aufführung befriedigt? Und: Wieso werden diese Hinweise, die wir kennen und die sich problemlos in wissenschaftlich aufbereiteten Ausgaben finden, nicht nachdrücklicher in die Diskussion rund um die Operette eingebaut?
Ich möchte mich auf fünf Operettenzentren konzentrieren und auf Aufführungen der Werke Hervés sowie Jacque Offenbachs in Paris, Wien, Berlin, London und New York. Und Ihnen dabei einige Quellen vorstellen, die meiner Meinung nach bislang zu wenig Beachtung gefunden haben.
PARIS: DIE BLONDE VENUS
Fangen wir mit Paris an und mit einer der erstaunlichsten Quellen überhaupt: Émile Zolas Roman Nana von 1880. Die dort erzählte Geschichte spielt nicht nur im berüchtigten Halbweltmillieu des Zweiten Kaiserreichs der 1860er Jahre, sondern auch im Theater. Um genau zu sein, im Théâtre des Variétés, wo einige der erfolgreichsten Offenbach-Operetten uraufgeführt wurden mit Hortense Schneider in der Hauptrolle. Es fällt nicht schwer, in der beschriebenen Aufführung der fiktiven Operette „Die blonde Venus“ eine Kreuzung aus Orpheus in der Unterwelt und Die schöne Helena zu erkennen. Und besonders Nana als eben jene blonde Venus hat klar erkennbare Züge von „La Snédèr“ in dieser Rolle. In der Einleitung zu Penguin-Classic-Ausgabe von 1972 schreibt George Holden:
Zola had decided that Nana’s career should be closely associated with the theatre, and that the novel should open with a first night at the Variétés. He himself had come to know the world of the theatre at close quarters [...] but he did not know enough as yet about theatrical life in general and the Variétés in particular; and for the information he wanted he turned to Ludovic Halévy,Offenbach’s brilliant librettist, who was an ardent admirer of L’Assommoir and had offered to help him to the best of his abilities. Halévy not only took him on 15 February 1878 to the Variétés, to see an operetta called Niniche by Alfred Hennequin and Albert Millaud. At the theatre he entertained Zola with the story of the marital and amorous life of the star, Anna Judic, whose husband, a sometime shop-assistant, had once fought her lover Millaud in the wings of the Bouffes, but now winked at the liaison and devoted his life to managing her affairs and caring for their two children. Zola avidly noted down the details [...] and he looked and listened just as eagerly during the intervals, when Halévy took him backstage and showed him the dressing-room where in 1867 Hortense Schneider, dressed as the Grand Duchess of Gerolstein, had ceremoniously received the Prince of Wales. [4]
Auch wenn viele Details aus dem Roman auf Judics Leben basieren, so ist die Darstellung der blonden Venus – die sich vorm Publikum nackt zeigt und die Männerwelt in einen Zustand geiler Lust versetzt – doch deutlich auf Schneider gemünzt; genau wie die ganze Szene des Empfangs des Prinzen von Wales in der Garderobe.
Und hier komme ich auch gleich zu mehreren der eingangs erwähnten Schlagworte, die mich als Leser stutzig machten und die das Bild einer ‚anderen‘ Form von Operette kreieren, als allgemein geläufig. Denn der Direktor des Théâtre des Variétés, im Roman Bordenave genannt, spricht von seinem Haus mehrfach als „Bordell“, in das man geht, um vor, während und nach der Vorstellung Damen kennenzulernen – im Zuschauerraum, in den Garderoben und am Bühneneingang. Auch die Beschreibung von Nanas Auftritt macht stutzig:
Inzwischen hob der Kapellmeister seinen Geigenbogen, und die Musiker stürzten sich in die Ouvertüre. Noch immer kamen Leute herein, die Erregung und das Gepolter nahmen zu. Unter diesem ganz besonderen Premierenpublikum, das stets dasselbe war, bestand eine Art alter Bekanntschaft, einander zulächelnd traf man sich wieder. Ständige Besucher mit dem Zylinder auf dem Kopf benahmen sich ganz ungeniert und tauschten Grüße aus. Ganz Paris war da, das Paris der Literatur, der Finanz und des Amüsements, viele Journalisten, ein paar Schriftsteller, Börsenleute und mehr Halbwelt als anständige Frauen; es war eine eigenartig gemischte Gesellschaft, aus allen Geistesschattierungen zusammengesetzt und von allen Lastern verdorben, Leute, auf deren Gesichtern dieselbe müde Blasiertheit und dieselbe Lebensgier lag. [...] In diesem Augenblick teilten sich die Wolken im Hintergrund, und Venus erschien. Nana, groß, sehr üppig für ihre achtzehn Jahre, trat in ihrer weißen Göttinnentunika mit langem blondem Haar, das aufgelöst die Schultern umfloß, sicher und gelassen an die Rampe vor und lachte ins Publikum. [...] Als ihr Couplet auf den Schluß zuging, blieb ihr vollkommen die Stimme weg, und sie begriff, daß sie nie zu Ende kommen würde. Da gab sie sich einfach in aller Ruhe einen Ruck mit den Hüften, wobei sich unter der dünnen Tunika alle Rundungen markierten, verneigte sich mit wogender Brust und breitete grüßend die Arme aus. Lauter Beifall brach los. Sofort wandte sie sich um und trat zurück; dabei zeigte sie ihre Hinterfront, auf die das rotblonde Haar wie die Mähne eines Tieres herabfiel. Und der Beifallssturm wurde rasend. [...] Auf das Stück selbst kam es übrigens kaum an; vor allem sprach man von Nana. [...] ‚Es ist ja ekelhaft, daß das Publikum die erstbeste Schlampe so aufnimmt. Bald wird es gar keine anständigen Frauen mehr beim Theater geben….’ [sagte Mignon.] [5]
Etwas später tritt Nana nochmals auf. Und für mich ist dies eine der zentralen Stellen der gesamten Operettenliteratur, weil wir hier etwas über die ursprüngliche Wirkung und Eigenart des Genres erfahren und darüber, wie es damals gespielt wurde (man versteht schnell, wieso es so rasend populär wurde):
Ein Schauer durchrieselte den Saal. Nana war nackt, nackt mit einer gelassenen Frechheit, der Allgewalt ihres Fleisches sicher. Nichts als ein Gazeschleier umhüllte sie; ihre vollen Schultern, ihr Amazonenbusen, dessen rosige Spitzen aufgerichtet und steif wie Lanzen standen, ihre breiten Hüften, die sich wollüstig hin und her wiegten, ihre strammen blonden Schenkel, kurz ihr ganzer Leib zeichneten sich ab und schimmerten durch das dünne Gewebe wie weißer Schaum. Das war Venus, die aus den Wogen steigt und keine andere Hülle trägt als ihr Haar. Und als Nana die Arme hob, sah man im Rampenlicht die goldenen Haare in ihren Achselhöhlen flimmern. Niemand klatschte. Niemand lachte mehr. Die Gesichter der Männer spannten sich; schmalnasig, mit zuckendem, ausgetrocknetem Mund starrten sie auf die Bühne. Es war, als striche ein Hauch vorbei, ein leiser Wind, der eine dumpfe Drohung mit sich führt. Da erwachte auf einmal im unschuldigen Kinde aufwühlend die Frau, Nanas Geschlecht schlug die Männer mit Wahnsinn und riß unbekannte Abgründe der Gier vor ihnen auf. Sie lächelte immerzu, jetzt aber mit dem geilen Lächeln des männerfressenden Weibes. [6]
Der Verweis auf das Publikum („Ganz Paris war da, […] mehr Halbwelt als anständige Frauen; […] eine eigenartig gemischte Gesellschaft, aus allen Geistesschattierungen zusammengesetzt und von allen Lastern verdorben“) entspricht durchaus dem, was man unter anderem in Meyers Konversations-Lexikon, Ausgabe von 1877, lesen kann: „[D]ie meisten [von Offenbachs Operetten] aber, wie z.B. ‚Orpheus in der Unterwelt‘, ‚Genoveva‘, ‚Die Seufzerbrücke‘, ‚Die schönen Weiber von Georgien‘, ‚Die schöne Helena‘ u.a., […] sind […] so vom Geiste der Demi-monde durchsetzt, daß sie mit ihren schlüpfrigen Stoffen und sinnlichen, zumeist trivialen Tonweisen eine entschieden entsittlichende Wirkung auf das größere Publikum ausüben müssen.“[7] Aber es war natürlich nicht das „größere Publikum“, das in Offenbachs Theater saß. Sondern es war „die Clique der mit den großen Kurtisanen liierten Lebemänner“, wie Siegfried Kracauer in Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit bemerkt:
Annähernd hundert fashionable Herren, die fast durchweg der Aristokratie entstammten und eine unbedingte Autorität in allen Fragen des mondänen Verhaltens besaßen. Ihre Frivolität äußerte sich darin, daß sie die Verachtung, die sie für die Bourgeoisie empfanden, durch ein Dasein bekundeten, das sich absichtlich über die bürgerlichen Konventionen hinwegsetzte und ernste Arbeit ausschloß. In ihren Reihen befanden sich manche Offiziere der kaiserlichen Gardekavallerie, die kraft des Doppelglanzes ihrer Uniformen und ihres gesellschaftlichen Ranges einen unwiderstehlichen Reiz auf die Halbwelt ausübten. [8]
Kracauer fährt fort: „Um diese Elite scharte sich ein Haufen reicher Jünglinge, die sich, ehe sie sich rangierten, erst einmal ein paar Jahre ausleben wollten und gierig ins Licht flatterten. Sie verbrannten sich oft. Im Kontingent der Ausländer, sie sich unter die Lebewelt mengten, hatte der russische Aristokrat die Vorherrschaft. [9]
Man kann diese Aufzählung Kracauers vergleichen mit einem tatsächlichen Premierenbereit, der sich 1867 in den Londoner Daily News findet. Da heißt es, anlässlich des Auftritts von Cora Pearl – der berühmtesten Kurtisane des Zweiten Kaiserreichs – als Cupido in Offenbachs Orpheus im Théâtre des Bouffes-Parisiens:
Cora Pearl is an English-woman, and one of two claimants to be the original Anonyma. For some years past she has been what is called a célèbrité in Paris. It is said that she keeps 12 horses in her stables. She is a good whip, and her ‘success’ is in great part attributed to her frequent appearances in the Bois de Boulogne, driving herself in variously constructed carriages and in infinite varieties of fast costumes. The management of the Théâtre des Bouffes, which has been in difficulties, was as much surprised as rejoiced a short time ago to receive an offer from Miss Cora Pearl to appear as ‘Love,’ in a costume as near approaching to the realistic notion of the character as the inspecteur des moeurs could be persuaded to allow. It would appear that this functionary did not show himself severe on the occasion, for the reports say that Mdlle. Cora Pearl was dressed in a diaphane [sic] costume, ‘qui commence bien au dessus du génou pour se terminer bien au dessous de la poitrine et se prête dans l’intervalle aux explorations les plus audacieuses.’ The attraction was the see by strong gaslight and the aid of opera-glasses, on vulgar stage-boards, the real form and features of a personage whom the non-privileged public had only been wont to admire in the manifold amplifications of skirts and crinoline. This attraction – such are the manners of modern Paris – raised the prices of the most uncomfortable single seats to two Napoleons, of certain boxes – and the boxes in the Lilliputian Bouffes Theatre are all very small – to 20l., and of stalls to 6l. A frisson d’attente, we are told, awaited the appearance of the débutante, who came forward with her stays and slippers – almost her only clothing – glittering with diamonds. The fine fleur of French aristocracy attended the performance, but so much pudeur yet remains in Paris that the ladies in the audience belonged exclusively to the demi-monde. Among the princes, ambassadors, dukes, marquises, &c, belonging to the fine fleur aforesaid, the reporters remarked: Prince Napoleon, who sat in a private box, le Duc de Mouchy, le Prince Achille Murat, le Prince d’Arenberg, le Prince Mustapha-Pacha, le Marquis de Scepeau, le Vicomte Daru, the Duke of Hamilton, le Duc de Caumont la Force, le Marquis de Canx, le Prince de Sagon, le Duc de Rivoli, Nigra, Amassador of Italy, le Marquis de Mornay, le Duc d’Acquaviva, […] &c., and all the representatives of the Paris press. [10]
Man kann von diesem Auftritt – und dem, was bei Zola beschrieben wird – sicher nicht als „Volkstheater“ sprechen, in das Handwerker und der Mittelstand nach der Arbeit strömten. Allein schon deshalb nicht, weil für den Besuch der Bouffes-Parisiens die gleiche Kleiderordnung wie an der Großen Oper galt: schwarzer Frack, weiße Krawatte, weiße Handschuhe, Blumen im Knopfloch. Worauf übrigens Peter Hawig in seinem Essay „Offenbachs Bouffes-Parisienes: Ein Knotenpunkt nicht nur des französischen Musiktheaters“ hinweis, ohne die Tatsache, dass dieses Publikum aus Mitgliedern des notorischen Jockey-Clubs bestand und dem Umstand, dass Bouffes-Premieren „ultra-élégant“-Affären waren, irgendwie in seine Interpretation der Werke (oder des Komponisten) einfließen zu lassen. [11]
Dieses Publikum, das sich über die Bourgeoisie und seine moralinsauren Moralvorstellungen lustig machte, wurde von den Schöpfern der Ur-Operette auf besondere Weise bedient mit Stücken, die die gängige Gesellschaftsordnung und deren Moral auf den Kopf stellen – in Form von aberwitzigen, sexuell befreiten Grotesken. Als 1861 Offenbach höchstselbst mit seinen Bouffes Parisiens und Orphée in Wien gastierte, mit Uraufführungsstar Lise Tautin als besonderer Attraktion, urteilte ein Wiener Kritiker: „Die Spielweise ist meistens derb bis zum äußersten [...]. Im Tanz sahen wir die tollsten Ungebundenheiten.“ Die offizielle Presse war über die enthemmte Form der Ur-Operette entsetzt, musste aber zugeben, dass gerade „der bis zum Exzeß gesteigerte Cancan“ viel Beifall erntete. [12] Denn speziell diese bis zum Exzess gesteigerte Form der Operette war es, weswegen das exklusive Publikum ins Theater strömte. Es war auch der Grund, warum sich Widerstand „der Zensur und der auf die ‚allgemeine Sittlichkeit’ bedachten Kreise gegen die Pariser Stücke“ regte. [13] Was die Werke bei den nicht auf Sittlichkeit bedachten Kreisen nur umso populärer machte.
BERLIN & WIEN: DECENTE AUSKLEIDUNGSSCENEN
Diese nicht auf Sittlichkeit bedachten Kreise gab es nicht nur in Paris, sondern auch in Wien, Berlin, London und New York. In all diesen Städten wurden die Ur-Operetten schnell nach Pariser Vorbild nachgespielt: mit florierender Nacktheit, mit Halbweltdamen auf und vor der Bühne, mit einem zahlungskräftig Herrenpublikum als Trägern der Veranstaltungen.
Die erste Wiener Helena, Marie Geistinger, war von Offenbach persönlich aus Berlin geholt worden, wo sie am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater 1860 bei der Berliner Erstaufführung des Orpheus mitgewirkt hatte. Ihre Spezialität war es, „als besondere Attraktion auf der Bühne einige Hüllen fallenzulassen“, wie Marion Linhardt in ihrem Buch Inszenierungen der Frau – Frau in der Inszenierung bemerkt.[14] Sie zitiert Marie Geistinger, die selbst sagte: „Im Jahr 1863 spielte ich in Berlin in der Posse ‚Mamsell Übermuth‘, in welcher eine decente Auskleidungsscene enthalten ist. Offenbach war im Theater. Er kam im Zwischenact auf die Bühne und sagte zu mir: ‚So schön und discret habe ich noch nie Jemanden auskleiden sehen; in meiner nächsten Operette lasse ich für Sie eine solche Scene schreiben.‘“[15]
Das Wort „discret“ findet man in Wiener Kritiken zu Operettenerstaufführungen der Zeit häufig. Man darf nicht vergessen, dass die europäische Presse – anders als die amerikanische – der Zensur unterworfen war und deshalb Journalisten nicht schreiben konnte, was wirklich geschah. Schon gar nicht, wenn (wie im Fall der Operette) Mitglieder des Kaiserhauses Aufführungen besuchten. Weswegen mit „Codes“ gearbeitet wurde. Als Geistinger in Wien die Helena sang, nannte sie die Wiener Zeitung eine „höchst routinierte Schauspielerin“ und „leidliche Sängerin“, die imstande sei, „ein Stück zu ‚tragen’“. Das Blatt preiste als „unschätzbar“, dass Geistinger auf „feine discrete“ Weise jene „bedenklichen Stellen“ vortrug, die durch „grelle Accente und wohlgefällige Ausmalung“ leicht „widerwärtig zu machen“ seien. Ansonsten wurde an der Produktion hervorgehoben, dass sich „einzelne Damen“ durch ihren „tadellosen Körperbau“ verdient gemacht hätten in einem Stück voller „derbe[r] Zweideutigkeiten“, in dem „in verschiedenem Sinne florierend[e] Nacktheit“ vorkäme – die das Publikum angeblich „gelangweilt“ habe.[16]
Dieses gelangweilte Publikum in den Logen der großen Operettenbühnen Wiens und Berlins stand in einem „widerlichen Connex“ mit „einzelne[n] Damen des Theaters“, wie es bei Junius Novus in den „Theater-Episteln“ mit Blick aufs Kaitheater heißt.[17] Auch das Fremdenblatt redet moralisch abfällig von „einer gewissen Sorte von Publikum“, das sich dort [im Theater am Franz-Josefs-Kai] versammle.[18] Es war kein Volkstheaterpublikum, stattdessen fiel „das Interesse hoher und höchster Mitglieder des Kaiserhauses an den Premieren Offenbachscher Werke“ auf, die sich bis 1860 am Carltheater und dann am Theater am Franz-Josefs-Kai in glänzendem Rahmen abwickelten“, wie Linhardt schreibt.[19] Kein Wunder, dass bei solchem Patronat das Carltheater in der Praterallee (in der „feinsten Gegend des II. Bezirks“) „zum Lieblings-Versammlungsort der Geldaristokratie und derjenigen, welche erst danach strebten, zu derselben gezählt zu werden“ avancierte.[20] Es versammelten sich dort neben den Mitgliedern der kaiserlichen Familie jene Zirkel, die sich nach den Aufständen von 1848 neu etabliert hatten: „Die Finanzwelt, der wohlhabende Mittelstand, die im Sonnenschein des volkswirthschaftlichen Aufschwungs sich pilzartig vermehrenden Parvenus der Börse und die üppig in die Halme schießende Halbwelt, welche ihren Luxus in der vanity fair der (Prater-)Hauptallee zur Schau stellten“, wie die Illustrirte [sic] Zeitung bemerkte.[21]
Für dieses zwischen verschiedenen Bühnen pendelnde Publikum der „Theaterhabitués“ („jene Gruppe von männlichen Theaterbesuchern aus dem Bereich von Militär, Adel und Kunst, die [...] dem jeweils Aktuellen und Pikanten auf der Spur blieben“[22]) stand in jenen Jahren zweifellos der Aspekt des modischen, großstädtischen Amüsements im Vordergrund, wenn es in die aus der mutmaßlichen Metropole der Pikanterie importierte Stücke Offenbachs strömte.
Auch wenn „hyperprüde Denunzianten“ energisch das Verbot solcher „Prostitution auf der Bühne“[23] verlangten, lief die Helena und andere Stücke Offenbachs in Wien weiter und weiter. In der Margaretenstraße machte sogar ein Kaffeehaus auf, das sich „Zur schönen Helena“ nannte: „Auf den Spiegelscheiben war ihre [Marie Geistingers, Anm.] Figur in allen möglichen und unmöglichen Posen eingeätzt. Das lebensgroße Bildnis der Helena hing dort, auf der Rückseite hatte der Maler die Geistinger – nackt hingemalt. Ein wilder Verehrer der Künstlerin schoß deswegen zwei Pistolenkugeln gegen dieses schöne Ölgemälde“, berichtet Pirchan[24], auf dessen Biografie Geistinger als Helena in eben diesem Ölgemälde mit grünlich-blauer Tunika auf dem Umschlag zu sehen ist.
Die Nacktheit der Darstellerinnen à la Nana betont auch Bertha Glöckner, die sich an eine Aufführung mit Geistinger erinnert: „Heute sehe ich noch diese Helena vor mir, in ihren durchsichtigen Tarlatangewändern, ich sehe ihre junonische Gestalt, ihre klassischen Beine, ihr reizvolles Profil mit dem leicht ironischen Lächeln um den Mundwinkel. Wenn sie den Paris bei der ersten Begegnung mit der ihr eigenen schwungvollen Handbewegung begrüßte und dann anlorgnettierte, wenn sie in der Traumszene die Tunique abwarf … das war ein Bild unnachahmlicher Grazie.“[25] Kein Wunder, dass Offenbach nach der Premiere entzückt äußerte: „Voilà la belle Hélène de mes rêves!“[26]
LONDON: CRUISING THE ALHAMBRA
Die Zustände in anderen Metropolen waren nicht viel anders. Auch London erlag dem besonderen erotischen Reiz der Ur-Operette. Und wieder war es nicht das allgemeine Publikum, sondern ein aristokratisches Herrenpublikum. Über das gibt die Sängerin Emily Soldene ausführlich Auskunft in ihrer Autobiografie My Theatrical and Musical Recollections, die sie 1896 in England veröffentlichte und damit einen Skandal auslösten, weil sie unbefangen von all jenen Vorgängen berichtet, die normalerweise in der Presse aus Zensur- und Anstandsgründen weggelassen wurden.
So findet sich beispielsweise ein Hinweis auf einen Auftritt von Hortense Schneider in London im Jahr 1870, wo sie als Großherzogin von Gerolstein zu sehen war.
Crowded stalls and the rest of the house all but empty, speak better than any word of ours the relative opinions of the upper and middle classes on the subject of decency. It is quite clear that the middle classes are jealous of hurting the modesty of their wives and daughters, and it seems equally certain that in the aristocratic circles these delicate little attentions are not so much considered. Young men and maidens laugh and chaff together, and do not hesitate to discuss the naughtiness of Madame Schneider and to compare notes on the doubles entendres with which the opera of The Grand Duchess is filled. These are surely queer times. As for the fascinating actress herself whose name travelled the length and breadths of Europe during the famous Paris Exhibition year, and who encouraged by the smiles of the crowned heads, and the enthusiastic applause of the not over-refined Parisians, grew more daring, more suggestive, and more unblushing with each successive performance, she has at last made up her mind that London and Paris are not widely separated regarding morality. […] The same feeling of recklessness and abandon seems to inspire the whole company this year. What matter though they empty the pit and gallery, decimate the dress circle, and make the upper boxes a howling desert. The stalls are full, and the stalls are a guinea, and the stalls do not mind how much raciness they get for their money. The middle classes might object to the modus Mabille of Madame Schneider. The upper classes think it all good fun. Accordingly, the ‘can-can’ is an extravagant riot, and very few in the cast do not follow the wild and reckless lead of the pretty lady with the slashing whip. […] Lightness, sparkle, recklessness, high spirits, all these things we get in abundance. There is only one thing wanting and that is – respect for the audience. But perhaps the audience does not care to be respected. Who knows? [27]
In London war der Operetten-Wahn bereits vorher ausgebrochen. Offenbach war mit seiner Truppe 1857 in England aufgetreten, danach spielten verschiedene Music Halls seine Werke, u.a. die Oxford Music Hall, wo 1864 Orphée aux enfers mit Emily Soldene als Venus herauskam. In diesen Music Halls fand Offenbach nicht nur die idealen Darsteller für seine Werke, sondern auch ein ideales Publikum. Eine der Music Halls war das Alhambra am Leicester Square: „The audience at the Alhambra was, like its stage, its auditorium and its corps de ballet, a large one, with varying purposes in their visits“, schreibt Kurt Gänzl. „And not all of these purposes had to do with music. […] The ballet-girls were considered prime prey by the more libidinous young and not so young men-of-the-town. But if you couldn’t catch a ballet-girl [….] the Alhambra also had the most notorious promenade in town, a walkway – more of a strollway, really – at the back of the auditorium stocked with the usual array of prostitutes for all seasons.“ [28]
Eine dieser Prostituierten war Mabel Grey. Von ihr schreibt Soldene: „[She] sat every night [in her box] and received her courtiers; she was tall, slender, fragile, elegant, refined, and wore outrageously costly but perfect toilettes and some of the best diamonds in London.” Soldene nennt Miss Grey „the most notorious, extravagant, vampirish demi-mondaine of the day”. [29]
Trotz diverser Erfolge brach der ganz große Operetten-Boom erst aus, als Julia Matthews 1867 die Großherzogin in Covent Garden sang, eine Rolle die kurz darauf Emily Soldene übernahm – die dann mit dem Schneider-Repertoire die ganze Welt bereiste, bis nach Australien. Fast genauso spektakulär kam die Produktion von Hervés Mittelalter-Facre Chilpéric an. Diese hatte als Attraktion den Komponisten selbst, der auf Englisch die Titelrolle sang. Soldene schreibt dazu: „Not much voice, but what wonders he did with it!“[30] Sie fährt fort: „And then his delightfully broken English, not too broken, just broken enough. […] No wonder the women went down in regiments before this redoubtable foreign fascinator. […] It was even whispered that the principal cleaner, aet. 67, was not entirely unaffected by his magnetic influence.“[31]
Soldene weist hier auf eine neue Komponente hin: das erotische Begehren des weiblichen Publikums. In diesem Fall eines lasziven Halbweltpublikums, dem wiederum die Männer folgten, wo immer es hin ging. So avancierte in London beispielsweise auch C. D. Marius als Landry zum „masculine masher“:
Young and beautiful, and slender, and sleek, and sly and so elegant. An ideal Cherubino but, I am afraid, even more susceptible than the operatically historical and love-stricken young person. He played Landry, and made love to Frédégonde or Brunehaut, he didn’t care which, with an ardour that was not only particularly French, but particularly pleasing and particularly successful, so successful indeed that every girl in the front of the house was seized with a wild desire to understudy those two erratic, not to say imprudent characters. He certainly looked awfully nice, his figure being perfection. And how clever he was! And how he managed what he was pleased to call ‘his voice’. It was not singing, but ‘he got there all the same’. [32]
Eine der Attraktionen von Chipéric war – neben Hervé und Marius – das Ballet. Soldene schreibt:
I got in during the second act. The ballet was on, and exceedingly nice the ballet looked, in graceful and classical and rather diaphanous draperies, but perfectly proper – the sort of thing one might take one’s mother, or, in fact, one’s mother-in-law to see. They were indulging in a wavy, dreamy, mystical movement, when suddenly ‘Bing-bang-boom!’ on the drum and cymbals, and to everybody’s astonishment, four-and-twenty legs shot out on the O.P. side as far as possible, and as undressed as possible, and, before we had recovered from this severe shock, four-and-twenty other legs shot out on the P side, just as far and quite as nude. The dresses were worse than deceptive, they were slit up to the waist … [33]
NEW YORK: JENSEITS DER RESPEKTABILITÄT
Einer der weiteren großen Operettenhits jener Jahre in London war neben Hervés Petite Faust eine Produktion von Offenbachs Mittelalter-Farce Genevieve de Brabant. Ein Stück, basierend auf der Keuschheits-Legende von Genoveva, die Schumann zu einer einzigen Oper inspirierte und die auch als „Die schöne Magel[l]one“ bekannt ist. In Wien spielte ein „Frl. Schäfer“ die tugendhafte Gattin des Markgrafen Siegfried („ein kranker Herr“), der sich den Kreuzfahrern anschließt und seine Gattin allein daheim lässt. Auf dem Theaterzettel in Wien findet sich zu Magellone der Vermerkt: „[S]eine Gemahlin, eine gesunde Frau, langweilt sich aber ungeheuer.“[34] Natürlich sorgen Offenbach und seine Librettisten dafür, dass sie sich bald nicht mehr langweilt und ein libidinöses Chaos ausbricht, das seinesgleichen sucht.
Diese libidinöse Genevieve de Brabant war 1868 auch in New York ein Sensationserfolg, direkt auf den Versen des berühmten „Magical and Spectacular Drama“ The Black Crook von Charles M. Barras. Darin traten bekanntlich Damen auf, die „keine nennenswerte Bekleidung tragen“ („wear no clothes to speak of“), wie die New York Times vermerkte – es sollte einer der größten Theatererfolge in der Geschichte der USA werden. Vorangegangen war der Genevieve-Produktion 1867 außerdem ein Gastspielt einer französischen Truppe, die Hezekiah Linthicum Bateman nach New York geholt hatte, um La Grande-Duchesse mit Lucille Tostée (von den Bouffes-Parisiens) zu zeigen. Der Erfolg dieses Gastspiels brachte Produzent Jacob Grau seinerseits dazu, ebenfalls eine Großherzogin zu spielen, außerdem Chilpéric, und eben Genevieve de Brabant. Dafür holte er sich ebenfalls die weibliche Besetzung direkt aus Paris: Marie Desclauzas und Rose Bell. Um einen Eindruck von der Art des Stücks und Aufführung zu bekommen – die die Art des Erfolges von mehr als 100 Aufführung und einer nationalen Tour mehr als erklären – reicht ein Blick in die amerikanische Presse, die anders als ihre europäischen Kollegen tatsächlich sagen konnten, was sie wollten. Und dies auch taten. In der Tribune heißt zu Genevieve – auf Französisch gespielt – in New York:
Mr Grau has distinguished himself by producing at the French Theatre the most revolting mass of filth that has ever shown on the boards of a respectable place of amusement in this city. The new opera is dirty without any excuse or qualification, and the dirt is not gilded with wit, or enriched with sensuous charms; it is merely brutal – the sickening horror of the bagnio […]. Out upon the insolence which offers such beastly exhibitions to a decent community! Shame upon the spectators who can tolerate such an insult to their good fame! Geneviève is not merely indecent, but it grovels in a low depth, even below decency. No lady can look at it without sacrificing her reputation, and no respectable person can look at it at all without feeling degraded by the spectacle. [35]
Unnötig zu erwähnen, dass diese Kritik dazu führte, dass das Haus fortan restlos ausverkauft war. Und einen Operetten-Boom in New York los trat, der das Genre dort interessanterweise mit den lokalen Theaterbesonderheiten mischte: dem Vaudeville und der Burlesque, den Music Halls und den Minstrel Shows. Aus dem Gemenge wurde später das, was wir bis heute als Musical kennen. Und um auch dies nicht unerwähnt zu lassen: Auch die New Yorkerinnen bekamen wenig später ihr eigenes männliches Sexsymbol auf der Operettenbühne, in Form von Mr. Henry E. Dixey, der in fleischfarbenen Stretch-Hosen die Statue Adonis spielte, die zum Leben erweckt wird in der gleichnamigen Burleske von William Gill aus dem Jahr 1884. Sie wurde zu einem der meistgespielten Hits der Ära und machte Dixey zu einem der populärsten Stars der Zeit, der auch im fortgeschrittenen Alter immer wieder die hautfarbenen Höschen anzog und seine Fans verzückte, mit einem Stück, das eine spiegelverkehrte Version von Franz von Suppé Schöner Galathee ist, aber auch eine Antwort auf den Sensationserfolg von Lydia Thompson und ihren „British Blondes“ mit der Antiken-Farce Ixion (die übrigens als Burlesque populäre Musik Offenbachs enthielt und quasi eine Variation des Orpheus ist). Vom Auftritt der Thompson-Truppe und der Schar von cross-dressed Blondinen schreibt William Dean Howells 1869 im Atlantic Monthly von: „satanic subversiveness“, „horrifying grotesqueness“; er nennt die Damen „anti-actresses producing antitheater […] blurring categorical distinctions and creating unnatural hybrids“. Die von ihnen – sowie ihren Operettenkolleginnen – demonstrierte sexuelle Freizügigkeit war das Gegenteil des „sentimentalen Ideals“ der Zeit. Diese Damen störten sich nicht daran, vom Publikum als „Ware“ angestarrt werden – sie starren einfach selbstbewusst zurück. Robert C. Allen interpretiert das in seinem Buch Horrible Prettiness: Burlesque and American Culture (1991) als ein frühes Beispiel der feministischen Bewegung, die nach Selbstbestimmung der Frau strebt. Laut Allen kam einer der entscheidenden Impulse für diese Bewegung aus dem musikalischen Unterhaltungstheater der 1860er Jahre und aus der Halbwelt. Denn die blond gefärbten Haaren dieser „British Blondes“ galten als Zeichen von Prostituierten: „the idea of a woman dyeing her hair blonde would have seemed ‚barbaric‘ a few years before.“ Was nachträglich ein neues Licht auf Zolas „Blonde Venus“ wirft und auf Offenbachs Schöne Helena, die in einem ihrer Couplets bewusst von sich als blonder Tochter der Leda singt.
WENDEPUNKT: OPERETTE ALS FAMILIENFREUNDLICHE UNTERHALTUNG
Man kann sagen, dass diese frühe und bahnbrechende Form der Operettenpflege jenseits von gesellschaftlich akzeptierten Normen – mit „anti-actresses producing antitheater“ – dem Genre ein besonderes Image verpasste: ein Skandalimage, das in vielen Berichten der Zeit immer wieder durchschimmert, wo u.a. von einer „Musik des Sumpfes“ [36] die Rede ist. Auch wenn sich bald überall eine neue Operettenfraktion stark machte, um dieser Sumpf-Operette eine respektable und heteronormative Alternative entgegenzusetzen, die als „familienfreundliche Unterhaltung“ taugt – sowohl in Paris, Wien, London und New York –, so sehr profitierte das Genre in seiner weiteren „nostalgischen“, „moralischen“ und „entschärften“ Entwicklung von der Aura des ursprünglich Unanständigen. Es ist eine Aura, die die Operette noch bis in die 1940er Jahre umwehte, sogar in den Operettenfilmen der NS-Zeit. In manchen Fällen spürt man diese Aura sogar noch bis in die 1970er Jahren, wenn z.B. Sängerinnen wir Anneliese Rothenberger oder Ingeborg Hallstein ihre völlig harmlosen Interpretationen von „Heut‘ könnt einer sein Glück bei mir machen“ oder „Ich bin eine Frau, die weiß was sie will“ im Fernsehen vortrugen. Danach verschwand die Ahnung dieser Aura, die Ahnung vom „Anderssein“ der Operette, von ihrer gesellschaftlichen Anti-Haltung.
Die meisten heutigen Operettenschaffenden und Operettenexegeten können sie sich gar nicht mehr vorstellen. Wenn entsprechend Autoren wie Albert Gier in allerneusten Publikationen Nana doch erstmals zitieren, in einem Kapitel zu „Erotik und Operette“, und behaupten, Zola habe Offenbach und die sexuell enthemmte Ur-Operette schlichtweg nicht richtig verstanden, dann darf man staunen: „Das Maskenspiel, das den physiologischen Vorgang gleichsam als Zitat präsentiert und mittels der so hergestellten Uneigentlichkeit das, was andersfalls für viele Zuschauer in der Öffentlichkeit eines Theatersaals peinlich sein könnte, zu einer lustvollen Erfahrung macht, scheint Émile Zola entgangen zu sein. In seiner Schilderung eines imaginären Opéra-bouffe […] ist die Begierde der Zuschauer so eigentlich wie nur möglich.“ Fast verzweifelt fährt Gier fort: „Ob nicht zumindest der eine oder andere männliche Zuschauer in Offenbachs Theater auch ein bißchen auf die Musik gehört hat, die ihrerseits schon dadurch distanzierende Uneigentlichkeit erzeugt, daß sie das chaotisch-triebhafte Begehren der (bei Offenbach sehr ausgeprägten) Regelmäßigkeit einer symmetrischen-periodischen Syntax unterwirft?“[37] Es scheint fast, als wäre Professor Gier die radikale, Normen sprengende Spielweise der Ur-Operette selbst peinlich.
Das Ur-Publikum der Operette kannte solche Berührungsängste nicht; und es verwundert, dass ein modernes aufgeschlossenes Publikum der sogenannten Generation Porno gerade diese Spielart des Genres nicht schon längst für sich wiederentdeckt hat, ohne peinlich berührt zu sein. Um das hier deutlich zu betonen: Für mich ist die sexualisierte und entfesselte Form der Ur-Operette etwas Positives, etwas, das seiner Zeit weit voraus war und das, aus heutiger Sicht, Operette moderner im Sinn von aktueller Pop-Kultur macht, als alle anderen Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts. Sich auf die Normen sprengende Kraft der Operette, auf die feministischem Impulse, auf die Anti-Aspekte dieser Theaterform wieder zu besinnen und dies auszuspielen, ist überfällig. Weil es nicht nur einen „feinen Unterschied“ in der Wahrnehmung des Genres machen würde.
[1] Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, zit. nach Jacques Offenbach, Musik-Konzepte 13, hrgs. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1980, S. 3-4.
[2] Walter Obermaier, „Offenbach in Wien“, in Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters, hrsg. Rainer Franke, Laaber 1999, S. 12.
[3] Peter Hawig, „Offenbachs Bouffes-Parisiens. Ein Knotenpunkt nicht nur des französischen Musiktheaters“, in: Peter Ackermann, Ralf-Olivier Schwarz, Jens Stern (Hrsg.), Jaques Offenbach und das Théâtre des Bouffes-Parisiens 1855, Fernwald 2006, S. 11
[4] George Holden, Einleitung zu seiner Übersetzung von Émile Zolas Nana, London: Penguin Classic 1972, S. 9-10.
[5] Émile Zola, Nana [dt. Übersetzung von Erich Marx], Leipzig 1979, S. 21ff.
[6] Zola, Nana, a.a.O., S. 38-39.
[7]Meyers Konversations-Lexikon, Leipzig 1877, Bd. 12, S. 278.
[8] Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 [1. Ausgabe Amsterdam 1937], S.220-221.
[9] Ebd, S. 221.
[10] o.A., „France“, in: Daily News [London], 30. Januar 1867.
[11] Vgl. Hawig, a.a.O., S. 15.
[12] Zit. n. Walter Obermaier, „Offenbach in Wien“, in: Rainer Franke (Hg.), a.a.O., S. 19.
[13] Linhardt, „Offenbach und die französische Operette im Spiegel der zeitgenössischen Wiener Presse“, a.a.O., S. 70.
[14] Marion Lindhardt, Inszenierungen der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900, Tutzing 1997, S. 32
[15] Linhardt, S. 32.
[16] B.B., „Aus dem Wiener Leben“, in: Wiener Zeitung, 18. März 1865.
[17] Junius Novus, „Theater-Episteln“, in: Neue Freie Presse (Wien), 19. November 1864.
[18] Fremdenblatt, 4. August 1862, zit. n. Marion Linhardt, „Offenbach und die französische Operette im Spiegel der zeitgenössischen Wiener Presse“, in: Rainer Franke (Hg.), Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters, a.a.O., S. 71.
[19] Marion Linhardt, „Offenbach und die französische Operette im Spiegel der zeitgenössischen Wiener Presse“, in: Rainer Franke (Hg.), Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters, a.a.O., S. 58.
[20] Ebd., S. 34-35.
[21] „Wiener Bilder. Der Prater“, in: Illustrirte Zeitung (Wien), 21. Mai 1881.
[22] Linhardt, Residenzstadt und Metropole, a.a.O., S. 66.
[23] Emil Pirchan, Marie Geistinger: Die Königin der Operette, Wien 1947, S. 23.
[24] Emil Pirchan, Marie Geistinger: Die Königin der Operette, Wien 1947, S. 23.
[25] Bertha Glöckner, zit. n. Pirchan, S. 21.
[26] Zit. n. Pirchan. S. 20.
[27] The Era, zit. n. Kurt Gänzl, Emily Soldene: In Search of a Singer, Wellington 2007, Vol. 1, S. 353.
[28] Kurt Gänzl, Vol. 1, S. 250
[29] Zit. n. Gänzl, Vol. 1, S. 250.
[30] Gänzl, Vol. 1, S. 319.
[31] S. 319.
[32] S. 320
[33] Zit. n. Gänzl, Vol. 1, S. 331.
[34] In Wien lief dieses Offenbach-Werk unter diesem Titel im Theater am Franz-Josef-Quai mit Karl Treumann las Markgraf Siegfried und einem „Frl. Schäfer“ als „seine Gemahlin, eine gesunde Frau, langweilt sich aber ungeheuer“. – Theaterzettel, abgebildet in Gänzl, Vol. 1, S. 414.
[35] Zit. n. Gänzl, Vol. 1, S. 416.
[36] Neues Wiener Tagblatt, 6. Oktober 1880.
[37] Albert Gier, Wär‘ es auch nichts als ein Augenblick. Poetik und Dramaturgie der komischen Operette, Bamberg 2014, S. 218-219