Der jüdische Antisemit: LÉON JESSEL

Hans-Dieter Roser
Programmheft Bühne Baden – Stadttheater Baden bei Wien
1 September, 2010

Wäre es nach dem Willen seiner jüdischen Eltern Samuel und Mary Jessel gegangen, dann wäre aus dem in Stettin am 22. Jänner 1871, nur vier Tage nach der Proklamation des Preussenkönigs Wilhelm zum deutschen Kaiser, geborenen ersten Sohn Léon ein achtbarer Textilkaufmann geworden.

Composer Léon Jessel.

Composer Léon Jessel.

Aber der in der Textilbranche angestellte Vater spielte auch ganz ordentlich Geige und die Mutter Klavier, was den beruflichen Wünschen der Eltern für den Sohn den nötigen Nachdruck raubte. Denn schon der kleine Knabe hörte mit Begeisterung seiner Mutter beim Klavierspielen zu, wurde früh von ihr unterrichtet, erhielt mit sieben Jahren professionellen Klavierunterricht und war seit seinem ersten Besuch des renommierten Stettiner Stadttheaters sofort dem Zauber der Bühne verfallen. Dem Zauber der Schule widersetzte er sich allerdings, denn er war ein schlechter Schüler, der 1888 ohne Abschluss das Kgl. Marienstifts-Gymnasium in Stettin verließ und zum Entsetzen der Eltern Musiker werden wollte. Hatte er doch bereits ab seinem 14. Lebensjahre eine gründliche musikalische Ausbildung erhalten, hauptsächlich Klavier gespielt und heimlich komponiert – unter anderem einen Walzer für Klavier und Orchester mit dem Titel „Zukunftsträume“, den er Johann Strauß Sohn widmete, ihm zusandte, und den dieser in einem Dank-Brief freundlich besprach. In unzähligen Vorstellungen hatte Léon sich durch praktische Anschauung mit der Kunst des Dirigierens vertraut gemacht und fühlte sich für den Beruf eines Kapellmeisters wohl vorbereitet. Er war nicht nur – zum nächsten Schrecken seiner konservativen Eltern – ein begeisterter Wagnerianer, sondern hatte auch Freude am Genre der Operette, die in Stettin im Bellevue-Theater gepflegt wurde.

Dem Zwang der inzwischen zu eigenständigen Unternehmern avancierten Eltern war jedoch nicht zu entkommen: Léon musste eine dreijährige Lehre in der Firma Gustav Feldberg absolvieren, die sich auf Damenmäntel und Kindergarderobe spezialisiert hatte. Der Lehrherr stand jedoch glücklicherweise den künstlerischen Ambitionen des jungen Mannes liberaler gegenüber als die Eltern und förderte indirekt sogar die musikalischen Ambitionen seines Azubis.

Mit dem Ende der Lehrzeit ergriff Léon Jessel vehement die Initiative und sagte den Damenmänteln „Adieu!“. Er begab sich „unters Theater“, wie das in Wien heißt. Zunächst als Korrepetitor bei einem Sommertheater in Bielefeld, dann schon als Kapellmeister in Gelsenkirchen. Eine von ihm ernstgemeinte Beziehung zu einer Soubrette, die es aber mit der Treue nicht so genau nahm, warf ihn aus dem Gleichgewicht und verursachte einen temporären Abgang vom Theater, den die Eltern fälschlicherweise als Heimkehr zum Textil interpretierten. Mitleidig führten sie ihm sogar eine neue Freundin zu, in deren Biographie sie aber kurze Zeit später dunkle Flecken entdeckten, als der Sohn bereits Feuer gefangen hatte. Léon nahm die entstehenden Schwierigkeiten zum Anlass, mit der geliebten Luise Grunewald, die er 1896 auch heiratete, Stettin zu verlassen und neuerlich am Theater mit einem Engagement am Sommertheater Celle und danach am Stadttheater Freiberg/Sachsen durchzustarten. Der Bruch mit der Familie war unausbleiblich, verstärkt noch durch seine Konversion zum christlichen Glauben.

Sheet music cover for "Die Parade der Zinnsoldaten".

Sheet music cover for “Die Parade der Zinnsoldaten”.

Am Celler Schlosstheater debütierte Léon Jessel 1894 auch als Operettenkomponist mit dem Einakter Die Brautwerbung. Und in dieser Zeit wurde auch seine erste Komposition vom bekannten Berliner Verlagshaus Schlesinger gedruckt, das Lied „Liebesfrühling“ op. 9. Über verschiedene künstlerische Stationen landete Jessel schließlich als Dirigent am Stettiner Bellevue-Theater. Die von seiner Frau betriebene Aussöhnung mit dem Elternhaus kam aber nur rein äußerlich zustande. Mutter und Vater konnten den Bruch mit der Familientradition im Hinblick auf Judentum und Textilgeschäft nicht verkraften.

Wie es damals beim Theater üblich war, wechselte auch Léon Jessel beinahe jährlich seine Engagements, wobei auffällt, dass ihn manche Häuser mehrmals beriefen, ein Zeichen dafür, dass seine Leistungen geschätzt wurden. Zu einem Fixpunkt im Sommer wurde ab 1899 das Wilhelm-Theater in Lübeck, ein Sommertheater. Für die Winter musste sich Léon Jessel immer neue Engagements suchen. Im Sommer 1900 dirigierte Jessel in Lübeck zum erstenmal Zellers Vogelhändler, der für ihn später noch Vorbild und Muster werden sollte. Die schmalen Gagen fettete der Dirigent mit Kompositionen und Arrangements auf, die in einer Zeit vor Rundfunk und Schallplatte die einzigen Mittel zur Verbreitung von Musik im häuslichen Bereich waren. Ein Marsch „Vom Fels zum Meer“ zeugte nicht nur von der deutschnationalen Einstellung des Komponisten, sondern machte auch überregional auf ihn aufmerksam. Sein wahrer Durchbruch erfolgte aber mit einem Charakterstück, wie man diese Gelegenheitskompositionen für Klavier zu benennen pflegte, „Die Parade der Zinnsoldaten“. Er hatte damit einen echten Schlager geschaffen.

Lübeck war auch in einer anderen Hinsicht für das Leben Léon Jessels entscheidend: Hier freundete er sich mit dem holsteinischen Dichter Johann Meyer (1829-1904) an, der in ihm den christlichen Glauben und seine deutschnationale Gesinnung vertiefte und ihn auf eine heimatverbundene Volkstümlichkeit stimmte, die sich in den Kompositionen dieser Zeit manifestierte. Dass Meyer auch antisemitischem Gedankengut zugänglich war, konnte wohl auch Jessel nicht verborgen bleiben, schien ihn aber nicht zu stören. Durch diese Freundschaft kamen die Operettenambitionen ins Hintertreffen, da das bis dahin noch dominierende international gefärbte erotische Flair des Genres den Prinzipien Meyers entgegenstand. Erst 1904 schrieb Jessel wieder eine Operette: Die Nihilistin, seiner Frau Luise gewidmet, aber nie aufgeführt. 1906 entstand die Operette Fanchette und blieb ebenso unaufgeführt, weil kurz vorher ein anderer Komponist dasselbe Libretto für Würzburg vertont hatte. Doch Fanchette wies bereits in die Zukunft mit einem Loblied auf die Stadt Berlin, in die Jessel mit Frau und Tochter übersiedelte. Dort stellte sich – trotz großer Konkurrenz, darunter Walter Kollo, Paul Lincke und die zugewanderten Wiener Fall und Straus – endlich der Erfolg in der Operette ein, zunächst zwar nur mit einem eingelegten Marschlied „Horch, horch, der Storch!“, dann aber auch mit einer eigenen Operette, mit Die beiden Husaren. Und 1917 schließlich der Welterfolg mit Schwarzwaldmädel, einer Operette, die mit ihrem idyllischen Traum vom Glück den Bedürfnissen der deutschen Bevölkerung im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs Vergessen und Zuversicht schenkte.

Poster for the incredibly successful film version of "Schwarzwaldmädel" from 1950.

Poster for the incredibly successful film version of “Schwarzwaldmädel” from 1950.

Der Krieg hatte noch eine andere Auswirkung: Während Jessels kriegsbedingtem Hilfsdienst in der Krankenversicherungsanstalt lernte er die um 19 Jahre jüngere Berlinerin Anna Gerholdt kennen und lieben, was zur Scheidung von Luise führte, die die Tochter zu sich nahm. 1921 heirateten Jessel und Anna, wenige Monate nach seinem 50. Geburtstag. Von Schwarzwaldmädel an sollte kaum ein Jahr ohne wenigstens eine Uraufführung einer Jessel-Operette bleiben. Ein größerer Erfolg war aber nur der 1921 in Breslau uraufgeführten Postmeisterin beschieden. Das konnte allerdings seinen Ruf als wichtiger Berliner Operettenkomponist nicht im geringsten beschädigen. Jessel kam immer wieder zu Uraufführungsehren und war schon allein durch Schwarzwaldmädel finanziell abgesichert für ein beschauliches Leben in Berlin-Wilmersdorf.

Aber Léon Jessels Leben erfuhr eine kuriose Wendung: Er, der konvertierte Jude, ernsthaft christlichem Gedankengut hingegeben, ließ sich von der nationalsozialistischen Bewegung anstecken, für deren Ziele schon Johann Meyer in ihm den Grundstein gelegt haben muss. Mit seinem, in der Zwischenzeit auch verfilmten Schwarzwaldmädel meinte er, alle Voraussetzungen für einen guten deutschen Nationalsozialisten bewiesen zu haben. Doch selbst ein vorbeugender Besuch bei Joseph Goebbels 1931 und der Beitritt seiner zweiten Frau Anna zur NSDAP vermochten den „Makel“ der jüdischen Abstammung nicht zu tilgen. Die Aufführungen Jesselscher Operette wurden weniger, eine 1935 in Nürnberg geplante große Inszenierung des Schwarzwaldmädel mit der zuletzt in Baden bei Wien lebenden und hier auch verstorbenen großen Opernsängerin Christel Goltz wurde abgesetzt, die Uraufführung seiner letzten Operette Die goldene Mühle musste 1936 sogar in Olten in der Schweiz stattfinden. Noch hätte Jessel mit seiner Frau Deutschland verlassen können; aber er glaubte offensichtlich an ein Wunder oder daran, dass seine Gesinnung über Fakten dominieren könne. 1939 wird Jessel bereits in Reclams Operettenführer verschwiegen und 1940 in das Lexikon der Juden in der Musik aufgenommen. Nur der Stettiner Generalanzeiger nimmt mit einem Interview 1941 Notiz von seinem 70. Geburtstag.

Am 15. Dezember dieses Jahres erhält Léon Jessel eine Vorladung zur Gestapo, wo man ihm „Hetze gegen das Reich“ und „Verstoß gegen das Heimtücke-Gesetz“ vorwirft und ihn im Polizeigefängnis in der Dircksenstraße festsetzt. 1939 hatte er in einem, jetzt bei einer Hausdurchsuchung aufgefundenen Brief an seinen Librettisten Wilhelm Sterk in Wien geschrieben, er könne in einem Land nicht arbeiten, wo Judenhetze sein Volk zu vernichten drohe. Die Aufregungen der Verhaftung setzten Léon Jessel so zu, dass er Anfang Jänner 1942 in das Jüdische Krankenhaus gebracht werden musste, wo er am 4. Jänner um 12 Uhr mittags starb.

There is one comment

  1. Gerrit Waidelich

    Danke für diese sehr besonnene und differenzierte Darstellung der Karriere von Jessel. Daß die Hoffnung, sich durch Assimilierung und Bekenntnisse zum (euphemistisch ausgedrückt:) “Zeitgeist” die Chance zum Verbleib und zur Weiterarbeit in Deutschland zu erwirken, trügerisch waren, liegt aus heutigem Blickwinkel auf der Hand. Die Perfidie eines Systems, in dem sich selbst ein sehr populärer Künstler nicht mehr durch seine Leistung rechtfertigen konnte, kommt da um so deutlicher zum Ausdruck. Die Beobachtung wäre sicher auch an zahlreichen anderen Künstler-Persönlichkeiten der Zeit, aber auch anderer totalitärer Systeme zu machen.

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