Roland H. Dippel
Operetta Research Center
16 March, 2016
Die Handlung des Obersteiger ist gespickt mit zahlreichen Details, die sich in der Annaberger Produktion – nicht ganz verständlich – verflüchtigen: Der Fürst gibt sich im ersten Akt als Volontär aus. Obersteiger Martin will sich für einen von ihm entdeckten Silbergang mit 3.000 Gulden entlohnen lassen. Bei der Kür, wer zuerst hinunter in den Schacht steigt (der Fürst mit Bergdirektor Zwack oder mit Martin), geht es – ganz operettenspezifisch – um viel mehr als Geld: Wer bleibt oben und glänzt da vor der vermeintlich bürgerlichen Comtesse?
Auf dem Ball des zweiten Aktes kommt es zur Verwechslung zwischen der Comtesse und der Spitzenklöpplerin Nelly, beide hält man für die neue Maitresse des Fürsten. Möglicherweise ließen sich Victor Léon und Leo Stein für das zweite Finale ihres Textbuchs Wiener Blut (1899) von dieser Szenenfolge inspirieren. Bergdirektor Zwack folgt in der Rollenkonzeption dem Conte Carnero in Der Zigeunerbaron (1885) und dessen Konflikt zwischen Prestige und unerwarteter Vaterschaft.
Derzeit liegt der Produktionstrend mehr bei der Revueoperette vor 1933 als bei der Wiener Operette vor 1900. Bei einer Besinnung auf diese Periode hat Der Obersteiger signifikante und vom Publikum lange Zeit goutierte Vorzüge: Die Figurenkonstellation ist trotz erkennbarer Rollen- und Fachfixierungen individuell, auch weil Elfriede, die scheidungswillige Frau des Bergdirektors, als Konkurrentin für die Comtesse durchgeht.
Die Generationen ver- und entbandeln sich als potentielle Liebhaber, Familienmitglieder, Protegés und Konkurrenten. Und immer etwas anders als in den bekannten Schubladen.
Das ist wie im süddeutsch-österreichischen Volkstheater nach Schikaneder spannender als in der rasterartigen Fächer-Kategorisierung etwa vom Komiker Njegus und der mondänen Alten Anhilte.
Trotz der musikalischen und szenischen Analogien zu Der Vogelhändler (1891) hat Der Obersteiger (1894) stark autonomes Werkkolorit, wobei es keine volksmusikalische Verortung in einer deutschen Bergwerksregion gibt wie die von Adams’s Gast-Tirolern in der Pfälzischen Residenz. Ebenso könnte Der Obersteiger an der Inntaler Bergwerks- und Stollenlinie zwischen Kiefersfelden/Bayern und Brixlegg/Tirol spielen.
Das erfordert signifikantere Bühnenrealisierung als die herkömmliche von Wiener Operetten, deren Wiedergaben mit dem Ausschöpfen des vollen doppelbödigen Potentials noch immer geblockt scheinen: Einerseits durch die Erwartungen des Publikums, geprägt durch Schenks Fledermaus und Bad Mörbisch, und im vorauseilenden Anspruch der Macher zwischen „120 Prozent Platzausnutzung“ und „Unser Publikum will das so!“.
Gerade in der 3.000 Gulden-Episode und um die Vaterschaft Zwacks öffnen sich in Der Obersteiger menschliche Abgründe, Schwachstellen und Defizite wie in Nestroys bitterbösen Possen Der Talisman oder Zu ebener Erde und erster Stock.
Ein potentielles Vorbild könnten Helmut Lohners und Otto Schenks Inszenierungen am Wiener Volkstheater sein, aus denen – anders als ihren tournee- und TV-affinen Elaboraten – der Regionalzynismus und das real existierende „Wiener G’müt“ nur so herausbrachen. Kroetz und Flimm zeigten in ihren Raimund-Inszenierungen, wie Musik die drastische Bühnen-„Realität“ ins Schweben bringen kann, als integraler Faktor von Schauspielen mit (viel) Musik.
Die finale Paar-Zusammenführung hinterlässt am Ende des Obersteiger nicht einen resignativ-katzenjammerigen, sondern funktional-schalen Nachgeschmack – mehr noch als z. B. in Die Fledermaus, wenn Rosalinde wie Elfriede im Obersteiger ganz scheidungswillig aussieht.
Insofern ist die Drehung des Obersteiger zum Regionalfestspiel nur mit Verschraubungen oder bekennender Selbstironie naheliegend. Was gibt es nach der Vermeidung des „viel Schlimmeren“ zu feiern…? Dieses „Jetzt erst recht!“ gilt es zu inszenieren, das erfordert szenische Positionierung als eindeutiges „Gerade deswegen!“ oder „Schwamm drüber!“. Hier führt sich eine Gemeinschaft ad absurdum wie z. B. in Josef Ruederers Die Fahnenweihe, dieses Volksstück hat aufgrund der ungeschminkten Darstellung regionalpolitischer Ursachen und Wirkungen heute noch immer nicht die gebührende Berühmtheit.
Ein Coup bleibt “Der Obersteiger” auch auf verborgener Ebene: Martin ist keine typische Partie von Alexander Girardi, der in etwa 100 Obersteiger-Vorstellungen auftrat.
Dessen typische Rollen offenbaren sonst an einer zentralen Stelle die überraschende, intime, verschmitzte, nachdenkliche, reflektierende Facette des meist unbedenklich-lebenskünstlerischen Naturells seiner Bühnencharaktere (das „Girardi-Lied“ war eine Marke wie das „Tauber-Lied“). Die Figur Martin aber ist (wie Barinkay im Zigeunerbaron) ganz Oberfläche ohne reflektierende Schärfung oder sentimentalen Tiefgang. Das als Darsteller stimmig und sympathetisch zu meistern, ist eine echte Herausforderung! (nochmals Bravo und Dank an Frank Unger, Annaberg).
Mein Wunsch für Der Obersteiger: Die ambitionierte Produktion dieser Operette an einem kleineren/mittleren Haus mit hintergründigem Humor und offenem Blick für die Annaberger Erfahrungen, die für die weiteren Beschäftigungen auch notwendig sind. Dazu ein Regisseur „mit dem Händchen“ für die Feinheiten hinter den Pointen und Situationen, z. B. Dominik Wilgenbus (La Cenerentola auf Deutsch, fast überall) oder Hendrik Müller (Berliner Leben, Neuköllner Oper).
Die musikalische Haltung am Eduard-von-Winterstein-Theater halte ich generell für richtig, weil da die dramatisch-stimmige Wiedergabe wichtiger ist als verkrampfende Präzision zu mit Schräglage des korrekten Timings.
Beckmesserisch-utopisch formuliert: Dazu je 15 Prozent mehr an Harnoncourt-Akribie und Wiener-Schrammel-Idiom, das wäre ideal. Warum nicht einmal mit klassisch geschulten Musical-Darstellern?
Allzu neugierig wäre ich jetzt auch auf eine sog. „idiomatische“ österreichische Produktion des Obersteiger wie vom Mödlinger Ensemble „Oper@tee“ oder der 2015 auf Schloss Traismauer.
„Glück auf!“ und „Sei nicht Bös‘…“
Für weitere Informationen und einen andere Rezension der Produktion, bitte hier klicken.