Kosky macht Kopfkino: Minimalistisches Mahagonny

Kevin Clarke
klassik.com
3. Oktober 2021

Kurz nachdem im Spätsommer die lang erwartete (und mehrfach verschobene) Dreigroschenoper am Berliner Ensemble herauskam und ekstatische Reaktionen hervorrief, ging nun ein paar Meter weiter, auf der anderen Spreeseite, das andere berühmt-berüchtigte Brecht/Weill-Bühnenwerk in Premiere: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny an der Komischen Oper.

Allan Clayton (Mitte) als Jim Mahoney in "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" an der Komischen Oper Berlin. (Foto:  Iko Freese / drama-berlin.de)

Allan Clayton (Mitte) als Jim Mahoney in “Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” an der Komischen Oper Berlin. (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Für beide Produktionen zeichnet Regisseur Barrie Kosky verantwortlich und beide zeigen, wie die Wirkung grundverschieden sein kann, obwohl die jeweiligen minimalistischen Konzepte nicht unähnlich sind. Denn in beiden Fällen spielen die Brecht’schen Lehrstücke mit ihrer antikapitalistischen Botschaft auf einer schwarzen leeren Bühne, die den Darstellern und der Musik maximalen Raum zur Entfaltung gibt.

Wir erinnern uns: Im Fall der Dreigroschenoper agiert ein spielfreudiges BE-Schauspielensemble auf einem riesigen Gerüst, das sich verschieben und immer wieder neu arrangieren lässt. Dazu sitzt Adam Benzwi mit seinem kleinen Dreigroschen-Orchester im Graben und sorgt für eine echte Neuentdeckung der Weill-Partitur, die er explosiv gegen den Strich bürstet und so brutal und roh klingen lässt, wie das selten zu erleben ist. Ein Ereignis. Die Charakterdarsteller auf der Bühne fügen dem ihre hochindividuelle Rollengestaltung hinzu, die teils ebenfalls Ereignis ist. Jetzt, bei Mahagonny sieht man statt eines Gerüsts zwei große schräg gestellte Wände, die von einem schwarzen Vorhang mit weißen Kreuzen bedeckt sind (Bühnenbild: Klaus Grünberg).

Nach dem Hurricane, der im Finale des 1. Akts über die Fantasiestadt Mahagonny gezogen ist (von dem man diesmal allerdings auf der Bühne nichts sieht, vermutlich, weil der Sturm metaphorisch sein soll), werden die Gardinen zur Seite gezogen, und es kommen riesige Spiegelwände zum Vorschein, die das Geschehen doppelt und dreifach reflektieren.

In dem dabei entstehenden Dreieck aus Gardine/Spiegel agieren in der Behrenstraße, anders als am Schiffbauerdamm, keine Charakterdarsteller mit übersprudelnder Spielfreude, sondern Opernsänger. Mit teils großartigen Stimmen. Allan Clayton beispielsweise verfügt über einen strahlend-schlanken Tenor, der sich von der mörderisch gesetzten Partie des Jim Mahoney nie einschüchtern lässt, sondern sie nachgerade spielerisch bewältigt. Er steht derweil da, wie ein zerzauster Hippie-mit-Stirnband, dem ich den Holzfäller aus Alaska nicht abnehme und der für mich als zentraler Figur nicht fassbar wird, weil ich keinerlei Empathie für ihn entwickeln kann.

Clayton ist ein exzellenter Sänger, aber kein Gestalter, weder vokal noch schauspielerisch. Darauf kann man auf zwei Arten reagieren: entweder man denkt sich seinen Teil selbst, liest vielleicht vorab das erklärende Interview mit Barrie Kosky im Programmheft („über Bibel, Selfies und den Sündenbock“), und füllt die Leerstellen entsprechend im Geiste aus. Oder man langweilt sich.

Nadja Mchantaf als Jenny in "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" an der Komischen Oper Berlin. (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Nadja Mchantaf als Jenny in “Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” an der Komischen Oper Berlin. (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Das gilt im Grunde auch für alle anderen Sänger des Abends. Nadja Mchantaf als Hure Jenny singt mit bezaubernden Soprantönen, die weitestmöglich entfernt sind von Lotte Lenyas berühmter Aufnahme aus den 1950er-Jahren. Aber wer diese Jenny ist, verdeutlicht Mchantaf in ihren Solostellen „Moon of Alabama“ und „Wie man sich bettet, so liegt man“ nicht. Sie bietet sirenenhafte Töne, die einschmeicheln. Dass es hier um sexuelle Verführung und beim zweiten Lied um den menschlichen Verrat an ihrem Liebhaber Jim geht, der wegen ihr zum Tode verurteilt wird, das muss man wissen. Denn als emotionaler Wendepunkt gezeigt wird es nicht.

Trotzdem hat Mchantaf anrührende Momente, etwa wenn sie zerbrechlich (und von der gesamten Holzfällermannschaft bestiegen) mit verschmiertem Lippenstift dasteht. Ein Bild des Elends. Dem aber das Faszinationsmoment fehlt, das Lenya in jeder nebenbei hingeworfenen Textzeile hatte. Denn wo Lenya die Sexarbeiterin mit Trotz und kämpferischer Selbstbehauptung spielte, geht Mchantaf als Jenny an der Situation kaputt.

Nadine Weissmann als Witwe Begbick ist zusammen mit Ivan Turšić als Prokurist Fatty und Jens Larsen als Dreieinigkeitsmoses eine spannend-korrupte Staatsmacht, die in der Wüste die Stadt Mahagonny gründet. Aber wer genau die drei sind in diesem Moralitätenspiel, muss man ebenfalls wissen. Man sieht es nicht. Und vieles von dem, was sie singen, bleibt sprachlich unverständlich; man muss teils sehr genau die Übertitel mitlesen, um etwa die Gerichtsszene zu verstehen. In dieser glänzen Adrian Kramer als Tobby Higgings und Tom Erik Lie als Sparbüchsenbill (plus Tijl Faveyts als Alaskawolfjoe). Teils sieht die Gerichtsszene aus wie eine arme Verwandte der Gerichtsszene aus dem Kander-&-Ebb-Musical Chicago in der aktuellen Broadway-Fassung. Aber die hat eine Choreografie nach Bob Fosse. Hier gibt es keine Choreographie. Und das merkt man. Obwohl Adrian Kramer als einziger so etwas wie Musicalgelenkigkeit mitbringt und entsprechend positiv auffällt.

Tom Erik Lie (l.) als Sparbüchsenbill in der Gerichtsszene mit Allan Clayton. (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Tom Erik Lie (l.) als Sparbüchsenbill in der Gerichtsszene mit Allan Clayton. (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Ansonsten laufen Chor und alle Solisten ab Akt 2 in schwarzen Glitzerkostümen herum, die einen gewissen Showbusiness-Flair verbreiten, aber – zumindest auf mich – in dieser Wild-West-Geschichte vollkommen fehl am Platz wirken (Kostüme: Klaus Bruns). Da machen die vergleichbaren Chicago-Kostüme bei einer vergleichbaren schwarzen Gesellschaftssatire mehr Effekt, weil da der Minimalismus der Inszenierung mit atemberaubenden Bewegungen durchpulst wird.

Im Orchestergraben steht GMD Ainārs Rubiķis und lässt Weills Musik saftig aufspielen und krachen, mit teils ungewöhnlichen Temporückungen. Ein wilder Klangrausch. Keine Spur von der didaktischen Trockenheit eines Wilhelm Brückner-Rüggeberg, der in den 50ern die Modellaufnahme mit Lenya leitete. Natürlich verfehlt diese Sound-Orgie ihre Wirkung nicht, aber mit den scharfen Stil-Kontrasten kann Rubiķis nicht wirklich etwas anfangen. Bei ihm klingen die Zeitopernelemente, Bach-artigen Choräle und mit Banjos unterlegten Kaschemmenlieder grundsätzlich gleich. Und am Ende, wenn Gott nach Mahagonny kommt (mit drei Tamtamschlägen eingeleitet), steigert sich die Musik nicht zum Überwältigungsfinale, sondern bleibt fast fünf Minuten auf einem maximalen Lautstärkeeinheitsniveau. Während auf der Bühne ein kleiner Affe als „Gottmaschine“ bzw. „mechanischer Golem“ (wie Kosky es beschreibt) herumkurvt.

Die live gestreamte Premiere erzeugte beim anwesenden Publikum (zu dem auch Adam Benzwi gehörte) gemischte Gefühle. Als in der Hinrichtungsszene Jim Mahoney nicht gehängt, sondern von allen Chorsolisten à la Agatha Christie einzeln erstochen wird mit einem Theaterklappmesser (mit dem ihm zuvor die Augen ausgestochen worden waren), rief jemand aus dem Parkett laut: „Scheiße! Alles Scheiße!“

Zum Schlussapplaus grummelte es dann um mich herum merklich, als würde gleich ein Buhsturm losbrechen. Doch der blieb aus, vermutlich aus Respekt für Barrie Kosky und das Haus, das viele so sehr ins Herz geschlossen haben. Ich auch.

Ein Freund aus New York, der sich den Live-Stream anschaute, schrieb mir von seiner Begeisterung für die Produktion. Für ihn, der die meiste Zeit konventionell-realistisches Theater am Broadway sehen muss, ist diese Form vom Abstraktion und Minimalismus „anders“ und ein Erlebnis, das er nur in Deutschland haben kann. Es erlaubt ihm, seiner Fantasie beim Zuschauen freien Lauf zu lassen und seine eigene ideale Weill-Inszenierung-im-Kopf draufzuprojezieren. Entsprechend positiv reagierte er auf die Kosky-Umsetzung, auch wenn er die beiden „Scheiße“-Rufe im Stream deutlich vernahm, wie er sagte.

Eine historische Belehrung über die Gefahren des Kapitalismus – wie sie Joachim Herz 1977 zu DDR-Zeiten an der Komischen Oper zeigte – ist heute vermutlich nicht mehr zeitgemäß, wo Die Linke im Bund an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist und sie sogar im rot-rot-grünen regierten Berlin Stimmverluste hinnehmen musste (der grüne Justizsenator saß neben mir, der linke Noch-Kultursenator war auffallend abwesend).

Das heißt jedoch nicht, dass die Themen, um die es in Mahagonny geht, an Aktualität verloren hätten. Und dass die alttestamentarische Wucht der Geschichte nicht immer noch erschüttern kann.

Deshalb finde ich es wunderbar, dass die beiden berühmten Brecht/Weill-Stück jetzt wieder auf den Berliner Spielplänen stehen und parallel zueinander laufen. Quasi als Soundtrack zur doppelten Regierungsbildung auf Bundes- und Landesebene. Ob dabei der Hauptdarsteller den Barpianisten auch anpissen, bleibt abzuwarten. In der Komischen Oper tut das Jim in einer Schock-Szene, die aber zu nichts weiter führt… außer zu Abschütteln.

Der Stream ist übrigens vier Wochen lang auf der Homepage der Komischen Oper abrufbar. Und lädt dazu ein, sich selbst eine Meinung zu bilden. Denn: „…dieses ganze Mahagonny ist nur, weil alles so schlecht ist, weil keine Ruhe herrscht und keine Eintracht, und weil es nichts gibt, woran man sich halten.“

Zur ursprünglichen Version des Artikels bei klassik.com geht’s hier.

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