Robert Quitta
Operetta Research Center
5. Februar 2024
Zu Beginn seiner Amtszeit hatte der neue Intendant des Musiktheaters an der Wien, Stefan Herheim, programmatisch verkündet, dass er jedes Jahr eine Operette aufführen wolle. Und in seiner ersten Saison gelang ihm mit Offenbachs Périchole auch ein Riesenerfolg – dank der intelligenten Textfassung des Dramaturgen Boris Kehrmann und des Zur-Geltung-Kommens vieler Wiener, sonst in großen Ensembles in der zweiten Reihe „versteckten“, Schauspieler. Man war schwer begeistert.
Als Herheim aber bekannt gab, dass heuer in dieser Schiene Bernsteins Candide dran wäre, waren manche schwer enttäuscht. Nun gut, der Untertitel lautet „a comic operetta“, aber solange in der ehemaligen (selbsterklärten) Operettenhauptstadt Wien auch nur eine einziges Kalman-Werk unaufgeführt bleibt, hätte man diesbezüglich doch wirklich Besseres zu tun und zu entdecken. So die weit verbreitete Logik mancher Operettenliebhaber.
Die Bedenken wurden noch stärker, als der Name der Regisseurin genannt wurde: jene Lydia Steier, die durch die sinnlos-dumme Hinzufügung einer „Märchenerzählerfigur“ (Klaus Maria Brandauer noch dazu) die an und für sich unkaputtbare Zauberflöte mit Karacho in den Sand der Salzburger Festspiele gesetzt hatte. Die schwerwiegenden Bedenken verwandelten sich in pure Angst, als Steier in Interviews erzählte, dass sie vorhatte, bei Candide dieselbe Masche noch einmal einzusetzen. (Hier geht’s zu David Savrans Artikel zur Popularität Candides im deutschsprachigen Theater.)
Gott sei Dank hatte dieselbe Idee diesmal aber ein ganz anderes Ergebnis. Der Erzähler tat gar nicht weh, im Gegenteil, Vincent Glander entpuppte sich mit seinem britisch-distanziertem Zynismus überraschenderweise als vielleicht der beste Darsteller des Abends.
Um es gleich vorwegzunehmen: Steiers Candide-Produktion wurde zum umjubelten Publikums- und Kritikererfolg (zum ersten einhelligen in dieser Spielzeit). Insofern fühlt man sich ein wenig unwohl, nicht in diesen Chor einstimmen zu können und dennoch Einwände vorbringen zu müssen.
Musikalisch gibts nix zum Sagen. Bernstein-Schülerin Marin Alsop an der Spitze des ORF-Radio-Symphonieorchester und des Arnold Schönberg Chores hat ein ausnahmslos hochkarätig besetztes Ensemble (Matthew Newlin als Candide, Nikola Hildebrand als Cunegonde, Mark Vilhofer in vielen Bösewichtrollen) und sorgt souverän für eine denkwürdige Interpretation.
Die Probleme beginnen für mich bei der Inszenierung Lydia Steiers. Sie lässt die ganze Chose auf einer sich immer weiter nach oben öffnenden Showtreppe spielen, was zwar sowas von Nineties, aber nicht schlecht ist. Leider wählen sie und ihr Bühnenbildner Momme Hinrichs in weiterer Folge Mittel des Kinder- und Jugendtheaters (Sie wissen schon: Miniaturhäuschen, Pappendeckelschiffchen, Pappendeckelwellen etc.) zur Darstellung der Szenenwechsel.
Und das geht sich schon ab der zweiten Szene, in der feindliche Truppen in die Idylle von „Westphalia“ einbrechen und alles zerstören, brandschatzen, plündern, vergewaltigen, verstümmeln und ermorden, was sie vorfinden… Das alles hat sich soeben vor unser aller Augen 1:1 in der Ukraine und in Südisrael abgespielt, und diese Bilder leider immer noch vor Augen habend, können wir daher überhaupt nicht ernst nehmen, wenn uns ein analoges Geschehen hier auf der Bühne Kindergartenmanier präsentiert wird. Das ist lächerlich und peinlich. Das ist pipifax. Zumindest empfand ich das so.
Die Kostüme von Ursula Kudrna tun ein Übriges, das wir uns von all diesen grauenvollen Vorkommnissen in der schlechtestmöglichen aller Welten nicht direkt betroffen fühlen müssen. Denn sie wirken alle wie aus einer längst vergangenen, längst „überwundenen“ Zeit, wirken wie aus dem verstaubten Fundus eines uralten Kostümfilms – obwohl sie sicher alle, alle ganz frisch und neu mit der Hand gemacht worden sind.
Tja, was soll ich sagen? Das Wiener Publikum jubelte trotzdem. Was ihm gar nicht zu verdenken ist, denn erstens wurde es unter der Direktion Herheim bisher nicht mit besonders attraktiven Produktionen verwöhnt… und zweitens haben nicht alle so ein „Pech“ wie dieser Berichterstatter, der vor zwei Jahren am Münchener Gärtnerplatztheater eine hinreißende, um nicht zu sagen: überwältigende Candide-Inszenierung (Regie: Adam Cooper) erleben durfte.
Musikalisch der Wiener Version zumindest ebenbürtig, punktete sie vor allem durch die transgenialen Kostüme von Alfred Mayerhofer, die von Naturalismus und Historienfilm so weit entfernt waren wie nur irgendwie geht und stattdessen durch groteske Überzeichnung und blühende Fantasie den Charakter von Voltaires Meisterwerk meiner Meinung nach viel besser trafen (im Mai wieder auf dem Spielplan).
Auf seine Art und (ganz verschiedene) Weise ist der Münchener Candide ebenso Maßstab setzend wie die Pariser Fassung (Théâtre des Champs-Elysées), bei der der kanadische Meisterregisseur Robert Carsen das Voltaire‘sche Grauen im Sinne Bernsteins gnadenlos in die Gegenwart (Autodafè-McCarthy, Industrialisierung, Baumsterben, Umweltzerstörung etc. transponierte.
Das waren beides Champions-League-Produkte, in Wien hingegen war man eher im braven und anständigen Stadttheater zu Hause.