Johann Strauss’ moderne “Journalisten-Operetten”: “Fürstin Ninetta” & “Waldmeister”

Marion Linhardt
Operetta Research Center
20 January, 2018

Nach der Uraufführung von Fürstin Ninetta am 10. Jänner 1893 schrieb die Tageszeitung Die Presse: „Die Musik der Operette ist nicht mehr wie einst Erlösung von plattem Dialog – sie könnte oft als Störung gelten, wenn es nicht eben Strauß’sche Musik wäre“.[i] Als Johann Strauss in den frühen 1890er Jahren nach der Komposition dreier mehr oder weniger explizit als „Opern“ konzipierter und präsentierter Bühnenwerke – Zigeunerbaron von 1885, Simplicius von 1887 und Ritter Pásmán von 1892 – zum Genre Operette zurückkehrte (ein Sachverhalt, der übrigens in zeitgenössischen Blättern ausführlich thematisiert wurde), bedeutete dies zugleich einen gravierenden Einschnitt hinsichtlich seiner Kooperationspartner: Nicht nur ,fehlten‘ jetzt Richard Genée und F. Zell, die für Strauss eine ganze Reihe von Operettenlibretti verfasst hatten, mit denen es allerdings in den 1880er Jahren zu einem Zerwürfnis gekommen war; neu war auch, dass Strauss nun für einige Stücke mit renommierten Wiener Journalisten zusammenarbeitete. Zwei von ihnen, Hugo Wittmann und Julius Bauer, hatten in den Jahren von Strauss’ Operetten-Abstinenz nicht zuletzt in Kooperationen mit Carl Millöcker einiges an Routine beim Verfassen von Operettentexten erworben.[ii] Wittmann, der mit der Operettensängerin Helene Weinberger, der Mutter des Komponisten Karl Weinberger, verheiratet war, betätigte sich etwa bis zur Jahrhundertwende als Operettenlibrettist, Bauer hingegen blieb auch nach 1900 im Operettengeschäft und kooperierte mehrfach mit Franz Lehár, dem wohl maßgeblichen Vertreter der auf Strauss und Millöcker folgenden Generation von Operettenkomponisten.

Cartoon from the newspaper "Die Bombe," illustrating the original Viennese production of "Der Zigeunerbaron."

Cartoon from the newspaper “Die Bombe,” illustrating the original Viennese production of “Der Zigeunerbaron.”

Bekanntlich verkörperte Bauer für Karl Kraus wesentliche Eigenheiten der von Kraus verabscheuten „modernen Operettenszene“. Der dritte Wiener Journalist, der in den 1890er Jahren als Librettist für Strauss arbeitete, Gustav Davis, verfasste nur wenige Operettentexte, reüssierte aber über Jahrzehnte immer wieder als Lustspielautor. Strauss’ Wiederaufnahme seiner Operettentätigkeit, über die er selbst mehr als einmal bitter klagte, forderte ihm also aufgrund der neuen Librettisten einen veritablen Neustart hinsichtlich von Arbeitsprozessen ab. Kontinuität gewährleistete da sein wichtigster Darsteller: Alexander Girardi. Doch auch Girardi erwies sich in Strauss’ neuer ,Operettenphase‘ aufgrund ausgeprägter Launenhaftigkeit zunehmend als Problem; die „Girardi-Krise“ im Vorfeld der Premiere von Waldmeister – deren Auslöser unter anderem Streitereien zwischen Girardi und dem Librettisten Davis waren[iii] – bildete hier einen nervenaufreibenden Höhepunkt.

Newspaper drawing for Strauss' "Fürstin Ninetta." (Photo: Archive Marion Linhardt)

Newspaper drawing for Strauss’ “Fürstin Ninetta.” (Photo: Archive Marion Linhardt)

Hugo Wittmann, Julius Bauer und Gustav Davis, erstgenannter Feuilletonist der Neuen Freien Presse, der zweite u. a. jahrzehntelanger Redakteur des Illustrierten Wiener Extrablatts, der dritte Gründer der Österreichischen, später Illustrierten Kronen-Zeitung: Mit Fürstin Ninetta und Waldmeister haben diese drei Publizisten Libretti für Strauss verfasst, die nicht nur im Schaffen von Strauss selbst für die Abkehr von der Operntendenz standen. Mit ihren Gegenwartsstoffen und ihrer am Lustspiel orientierten Dramaturgie und Figurenkonstellation stehen sie paradigmatisch für eine ganz grundsätzliche Entwicklung des Genres, das zumal in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre opernnahe Formen angenommen hatte, jetzt aber dezidiert in musikdramaturgische und stoffliche Distanz zur Oper trat. Damit stellte sich auch die Frage nach dem quantitativen und qualitativen Verhältnis von Musik und Text bzw. von Musik und Handlung neu.

Das Verhältnis von Text und Musik: damit ist jenseits des musikdramaturgischen Erscheinungsbildes eines Bühnenstücks in ganz konkreter Weise zunächst einmal das Verhältnis zwischen dem Librettisten und dem Komponisten als Künstlerpersönlichkeiten bzw. mehr oder weniger erfahrenen Handwerkern angesprochen und damit zugleich die je spezifische Form der Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit verlief sowohl bei Fürstin Ninetta als auch bei Waldmeister durchaus problematisch. Bauer und Wittmann, die Ninetta-Librettisten, die ursprünglich an einer Kooperation mit Strauss ebenso brennend interessiert waren wie Strauss selbst, erwiesen sich für Strauss in mehr als einer Hinsicht als unglückliche Wahl. Die erfolgreichen und gewieften Librettisten setzten den mit seinen vorangegangenen Werken gescheiterten Strauss zeitlich, in finanzieller und vertragsrechtlicher Hinsicht massiv unter Druck, und vor allem: sie gewährten weder ihm, dem Komponisten, noch den Verantwortlichen am Theater an der Wien zeitgerecht Einblick in das vollständige Buch. Ergebnis war nach Strauss eigener Auffassung ein Machwerk, in dem Musik und Text in keiner sinnvollen Beziehung zueinander standen. Was er in der frühesten Phase seines Austauschs mit Bauer problematisiert hatte, nämlich dass man ihm als Erstes einen Stoff vorgelegt hatte, bei dem kein Bedürfnis nach Musik vorhanden sei, war in seinen Augen mit Fürstin Ninetta traurige Realität geworden. Nach der Premiere klagte er gegenüber Paul Lindau:

Es ist eine zerfahrene, schwulstige Geschichte, die eigentlich gar keine Musik braucht, denn das ganze ist nur da, um die Witze des Julius Bauer, die mitunter ganz vortrefflich sind, an den Mann zu bringen und Handlung und Musik bilden die Einrahmung. Fürstin Ninetta ist nichts anderes als die Exposition der Witze des Julius Bauer. Von Handlung keine Spur, ebenso von Bedürfnis der Musik. Ich habe nie das Libretto mit seinem Dialog vor mir gehabt, nur die Gesangstexte. Ich habe demnach manches zu edel aufgefasst, was der Sache Schaden gebracht hat. In diesem Buche gibt es nichts, was edel aufzufassen ist. Bei den letzten Proben, bei welchen ich die ganze Geschichte kennenlernte, war ich ganz erschreckt. […] Die Musik passt gar nicht zu diesem tollen, confusen Zeug. Ninetta ist ein Schwank tollster Gattung ohne Musik (oder höchstens ein paar Schnaderhüpfeln).“ (Brief vom 21. Jänner 1893)

The singer Ilka Palmay. (Photo: Archive Marion Linhardt)

The singer Ilka Palmay. (Photo: Archive Marion Linhardt)

Erste Erfahrungen mit Gustav Davis als Textautor hatte Strauss bei der Operette Jabuka gemacht, für deren Buch Davis gemeinsam mit Max Kalbeck verantwortlich zeichnete.[iv] Bereits im Sommer 1894, während auf allen Seiten noch an Jabuka gearbeitet wurde, entwarf Davis ein neues Libretto für Strauss, das schon zu diesem frühen Zeitpunkt den Titel Waldmeister trug. Strauss war rasch enthusiasmiert vom Stoff und engagierte sich sehr für eine ideale Besetzung der Hauptrollen, für die ihm neben Alexander Girardi Ilka Palmay vorschwebte. Die ausgeprägte Identifikation Strauss’ mit dem neuen Stück wich jedoch bald Unmut und Ärger. Auch das Buch zu Waldmeister blieb Strauss als Ganzes bis zu einem späten Zeitpunkt unbekannt. Seine Zweifel an der Wirksamkeit von Davis’ Arbeit reichten soweit, dass sogar erwogen wurde, Davis den noch kurz zuvor als Operettenlibrettisten so kritisierten Julius Bauer an die Seite zu stellen, wozu es allerdings nicht kam. Die durchwegs eher kritischen, teils sogar vernichtenden Urteile der Uraufführungsrezensenten über das Buch sprachen Strauss wohl bis zu einem gewissen Grad aus dem Herzen. Zu den gemäßigteren Stimmen gehörte diejenige der Wiener Abendpost, in der es hieß: „Ueber all dem und der Fülle von reizenden Melodien, die aus Strauss’ Wunderhorn ertönten, war die Theater-Sperrstunde längst vorüber, und man hatte noch immer nicht begreifen gelernt, warum der Componist sich die drückende Kette unsagbarer und unsangbarer Langeweile des Textbuches ,Waldmeister‘ um Hals und Arme gelegt.“[v] Der Humorist urteilte gnadenlos: „Es ist merkwürdig, welches Pech Herr Strauss mit seinen Textbüchern hat! Wir wetten, daß er, wenn ihm 20 Librettis zur Vertonung eingereicht werden, worunter 18 vernünftige und witzige, er sicherlich das zwanzigste, das humorloseste, blödeste acceptirt. Und solch’ ein zwanzigstes ist der ,Waldmeister‘.“[vi]

Thesen zum Verhältnis von Text und Musik in der Operette

Überblickt man die Wiener Operettenproduktion seit den ersten Strauss-Operetten bis in die Zwischenkriegszeit, dann erweisen sich die 1890er Jahre als merkwürdig unspezifische Phase, vielleicht als Phase des Übergangs, die sich hinsichtlich der vorherrschenden musikdramatischen Modelle nur schwer auf einen – oder zwei – Nenner bringen lässt. Viele der Wiener Operetten jener Zeit entstanden in Reaktion auf die neue englische Tanzoperette und Burleske sowie auf die moderne französische Operette, die in Wien in der Regel als Vaudeville präsentiert wurde. Zumal im Umfeld von Waldmeister kam eine ganze Reihe auf die aktuellen französischen und englischen Trends abgestimmter Wiener Stücke heraus, darunter Rudolf Dellingers Die Chansonette und Karl Weinbergers Primaballerina. Ein entscheidender Sachverhalt, auf den im vorliegenden Rahmen nicht eingegangen werden kann, ist die gegenüber der Gründerzeit veränderte Funktion des Genres Operette angesichts veränderter Publikumsstrukturen.

Die 1890er Jahre stellen jenen Zeitabschnitt der Wiener Operettenproduktion dar, der längerfristig den geringsten Nachhall in den Repertoires der Theater fand. Soweit ich dies überblicke, lassen sich genau zwei Stücke benennen, für die sich eine tatsächliche Aufführungstradition herausgebildet hat: Carl Zellers Der Vogelhändler, Text Moritz West und Ludwig Held, und Adolf Müllers Wiener Blut nach Tanzmusik von Johann Strauss, Text Victor Léon und Leo Stein. Was zeichnet diese beiden Stücke aus? Mit der Antwort möchte ich eine grundsätzliche These zur „Lebensfähigkeit“ von Operetten verbinden (wobei zu bedenken ist, dass die entsprechenden Stücke zu ihrer Zeit selbstverständlich unter den Vorzeichen der Tagesproduktion begriffen wurden): Erstens besitzt Der Vogelhändler ebenso wie Wiener Blut ein stimmiges Buch mit einer Geschichte, die um eine funktionierende und ein bloßes Tagesinteresse überschreitende Bühnengesellschaft gebaut ist, zweitens weisen beide Stücke ein Musik-Text- bzw. Musik-Plot-Verhältnis auf, in dem Musik in der einen oder anderen Weise eine Notwendigkeit in Bezug auf den (musikalisierten) Text ist, in dem also den musikalischen Nummern eine Funktion zukommt, die über diejenige eines klingenden Ausstattungselements hinausreicht. Beide Kriterien bedürfen näherer Erläuterung, und dies insbesondere, weil sie aufs Erste hin banal scheinen.

The piano score for "Der Vogelhändler".

The piano score for “Der Vogelhändler”.

Der Vogelhändler und Wiener Blut vergegenwärtigen jeweils eine genau bezeichnete historische Konstellation: einmal die Pfalz am Ende des 18. Jahrhunderts als Absatzmarkt des Tiroler Vogelhändlers Adam, im anderen Fall das Wien der Kongresszeit. Zeller, West und Held konfrontieren in Der Vogelhändler unterschiedliche soziale Milieus miteinander. Die Musik kann der Charakterisierung dieser Milieus nicht zuletzt deshalb dienen, weil sie Teil dieser Milieus ist – der Welt der kleinen Leute (Adam und Christel) ebenso wie der Welt des Hofes. Darüber hinaus fungiert die Musik zumal in den Solonummern häufig als Medium gesteigerter Emotionalität bzw. der Überschreitung der äußeren Handlung hin zu innerem Erleben. Wiener Blut entfaltet ein Zeittableau mit zahlreichen charakteristischen Typen, die in eine Intrigenhandlung involviert sind. Die Musik entspringt auch hier zum Teil unmittelbar der geschilderten Welt, ist also Teil der Diegese. Vor allem aber dienen die Tanzkompositionen von Johann Strauss, die der Partitur zugrunde liegen, in gleicher Weise der Evozierung eines ,urwienerischen‘ Lebensgefühls wie die Handlung, deren Hauptzweck ja die Ausspielung dessen ist, was das Wiener Publikum als seine „Identität“ begriff. Handlung und Musik wirken hier also als Medien der Identitätsstiftung bzw. -befestigung zusammen. In welchem Ausmaß Strauss’ Musik zu einem konstitutiven Element der Wiener Identität geworden war, wird gerade in der explizit oder implizit formulierten Ernüchterung greifbar, die in vielen Reaktionen auf Strauss’ späte Operetten – darunter Fürstin Ninetta und Waldmeister – mitschwang: man suchte in ihnen wieder und noch immer den Strauss früherer Jahrzehnte, und die Enttäuschung, die diese Stücke vielfach auslösten, basierte weniger auf deren mangelnder kompositorischer Qualität als auf der Wahrnehmung des Verlustes dessen, was Strauss zum Inbegriff des Wienerischen gemacht hatte und was aus der Sicht der Zeitgenossen offenbar nur noch bedingt in den neuen Stücken aufzufinden war. Wie eine Beschwörung klingt in diesem Zusammenhang die Einleitung zur Besprechung von Waldmeister im Wiener Salonblatt: „Selten war ein Name mit dem Wienerthum so sehr verwoben wie jener unseres Walzerkönigs. Wien und Strauß sind zwei Begriffe, die sich völlig decken. Beide enthalten alle Lust und Freude der Donaustadt. In ihnen liegt das schönste, was uns die Heimat werth macht: die Erinnerung von der Kindheit an bis in den Winter des Lebens, mit ihrer üppigen Fülle zarter und schöner Dinge.“[vii]

Haben Wittmann/Bauer und Davis für Strauss eigentlich „Operettenlibretti“ geschrieben?

Wenden wir uns zunächst Waldmeister zu. Das Textbuch von Gustav Davis erweist sich bei eingehender Betrachtung als Konglomerat von Elementen mehrerer Traditionen des komischen bzw. heiteren Theaters. (Den Begriff „Gattung“ vermeide ich bewusst.) Waldmeister ist, obwohl in der Gegenwart angesiedelt, kein ,modernes‘ Stück. Die Begegnung der spießbürgerlichen Kreise einer sächsischen Kleinstadt mit einer eher unkonventionellen Sängerin der Dresdner Oper, die den Ausgangspunkt der Verwicklungen bildet, könnte in identischer Weise schon 1840 oder 1860 als Lustspiel bearbeitet worden sein. Bloße Äußerlichkeit bleibt hier die Einbeziehung dreier aktueller Phänomene: Pauline, die Sängerin, und ihre Freundinnen frönen dem seit den 1880er Jahren zunehmend popularisierten Lawn-Tennis, Erasmus Müller, der Plauener Botanikprofessor, führt einen fotografischen Momentapparat mit sich, wie ihn Ottomar Anschütz um 1890 entwickelt hatte, und er erwähnt in einem Couplet implizit die Five Sisters Barrison, die seinerzeit die Sensation in den eleganten Varietétheatern Europas waren. Als Lustspiel mit dezenten satirischen Untertönen lässt sich Waldmeister in der Reihe der im 19. Jahrhundert vielgespielten Stücke etwa Eduard von Bauernfelds oder Roderich Benedix’ sehen, hinter denen er allerdings hinsichtlich der Qualität des Dialogs und der Figurencharakteristik weit zurückbleibt. Eingeschaltet in die konventionelle Lustspielhandlung, die selbstverständlich auf eine Anzahl von Verlobungen zielt, sind Situationen, die auf der standardisierten Kommunikations- und Körperkomik der älteren und neueren Posse und des Schwanks basieren und die nur ohne Musik funktionieren.

Als Buch für eine Operette erweist sich Davis’ Libretto in doppelter Weise als problematisch. Blickt man von den 1890er Jahren nach vorne ins 20. Jahrhundert, in dem Gegenwartssujets in der Operette vorherrschten, dann fällt auf, dass dem Waldmeister-Libretto jene Dimension völlig fehlt, von der in der modernen Operette etwa eines Lehár oder Oscar Straus die Musik ganz wesentlich ausging, nämlich das emotionale Erleben der dramatis personae. Davis’ Figuren sind auch in den amourösen Verwicklungen absolut schematisch gezeichnet, die betreffenden musikalischen Nummern wie das Lied Bothos, in dem er seine erste Begegnung mit Freda schildert, oder das Duett Botho/Freda entfalten über die Musik keine individuellen Facetten der Figuren. Während das Waldmeister-Buch also (noch) keine Optionen für eine Psychologisierung der Figuren (auch) mit den Mitteln der Musik eröffnet, bietet es mit seinem quasi-realistischen Gegenwartssujet nicht mehr den adäquaten Rahmen für jene Nummerntypen, die in der Operette der 1870er und 1880er Jahre mit ihren teils fantastisch-märchenhaften, teils historischen Stoffen als Konvention ausgebildet worden waren. Dieser Konvention entsprechen in Waldmeister etwa das Ensemble Nr. 5 und das Klatsch-, Strick- und Blümchenkaffee-Septett. Bestimmte konventionalisierte musikalische Nummerntypen in ein Lustspiel zu übernehmen, macht – so meine These – noch keine Operette. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die besondere Aufmerksamkeit der zeitgenössischen Beobachter dem II. Finale von Waldmeister galt: nicht nur stand hier der eingängige Hauptwalzer des Stücks im Mittelpunkt, der bereits in der Ouvertüre exponiert worden war, hier findet sich auch die einzige Situation der Handlung, die ein musikalisches Potenzial besitzt. Die Rausch- und Tanzszene bei der Verlobungsfeier im Hause Heffele, bei der kalter Lindenblütentee heimlich durch Waldmeisterbowle ersetzt wird, wurde bezeichnenderweise immer wieder mit dem II. Akt der Fledermaus verglichen.

Johann Strauss in Ischl, 1897. (Photo: Die Villen von Bad Ischl/Amalthea)

Johann Strauss in Ischl, 1897. (Photo: Die Villen von Bad Ischl/Amalthea)

Wenn Strauss über das Libretto von Fürstin Ninetta schreibt, es gäbe darin kein „redlich Fühlen, – keine Wahrheit, keine Vernunft – endlich – nur Narretei!!!“ (Brief an Paul Lindau vom 21. Jänner 1893), so umreißt er damit in seinen Worten einen Sachverhalt, den man in einem wissenschaftlichen Vokabular als Spiel auf einer Meta-Ebene bezeichnen könnte.

Ohne für das Libretto von Bauer und Wittmann einen einheitlichen Stil behaupten zu wollen, den es keineswegs hat, lässt sich doch festhalten, dass große Passagen des Textes als persiflierende oder satirische Reflexion auf zeitgenössische literarische, soziale und politische Diskurse und auf das Theater selbst erscheinen, dass also die gezeigten Figuren tatsächlich nicht „redlich fühlen“, weil sie quasi ein Element der Brechung in sich tragen. Die selbstreflexive Tendenz wird besonders deutlich im zentralen Hypnotisier-Duett, in dem Ilka Palmay alias Ninetta, scheinbar in magnetischen Schlaf versetzt, als Eleonora Duse auftritt und Alexander Girardi alias Kassim Pascha einen Tenoristen gibt, der als Parodie auf – Alexander Girardi angelegt ist. Die große Auftrittsszene des älteren Liebespaares Anastasia und Prosper ist als Persiflage auf das Liebespathos trivialer Dramen oder Romane konzipiert. Extrem überzeichnet und damit in gewisser Hinsicht eine Reflexion auf den Typus „Diva“ im Medium „Diva“ ist die exzentrische Titelfigur Ninetta.

Viele Handlungssequenzen des Stücks stellen sich als geschlossene komische Nummern dar, wie sie als Sketche auch im Varieté der Zeit zu finden gewesen wären – eine dramaturgische Eigenheit, die für die ,nicht-mehr-opernhafte Operette‘ phasenweise charakteristisch war. Diese lose Struktur ähnelt derjenigen der zeitgenössischen englischen musical comedy. Das Verhältnis zwischen Musik und Text bzw. zwischen Musik und Handlung ist in Fürstin Ninetta bedingt durch das Verhältnis zwischen Text und Handlung. Aufgrund der Tatsache, dass der Text im Wesentlichen auf komische oder skurrile Episoden und die erwähnten satirischen Reflexionen entfällt und nur zu einem geringen Teil dazu dient, eine konzise Ereignisfolge zu konstituieren und Charaktere zu entfalten, wirken Strauss’ musikalische Nummern, die in ihrem spezifischen Modus der Textvertonung den Figuren eine Tiefendimension verleihen (wollen), für die die Handlung keinerlei Fundament liefert, als Fremdkörper. An den Übergängen zwischen Dialog und musikalischen Nummern ergeben sich regelrechte Stilbrüche, so zu Beginn des Finales I mit dem „Brautchor“. Das Finale II, das sich in den melodischen Figuren, in der Instrumentation und im dramatischen Gestus auf die Oper der Romantik bezieht, ist für sich genommen ,ernst gemeint‘ und vermag den selbstreflexiv-kommentierenden Duktus des Dialogs nicht aufzunehmen – was im Rahmen eines entsprechenden musikdramatischen Konzepts durchaus vorstellbar wäre.

Alexander Girardi as Kassim Pascha in "Fürstin Ninetta" by Johann Strauss. (Photo Archive Marion Linhardt)

Alexander Girardi as Kassim Pascha in “Fürstin Ninetta” by Johann Strauss. (Photo Archive Marion Linhardt)

Trifft auf Fürstin Ninetta zu, was Strauss beklagte – nämlich dass es sich hier um ein Stück handle, das gar keine Musik gebrauchen kann? Im Kontext der Entwicklung des musikalischen Unterhaltungstheaters, wie sie sich ab den 1890er Jahren vollzog, ist Strauss’ Argument nach meinem Dafürhalten nicht zuzustimmen. Tatsache ist, dass Fürstin Ninetta eine Musik von ganz anderer Art gebraucht hätte als diejenige, die Strauss komponiert hat. Verkürzt formuliert stehen in Fürstin Ninetta ein Text, der im Großen und Ganzen darauf zielt, dramatische, literarische und soziale Konventionen auszustellen, und eine Musik, die unmittelbar wirken will, nebeneinander. Ob die Unvereinbarkeit dieser beiden Zugangsweisen allein darauf zurückzuführen ist, dass Strauss während des Arbeitens an der Partitur keine umfassende Kenntnis des Textbuchs hatte, scheint mir zweifelhaft. Denn: hätte Strauss eine Musik komponieren können und vor allen Dingen wollen, die sich – vergleichbar dem Text – auf eine selbstreflexive Ebene begibt?

Vorveröffentlichung eines Referates, gehalten am 14. März 2015 bei den „Tanz-Signalen 2015“, mit freundlicher Genehmigung des „Wiener Instituts für Strauss-Forschung“ (WISF; www.johann-strauss.at).

[i] r. h., „Fürstin Ninetta“, in: Local-Anzeiger der „Presse“, 11. Jänner 1893, S. 9.

[ii] Von den Libretti, die Wittmann und Bauer bis zu Fürstin Ninetta teils gemeinsam, teils mit anderen Partnern verfasst hatten, seien hier genannt: Der Feldprediger, Die sieben Schwaben, Der arme Jonathan und Das Sonntagskind für Millöcker, Der Hofnarr und Der Liebeshof für Adolf Müller jun. sowie Pagenstreiche und Die Ulanen für Karl Weinberger (sechs dieser acht Operetten enthielten wichtige Partien für Alexander Girardi).

[iii] Vgl. hierzu u. a.: „Alexander Girardi. Ein Interview über die Waldmeister-Krise. Von Ferry Bèraton“, in: Wiener Salonblatt, 8. Dezember 1895, S. 10–11.

[iv] Es hatte bei diesem Stück zwar regen Austausch zwischen dem Komponisten und den Librettisten gegeben, nicht allerdings zwischen den beiden Librettisten, was zu vielerlei Misshelligkeiten führte, die in der Johann-Strauss-Briefausgabe ausführlich dokumentiert sind.

[v] „Theater“, in: Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung, 5. Dezember 1895, S. 5.

[vi] K., „Theater und Kunst“, in: Der Humorist, 10. Dezember 1895, S. 2.

[vii] F. B., „Waldmeister“, in: Wiener Salonblatt, 8. Dezember 1895, S. 11–12, hier S. 11.

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