Coming-out als Operettenrettung? Interview zum Queer Reading des „Dreimäderlhaus“

Kevin Clarke
Operetta Research Center
28. Februar 2021

Als das Dreimäderlhaus am 15. Januar 1916 im Wiener Raimundtheater in Premiere ging waren die Kritiken gespalten. Denn Komponist Heinrich Berté hatte es gewagt, für die fiktive Liebesgeschichte rund um Franz Schubert die Musik des echten Schubert zu recyceln. Und zwar so genial, dass sie im neuen Operettenkontext maximale Wirkung entfaltete. Das Stück und seine Lieder wurden zum Welt-Bestseller – mehrfach verfilmt und besonders in den USA ein Dauerbrenner in einer Produktion der Shubert Brothers. Richard Tauber machte später aus dem Franz Schubert im Dreimäderlhaus eine Paraderolle, die er immer wieder und überall sang. Dann kamen die Nazis und stuften das Werk als „gefährliches Gift“ ein, weil sich jüdische Autoren da am „deutschen“ Nationalheiligtum Schubert vergangen hätten. Dieses Stigma blieb haften. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Werk weiterhin ausgegrenzt, weil angeblich „unsäglicher Kitsch“. Der Alt-68er-Operettenguru Volker Klotz ging sogar so weit, das Stück in seinem berühmten Buch Operette: Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst gar nicht zu behandeln. Sogar in der vierten erweiterten Neuausgabe von 2016 kommt Berté zwischen Benatzky und Bretón nicht vor. So sieht akademische Cancel Culture aus und setzt die Ausmerzungsstrategien der Nazis auf ganz eigene Weise fort. Am Landestheater Linz hat man sich im Corona-Winter 2020/21 daran gemacht, dem Dreimäderlhaus eine neue Chance zu geben: mit einem bewussten Queer Reading, bei dem die Geschichte rund um Schubert und seine Männerfreunde neu beleuchtet wurde. Wir sprachen mit dem Dramaturgen der Produktion, Christoph Blitt. Auch über die Reaktionen des Publikums und der Presse.

Grégoire Delamare als Franz Schubert in der "Dreimäderlhaus"-Produktion in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

Grégoire Delamare als Franz Schubert in der “Dreimäderlhaus”-Produktion in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

Das Landestheater Linz hat im BlackBox Musiktheater das Singspiel Dreimäderlhaus herausgebracht, ursprünglich von Berté-Willner-Reichert. Das war einmal einer der größten internationalen Hits der Operettenwelt und schlug besonders in den USA ein wie eine Bombe. Heute wird das Stück im deutschsprachigen Bereich gemieden. Warum taten sich Theatermacher*innen der letzten Jahrzehnte mit dem Werk so schwer? Ist es schlecht, die Musik nicht wirksam, die Figuren uninteressant und aus der Zeit gefallen?
Vor allem Letzteres! Bertés Dreimäderlhaus wirft einen sehr idealisierenden Blick zurück auf die sprichwörtliche „Gute, alte Zeit“, genauer auf das ebenso sprichwörtliche Biedermeier. Diese Retrospektive geschieht sehr konsequent und gleich auf mehreren Ebenen. Das fängt mit der Form an, wenn der Komponist und seine beiden Librettisten dieses Werk eben nicht als Operette betiteln, sondern den Gattungsbegriff des Singspiels wählen. Diese Bezeichnung wirkte ja auf der einen Seite schon damals als Reminiszenz; und auf der anderen Seite, wenn sie im 20. Jahrhundert Verwendung fand, wurde sie eher auf Werke angewandt, die mehr auf eine intime Innerlichkeit statt auf den dramatischen Furor des Musikdramas oder dem glitzernden Glamour der Operetten setzten. Biedermeierlich ist beim Dreimäderlhaus auch das Sujet, das – um die Person Schuberts kreisend – ja genau zu dieser Zeit spielt. Und vordergründig biedermeierlich ist eben auch die Musik, wenn Berté hier auf Originalkompositionen Schuberts zurückgreift.

Franz Glawatsch mit seinen drei "Töchtern" im "Dreimäderlhaus" in Wien, 1916. (Foto: Ludwig Gutmann / Theatermuseum Wien)

Franz Glawatsch mit seinen drei “Töchtern” im “Dreimäderlhaus” in Wien, 1916. (Foto: Ludwig Gutmann / Theatermuseum Wien)

Aber auch der in diesem Werk zum Tragen kommende (Altherren-)Humor und nicht zuletzt das rückwärtsgewandte Frauenbild, das für das weibliche Geschlecht eben nur eine Existenz als treusorgende Ehegattin suggeriert, sind eindeutig aus der Zeit gefallen. Das Entscheidende dabei ist aber, dass sich für uns Heutige der Blick auf die Ära des so genannten „Biedermeier“ und natürlich auch auf Franz Schubert extrem gewandelt hat.

Heute stellt man, wenn man auf diese Epoche blickt, nicht mehr die Bescheidung auf das kleine private Glück in den Vordergrund, sondern man erkennt hier eine Zeit des Umbruchs, die von vielfältigen Spannungen geprägt war: Von der ideologischen Aufrüstung gegen den Aggressor Napoleon; von den Nachwirkungen der Kriege, mit denen Napoleon Europa überzog; von den revolutionären Energien des Vormärz; von der restriktiven und repressiven Politik der Restauration, die in Österreich vor allem mit dem Namen Metternich verbunden ist etc. Und damit im Zusammenhang stehend hat sich natürlich auch das Bild Schuberts im Laufe der letzten 100 Jahre extrem gewandelt. Er ist eben nicht mehr der brave, dauer-unglücklich-verliebte Franzl, der sich in das bescheidene Glück der kleinen Form des Liedes und der Kammermusik flüchtete, sondern heute erkennt man in ihm denjenigen Komponisten, der wie kaum ein anderer die Nachtseiten seiner Zeit in Töne zu bannen wusste.

Ankündigung der Uraufführung vom "Dreimädernhaus" mit Kammer- und Hofopernsänger Fritz Schrödter als Franz Schubert, Wien 1916. (Foto: Theatermuseum Wien)

Ankündigung der Uraufführung vom “Dreimädernhaus” mit Kammer- und Hofopernsänger Fritz Schrödter als Franz Schubert, Wien 1916. (Foto: Theatermuseum Wien)

1935 sprach die Reichsdramaturgie in Nazi-Deutschland vom Dreimäderlhaus als „gefährlichem Gift“. Es hieß: „Hier wird einer unserer größten deutschen Komponisten in einer Weise verniedlicht und verball­hornt, daß dem naiven Hörer der Zugang zum echten Schubert für immer verschlossen bleiben muß.“ Verschließt die Berté-Partitur den Zugang zu Schubert oder serviert sie ein geniales Best-of, das neugierig auf mehr macht? Und: Ist Schubert ein „deutscher“ Komponist, oder ist das eine Vorahnung vom „Anschluss“, der ja später auch via Bruckner und Johann Strauss vollzogen wurde?
Wenn man bedenkt, dass etwa im Juni 1937, also ebenfalls vor dem so genannten „Anschluss“, in Anwesenheit Hitlers und Goebbels die Büste Anton Bruckners in die Regensburger Walhalla aufgenommen wurde, schreckte man allem Anschein nach generell schon vor 1938 nicht davor zurück, sich das, was ins eigene Weltbild passen sollte, unabhängig von Ländergrenzen einzuverleiben. Das zitierte Verdikt über das Dreimäderlhaus verwundert auf der einen Seite nicht, als mit Heinz Reichert einer der Librettisten dieses Werks Jude war. Auf der anderen Seite allerdings gilt es zu bedenken, dass ja das Dreimäderlhaus auf Rudolf Hans Bartschs Roman Schwammerl fußt. Die im Singspiel erkennbare und von den Nazis verurteilte Trivialisierung Schuberts ist in weiten Teilen von Bartsch übernommen worden. Und der war ein Autor, der mit seinen heimattümelnden Werken gerade in der Nazizeit viel gelesen wurde. Das hat ja noch letzten Sommer in Bartschs Geburtsstadt Graz zu Kontroversen darüber geführt, wie man dort mit dem Andenken an diesen Dichter angemessen umgehen soll.

Mit dem Vorwurf, dass Berté auch die Musik Schuberts verniedliche, greifen die Nazis einen Kritikpunkt auf, der nicht nur auf die Zeit des Dritten Reiches beschränkt ist, sondern davor und danach immer wieder – freilich mit unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen – artikuliert wurde und wird. Wer will, möge das so sehen. Man kann aber auch Bertés genauso Bewunderung zollen, wie er es durch ganz kleine Eingriffe – wie etwa eine etwas andere harmonische Wendung dort oder eine vom Original abweichende melodische Floskel da – geschafft hat, Schuberts Stilistik mit der Ästhetik der Wiener Operette zu verbinden. Und es ist keine Frage: Die Musik Schuberts hält da allemal aus!

Wirkt das NS-Verdikt bis heute nach in den Köpfen der Regisseure und Intendanten? Und hat Volker Klotz mit seiner Cancel-Aktion dem Ganzen den Rest gegeben?
Ich glaube (oder hoffe), dass sich heutige Intendant*innen und Regisseur*innen weder an Nazi-Urteilen noch ausschließlich an Volker Klotz orientieren – wobei es schon problematisch ist, Volker Klotz und Nazis in solch einem Kontext in einem Satz zu nennen. Unterschiedliche Zeiten haben ja bekanntlich unterschiedliche Beurteilungsraster.

Die Tragik des Dreimäderlhauses ist es, dass es mit seiner sehr zeitbezogenen Sicht auf Schubert durch relativ viele dieser Raster fällt. Aber man darf auf der anderen Seite nicht vergessen, dass es Zeiten gab, in denen Bertés Singspiel nach der unverwüstlichen Fledermaus auf Platz zwei der Liste der beliebtesten Werk des unterhaltenden Musiktheaters rangierte. Und gerade Bertés Musik ist in ihrer hybriden Mischung aus Schubert und Wiener Operette eine gehörige Portion musikalischen Charmes nicht abzusprechen.

Richard Tauber in der "Dreimäderlhaus"-Produktion von Hubert Marischka am Stadttheater Wien, 1934. (Foto: Atelier Willinger/ Theatermuseum Wien)

Richard Tauber in der “Dreimäderlhaus”-Produktion von Hubert Marischka am Stadttheater Wien, 1934. (Foto: Atelier Willinger/ Theatermuseum Wien)

Gibt sich ein*e Intendant*in zum Abschuss frei, wenn er/sie das Dreimäderlhaus heute in Österreich oder Deutschland ansetzt? Ist ein Naserümpfen von selbsternannten Kultureliten nach wie vor ein Problem? Was sagt die „Woke“-Szene zum Stück?
Dadurch, dass das Dreimäderlhaus in den letzten Jahren eher selten auf den Spielplänen auftauchte, ist es mittlerweile unter den Radar gerutscht. Das heißt, den Titel kennt man ansatzweise noch und man weiß, dass das es „irgendwie“ um Schubert geht, aber eine konkrete ästhetische Erfahrung verbinden die wenigstens mit diesem Stück. Somit müsste die „Woke“-Szene sich erst einmal etwas dezidierter wieder mit diesem Singspiel auseinandersetzen, bevor sie darüber spotten könnte.

Es gibt ja auch eine bonbonbunte Filmversion mit Karlheinz Böhm: Welche „Schäden“ in der Wirkungsgeschichte hat dieser Film ausgelöst? Wie wirkt er auf Sie im Vergleich zur Richard-Tauber-Version oder dem Stummfilm von Richard Oswald (1918)?
Der Sündenfall in Hinblick auf eine Trivialisierung Schuberts war zweifelsohne Bartschs Schwammerl-Roman. Er lieferte mit diesem bis zur Unerträglichkeit gefühligen Buch das Reservoir, aus dem sich dann viele weitere Auseinandersetzungen mit diesem Komponisten – eben von Berté über Oswald bis hin zu Marischka – speisten. Insofern sind Unterschiede in der „Bonbonisierung“ dieses Themas in den genannten Werken zwar vorhanden, aber im Grunde gehen alle von falschen Voraussetzungen aus, wenn sie sich auf Bartsch und dessen Pseudobiografie über Schubert berufen. Letztendlich verhält sich etwa Marischkas Film über Schubert so zur Historie wie die Sissi-Filme desselben Regisseurs.

Sie kündigen Ihr Dreimäderlhaus als „Singspiel von Angelika Messner“ an, „frei nach…“ Warum haben Sie nicht das Originalwerk gespielt? Und was ist in der Messner-Fassung neu?
Angelika Messner hat mit viel Witz und Einfühlungsvermögen dem Stück eine neue Handlung verpasst. Die Dialoge wurden komplett neu geschrieben. Die Musiknummern wurden hingegen – auch textlich – so weit wie möglich – original beibehalten. Ola Rudner hat dabei auch noch das bereits von Berté angewandte Verfahren, auf Originalkompositionen Schuberts aufzubauen, noch ausgeweitete und weitere Werke dieses Komponisten in diese Neufassung integriert. Die Hauptunterschiede zum originalen Singspiel sind dabei, dass es zum einen die Operettenhandlung mit dem Stand der Schubert-Forschung aussöhnt. Sprich, die inzwischen durch viele Indizien belegte These von der Homosexualität Schuberts wurde in dieser Neufassung ganz unverkrampft einmal auf einer Operettenbühne durchgespielt. Nun geht es nicht mehr – wie noch im Original – um die unerfüllte Liebe Schuberts zu Hannerl, sondern um Schubert und seine Liebe zu Franz von Schober. Zum anderen wurde das betulich-biedere Frauenbild des Originals frischer, moderner und selbstbewusster entworfen.

Schubert schwul

Grégoire Delamare (Schubert) und Xiaoke Hu (Schober) in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

In einem Aufsatz haben Sie ausgeführt, warum man Schubert als „queer“ lesen sollte und die Männerrunde im Dreimäderlhaus als nicht heterosexuelle Gemeinschaft lesen kann. Was verändert sich durch solch eine Lesart? Wie bringt sie das Stück näher an unsere Zeit heran?
Der Aufsatz bezog sich ja eher auf die Linzer Neufassung als auf das originale Singspiel. Das Singspiel von Berté, Willner und Reichert hat ja auf den ersten Blick so gar nichts Queeres. Da ist – überraschenderweise – Bartschs Roman etwas offener, wenn er zumindest andeutet, dass das Verhältnis von Schubert zum anderen Geschlecht irgendwie belastet ist. Wobei Bartsch von seiner Geisteshaltung und vom Wissensstand seiner Zeit her natürlich die Expertise abgeht, derartige Probleme mit einer Homosexualität Schuberts in Verbindung zu bringen. Auf der anderen Seite liest man heutzutage mit dem Wissen darüber, dass Schubert wohl schwul war, auch ein Stück wie Bertés Dreimäderlhaus mit seinen männerbündischen Vergnügungsszenen womöglich anders. Das ist sicherlich einer der Gründe, warum dann auch Angelika Messner auf die Idee kam, die alte Singspiel-Handlung komplett umzuschreiben.

Richard Oswald hat ein Jahr nach seinem Dreimäderlhaus den berühmten Film Anders als die Andern gedreht. Der erste Film der Filmgeschichte, der das Thema Homosexualität offen behandelt. Schließen sich da nun in Linz einfach nur Kreise?
Da beschreiben Sie tatsächlich einen sehr schönen Kreislauf, der natürlich eher dem Zufall geschuldet ist. Aber vielleicht darf die Vermutung ja erlaubt sein, dass Oswald mit seinem Gespür für Lebensweisen abseits der damaligen Norm sich dem Thema Schubert noch einmal anders angenommen hätte, hätte er von dessen Homosexualität gewusst.

Regisseur Richard Oswald (r.) zusammen mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Gemeinsam realisierten sie 1919 den Film "Anders als die Andern". Ein Jahr zuvor verfilmte Oswald das "Dreimäderlhaus.)

Regisseur Richard Oswald (r.) zusammen mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Gemeinsam realisierten sie 1919 den Film “Anders als die Andern”, der erstmals in der Geschichte des Kinos das Thema Homosexuatät behandelte. Ein Jahr zuvor verfilmte Oswald das “Dreimäderlhaus”.

Gegen das Label „schwul“ in Bezug auf Schubert gibt es seit Jahrzehnten Protest und große Aufregung. Gleiches gilt für Beethoven oder Chopin. Wieso ist es nie ein Problem, rund um solche Persönlichkeiten heterosexuelle Liebesgeschichten zu erfinden, die auf keinerlei historischer Grundlage basieren, aber wenn sich jemand homosexuelle Geschichten ausmalt, steht die Klassikwelt Kopf? Ist das nicht schizophren? Und homophob, versteckt im Mantel von „hehrer“ Kunstreinheit?
Im Moment nehmen die Diskussionen um Alltagsdiskriminierung in Deutschland ja wieder zu. Da gab es diese wirklich unsägliche Talkshow Die letzte Instanz im WDR, in der fünf Angehörige der weißen Dominanzgesellschaft sich in nicht entschuldbarer und verletzender Art und Weise darüber verächtlich ausgelassen haben, dass Betroffene den Gebrauch rassistischer Fremdbezeichnungen für Sinti*zze und Romn*ja oder PoC zu problematisieren wagen. (Mehr zur Diskussion ums Z-Wort und damit zusammenhängend den Zigeunerbaron hier.) Und als ob das nicht genug gewesen wäre, legte ausgerechnet die Wertekommission der SPD wenige Tage später mit einem nicht weniger frustrierenden Talkformat im Web nach. Diesmal ging es um die im Magazin der Süddeutschen Zeitung gestartete #actout-Campagne, in deren Zuge sich 185 Schauspieler*innen als LGBTQ geoutet haben.

Diese Talkformate legte offen, wie unsensibel und homophob derartige Ereignisse selbst heute noch und selbst unter (scheinbar) Intellektuellen bewertet werden. Immerhin lösten beide Sendungen angemessene Shitstorms aus. Die genannten Talkformate wie die darauf erfolgten Reaktionen zeigen, dass sich die gesellschaftlichen Diskurse derzeit in einem Umbruch befinden. Will sagen: Auf der einen Seite die althergebrachten und immer und immer wiedergekauten Meinungen der weißen Cis-Mehrheitsgesellschaft, deren Spektrum sich zwischen gemütlicher, selbstgefälliger Alt-68er-Mentalität und rechten Hetzereien bewegt.

Auf der anderen Seite aber die lebendigen Diskurse der immer noch diskriminierten Randgruppen, die vor allem von der jüngeren Generation initiiert werden. Deren Standpunkte könnte man – freilich ungebührlich vereinfachend – etwa wie folgt auf den Punkt bringen: Die weiße Dominanzkultur soll sich weiter in ihren alten Vorurteilen und Befindlichkeiten selbstbespiegeln, wir sind inzwischen schon weiter und fordern unsere Teilhabe an gesamtgesellschaftlichen Prozessen ein. Dabei gilt es, diese althergebrachten Ressentiments, durch die Randgruppen marginalisiert werden, offenzulegen und zu bekämpfen. Gleichzeitig richten wir aber unser Denken und Handeln nicht mehr nach diesen Vorurteilen aus, um deren Weiterexistenz zu unterbinden.

Schubert schwul

Grégoire Delamare (Schubert) und Xiaoke Hu (Schober) in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

Aber um auf Ihre eigentliche Frage zurückzukommen: Im Kontext des eben Ausgeführten sollte man denen, die Schwierigkeiten mit einem schwulen Schubert haben, zurufen: „Eure Einwände und Befindlichkeiten gegen eine queere Sicht auf Größen wie Beethoven, Chopin, Händel oder Schubert könnt ihr für euch behalten, denn die spielen inzwischen keine Rolle mehr, weil sie nur alte heteronormative Vorurteile und Diskriminierungen fortschreiben. Wenn eindeutige Indizien vorliegen, dass eine historische Persönlichkeit dem LGBTQ-Spektrum zuzuordnen ist, dann sollte man mit diesen Erkenntnissen auch entsprechend unverkrampft umgehen.“

Homoerotische Neigungen im historischen Kontext nachzuweisen ist schwer, weil gleichgeschlechtliche Beziehungen die längste Zeit kriminalisiert waren und gesellschaftlich geächtet wurden. D.h. viele Dokumente wurden vernichtet, die Nachwelt hat ein ohrenbetäubendes Schweigen über alles gelegt, was nicht ins heteronormative Narrativ passte. Warum glauben Sie verweigern sich viele Menschen heute noch immer, sich die Schubert-Zeit als genauso sexuell experimentierfreudig vorzustellen, wie wir das heute von der Jugend kennen? Warum dieses Festhalten an der „Guten alten Zeit“ als absolut befreit von allem, was mit normabweichender Sexualität zu tun hat? Als ob Oma und Opa nicht auch mal einen Swingerclub besucht haben könnten und mit der besten Freund*in im Verborgenen rumgemacht haben könnten?
Da haben Sie natürlich recht, dass alle Menschen zu allen Zeiten ihre Begierden und Gelüste hatten und haben. Und die wenigen erhaltenen Dokumente über Schuberts Liebes- und Sexualleben legen ja zumindest nahe, dass es da bestimmt nicht langweilig zugegangen sein dürfte. Ob dies der damaligen allgemeinen Praxis entsprach oder ob man es im Falle von Schubert eher mit einer im Verborgenen stattfindenden queeren Subkultur im Schmelztiegel Wien zu tun hatte, wage ich nicht zu beurteilen. Aber wie dem auch immer sei: In der Draufsicht oder der Rückschau galt immer das Narrativ der Sittsamkeit und Enthaltsamkeit, das nur manchmal, wie etwa in der sogenannten „sexuellen Revolution“ der 1968er-Jahre, aufgebrochen wurde. Und generell gilt, dass Sexualität erst einmal immer zunächst nur auf das jeweils andere Geschlecht ausgerichtet gesehen wurde. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass in Westdeutschland der Paragraf 175 erst 1994 gestrichen wurde und in Deutschland die Institution der Ehe erst 2017 für alle geöffnet wurde? Das zeigt ja, dass die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, sich mit queeren Lebenswirklichkeiten der Vergangenheit und der Gegenwart auseinanderzusetzen, lange einfach nicht vorhanden gewesen sein scheint und somit auch ein Schubert lieber unglücklich heterosexuell fühlend gesehen wurde als experimentierfreudig und queer.

Michael Daub (Vogl), Etelka Sellei (Grisi) und Jana Marcovic (Hederl) in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz) Hedwig Ritter (Hannerl), Peter Fabig (Tschöll), Tina Josephine Jaeger (Haiderl)

(V.l.n.r.) Michael Daub (Vogl), Etelka Sellei (Grisi), Jana Marcovic (Hederl), Hedwig Ritter (Hannerl), Peter Fabig (Tschöll) und Tina Josephine Jaeger (Haiderl) im “Dreimäderlhaus” in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

Wie haben Ihre Darsteller*innen in Linz auf das Dreimäderlhaus reagiert? Welche Erfahrungen mit dem Genre Operette haben die jungen Mitglieder des Oberösterreichischen Opernstudios mit Ihnen geteilt, wie haben sich Einstellungen zum Genre im Laufe der Proben verändert?
Das Oberösterreichische Opernstudio nimmt alle zwei Jahre sechs junge Sänger*innen auf, die dann am Linzer Landestheater vier bis fünf eigene Produktionen in der kleineren Spielstätte der BlackBox erarbeiten. Dabei ist es dem Leiter des Studios Gregor Horres, dem Intendanten Hermann Schneider und auch mir sehr wichtig, dass die Studiomitglieder in diesen zwei Jahren mit unterschiedlichen Genres und verschiedene Stilistiken in Berührung kommen. So reicht das Spektrum hier im Idealfall vom Frühbarock bis zur Moderne. Und auch die Operette spielt bei der Planung eine Rolle, weil sie natürlich allein schon aufgrund der Dialoge und auch aufgrund des etwas flexibleren stimmlichen Zugriffs auf die Partien ganz besondere Anforderungen stellt.

Die Erfahrungen der einzelnen Mitglieder mit dieser Gattung waren sicherlich unterschiedlich, aber darauf kommt es nur bedingt an. Wichtig war, dass sie vor allem Lust auf dieses Genre hatten. Und das war definitiv der Fall. Das beobachten zu können, war eine große Freude. Ebenfalls eine große Freude war, dass die sechs Studiomitglieder der queeren Thematik der Linzer Dreimäderlhaus-Fassung ganz unverkrampft und unvoreingenommen begegnet sind.

Und wie hat die Schubert-Gemeinde bzw. die Öffentlichkeit in Österreich auf Ihr queeres Dreimäderlhaus reagiert?
Unterschiedlich. Von großer Zustimmung bis hin zu ewig gestrigen Ressentiments, ob denn das jetzt wirklich sein muss, waren alle Meinungen vertreten. Ein bisschen überrascht war ich allerdings, dass ein renommierter Operettenfachmann und -kritiker uns im Bayerischen Rundfunk vorgeworfen hat, dass wir kein knalliges, queeres Spektakel aus dem Stück gemacht hätten. Da ist sie also wieder, diese althergebrachte, stereotype Sicht, dass schwule Themen, wenn man sie denn im Theater aufgegriffen werden, nur in einer möglichst schrillen Präsentationsform daherkommen sollen, damit sie durch ihren quasi erotischen Exotismus den heteronormativen Wertekanon möglichst nicht tangieren. Aber auch diese Sicht ist diskriminierend!

Genau deshalb war aber eine solche Herangehensweise auch nicht das Ziel dieser Produktion. Denn die neue Textfassung von Angelika Messner und die Inszenierung von Gregor Horres gehen ganz bewusst ganz selbstverständlich mit den schwulen Aspekten der Geschichte um. Es soll eben nicht das von der Mehrheit Abweichende möglichst schrill ausgestellt werden, sondern es soll gezeigt werden, dass bi- und homosexuelles Lieben und Begehren im wahrsten Sinne des Wortes normal, also der Norm zugehörig, ist und nichts Abseitiges.

Hedwig Ritter als Hannerl im "Dreimäderlhaus" in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

Hedwig Ritter als Hannerl im “Dreimäderlhaus” in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

In der englischsprachigen Forschung ging es zuletzt viel um Re-Framing des Unterhaltenden Musiktheaters, speziell das Musical. Warum glauben Sie reagiert die Operettenszene in Österreich nicht auf die Debatten rund um Kolonialismus, Rassismus, Feminismus, LGBTIQ usw., die die Gesellschaft beschäftigen? Wieso werden diese Themen nicht aufgegriffen, obwohl sie in Operetten überall vorhanden sind und nur darauf warten, intelligent diskutiert zu werden?
Das hat erst einmal ganz schnöde mit wirtschaftlichen Zwängen zu tun. Die Operette gilt traditionell an Theatern als die Cashcow der Opernsparte. Das heißt, dass die Erwartungen von buchhalterischer Seite an die entsprechenden Produktionen ganz klar sind: Die Platzauslastung hat hier möglichst bei 100 Prozent zu liegen. Das schließt gewisse Experimente in Hinblick auf die Präsentationsform und die Stückauswahl erst einmal aus. Und daher kommt es auch, dass Jahr für Jahr immer nur die gleichen 30 Operetten in den deutschsprachigen Ländern gespielt und inszeniert werden, obwohl es natürlich viele, viele andere Werke des Genres gibt, die nicht so bekannt sind, die es aber wert wären, gespielt zu werden. Und auch in Hinblick auf die jeweiligen Inszenierungen gilt es, gewisse traditionelle Sichtweisen zu bedienen, damit das Publikum tatsächlich auch die Säle füllt.

Das klingt jetzt erst einmal ziemlich ernüchternd und unkünstlerisch. Dennoch gibt es Regisseur*innen, die diesen Spagat annehmen: Die das Genre ernst nehmen, die die Erwartungshaltung des Publikums ernst nehmen und die aber auch ein Gespür für die von Ihnen angesprochenen „heißen Eisen“ haben. Das gleicht einer Quadratur des Kreises, die nicht immer gelingt. Aber das Problembewusstsein und auch die Könnerschaft ist vorhanden. Parallel zu dem Dreimäderlhaus in der kleinen Spielstätte hat das Linzer Landestheater in seinem Großen Saal Das Land des Lächelns auf die Bühne gebracht. Dabei spielten in der Konzeption genau die zitierten Fragen nach den Vorurteilen und Fremdzuschreibungen, die Kolonialismus und Rassismus in Lehárs Operette eingeschrieben haben, eine entscheidende Rolle.

Diesbezüglich wird freilich in den nächsten Jahren noch viel passieren (müssen), weil die gesamtgesellschaftliche Debatte ja genau die genannten Themen verstärkt und auch unter neuen und dringlicheren Gesichtspunkten verhandelt. Das wird auch an der Operette nicht spurlos vorüber gehen. Und weil Sie auch das Musical ansprechen, das hier schon weiter und näher am Puls der Zeit ist: Da ist das Linzer Landestheater ja in der glücklichen Lage dank seiner eigenen Musicalsparte sein Publikum an diesem Diskurs mit Stücken wie Hairspray, Ragtime, Priscilla oder der Uraufführung von Der Hase mit den Bernsteinaugen teilhaben zu lassen.

Jana Marcovic (Hederl), Hedwig Ritter (Hannerl) und Tina Josephine Jaeger (Haiderl) im "Dreimäderlhaus" in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

Jana Marcovic (Hederl), Hedwig Ritter (Hannerl) und Tina Josephine Jaeger (Haiderl) im “Dreimäderlhaus” in Linz, 2020. (Foto: Petra Moser / Landestheater Linz)

In letzter Zeit werden immer mehr historische Aufnahmen von Operetten neu zugänglich gemacht, auf CD oder YouTube. Was ist für Sie der größte Unterschied zwischen Operettenaufführungen in Österreich in den letzten Jahren und dem, was Sie bei Uraufführungsinterpreten wie Louis Treumann, Alexander Girardi, Fritzi Massary oder Max Hansen hören in der Lustigen Witwe, Madame Pompadour oder Im weißen Rössl?
Wir wissen alle, dass sich der Vortragsstil der Operetten nach dem Krieg sehr gewandelt hat. Die von Ihnen genannten Interpret*innen begeistern ja nicht zuletzt dadurch, dass sie einen sehr leichten, immer ein wenig ironischen und zweideutigen Tonfall anschlagen, bei dem der Text – inklusive der versteckten schlüpfrigen Botschaften zwischen den Zeilen – genau so wichtig ist wie die Musik. Wir wissen auch alle, dass die Nazis dieser Operettenkultur den Garaus machte: Treumann kam in Theresienstadt ums Leben, Massary und Hansen gingen in die Emigration. Nach dem Krieg war es deshalb kaum noch möglich, an diese Traditionen, für die die genannten Künstler*innen stehen, anzuknüpfen.

An die Stelle der charmanten Leichtigkeit trat die große Operngeste, was auch damit zusammenhing, dass sich das Klangideal der orchestralen Begleitung wandelte – weg von einer spöttischen instrumentalen Grundierung des Gesangs hin zum süffigen Opernsound. Interessant ist eigentlich, dass parallel dazu die Wagner-Interpretation genau den umgekehrten Weg ging. Statt pathetische Götter- und Heldengestalten zu porträtieren, trachtete man danach, die Charaktere auf ein menschliches Maß herunterzubrechen. Die eben skizzierte „Operisierung“ der Operette zeitigte freilich beeindruckende Gesangsleistungen.

Ich weiß, dass es in gewissen Kreisen nicht opportun ist, das zu feiern, aber was in den 1970er-Jahren zum Beispiel eine Anneliese Rothenberger oder ein Nicolai Gedda in ihren Operettenaufnahmen stimmlich boten, ist wahrlich nicht von schlechten Eltern. Es war sicherlich zu clean, und das Zweideutige fehlte. Aber gerade die Seriosität, mit der sich die beiden stellvertretend Genannten dieser Musik annahmen, bietet auch großen Genuss.

Die heutigen Interpret*innen sind ja mit genau diesen Interpretationen groß geworden. Das heißt, dieses Primat des schönen und korrekten Gesangs ist heute immer noch virulent. Was einem aber heute fehlt, wenn man die alten Aufnahmen von Massary und Co. im Ohr hat, ist diese Selbstverständlichkeit der Pointe, dieser Hauch von Boudoir und dieses Gefühl von nackter Haut auf Seidenkissen, wenn Sie wissen, was ich meine.

Haben Sie eine Lieblingsaufnahme vom Dreimäderlhaus?
Ehrlich gesagt, nein. Das hängt auch mit dem zusammen, was ich eingangs gesagt habe. Das Pathos und die Ernsthaftigkeit, mit der man sich diesem Stück, wahrscheinlich weil es hier um Schubert geht, oft genähert hat, ist oft nur schwer zu ertragen. Ein wenig mehr ironische Distanz täte hier oftmals gut. Oder eben man setzt die Jugend mit ihrer Unbeschwertheit auf dieses Stück an. Insofern brachte die Mannschaft des Oberösterreichischen Opernstudios ideale Voraussetzungen mit, sich diesem Singspiel zu widmen.

Wird es vom Linzer Dreimäderlhaus einen Stream, eine DVD oder wenigstens eine DVD geben – um die Diskussion hinaus in die Welt zu tragen?
Leider musste die Linzer Vorstellungsserie wegen des zweiten Corona-Lockdowns vorzeitig und relativ kurzfristig abgebrochen werden. Insofern bestand kaum eine Chance, diese Aufführung in welcher Form auch immer zu dokumentieren. Demnach wäre es sehr zu wünschen, dass diese Produktion die Gelegenheit zu einer Wiederaufnahme erhält. Mal schauen, ob sich da in näherer oder weiterer Zukunft etwas ergibt.

Weitere Details zur Produktion am Landestheater Linz finden sich hier.

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