The New Online “Musicallexikon”: An Interview with Michael Fischer & Wolfgang Jansen

Kevin Clarke
Operetta Research Center
22 July, 2020

The University of Freiburg is home of the “Center for Popular Culture and Music.” They recently started the first online encyclopedia, listing all new popular musical theater works that premiered after World War 2 in the German language theater scene. We spoke with the two initiators of that project, Dr. Michael Fischer and Dr. Wolfgang Jansen. They answered in German, which is also the language the encyclopedia uses. So we decided to reprint this conversation in the original German version.

Michael Fischer (l.) and Wolfgang Jansen. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Michael Fischer (l.) and Wolfgang Jansen. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Was kann man in eurem Archiv eigentlich so alles finden?
Michael Fischer: Das Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) ist eine Forschungseinrichtung der Universität Freiburg. Zugleich beherbergt es drei große Archive, nämlich das bereits 1914 gegründete Deutsche Volksliedarchiv, das Archiv für Popmusikkulturen und das 2010 gegründete Deutsche Musicalarchiv. Unsere Aufgabe ist es, Dokumente zu allen Formen der populären Musik zu sammeln, der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und die kulturelle Nutzung der populären Musik seit der Frühen Neuzeit zu erforschen. Dazu gehört natürlich auch das populäre Musiktheater.

Ihr seid kürzlich mit eurem Musicallexikon online gegangen. Wer hatte die Idee zu diesem Projekt, und wie habt ihr das Material dafür zusammenbekommen?
Michael Fischer: Die Idee zu diesem Lexikon hatte der Theaterwissenschaftler Wolfgang Jansen in Berlin. Zuvor hatte er bereits die Gründung des Deutschen Musicalarchivs bei uns in Freiburg initiiert und mit großem Engagement den Verein „Freunde und Förderer des Deutschen Musicalarchivs“ ins Leben gerufen und geleitet. Das Zentrum für Populäre Kultur und Musik hat die Idee aufgegriffen und technisch umgesetzt. Unterstützung erfahren wir zugleich von dem Sammler Klaus Baberg, der von Anfang an dabei war und zusammen mit Wolfgang Jansen die Einträge in das Lexikon vornimmt.

Wolfgang Jansen: Ich habe Michael Fischer zum ersten Mal vor etwa fünf Jahren darauf angesprochen. Das Musicalarchiv hatte sich zu diesem Zeitpunkt soweit etabliert, dass man an eine erste Auswertung der Sammlungsbestände gehen konnte. Das Vorhaben durchlief bei der Planung naturgemäß verschiedene Etappen, bis wir einen gangbaren Weg sahen. Mir war aber immer bewusst, dass das Vorhaben einen öffentlichen Träger braucht, wie schon bei der Einrichtung des Deutschen Musicalarchivs. Private Websites sind für die Dauer, die wir hier ins Auge fassten, letztlich zu unsicher. Und für den Druck eignet sich das Vorhaben nicht, weil die Einträge laufend aktualisiert werden.

Ausgangsbasis für die Online-Einträge sind zunächst die Dokumente, die sich bereits im Archiv befinden. Darüber hinaus besitzen Klaus Baberg und ich noch weitere Bestände, die wir ebenfalls langsam eingeben. Freilich geht es – gerade bei den älteren Produktionen – vielfach nicht ohne klassische Recherche ab, zumal wir ausschließlich Primärmaterial verwenden. Unkompliziert hingegen ist es bei neuen Produktionen, da wir in diesen Fällen jeweils direkt mit den Theatern oder Autoren in Kontakt treten können.

The inside of the "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier for the magazine "Musicals")

The inside of the “Zentrum für Populäre Kultur und Musik” in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Was für Informationen findet man bei euch online zu den einzelnen Werken?
Wolfgang Jansen: Wir verfahren nach dem Grundsatz, dass die Inszenierung des Bühnenwerks, also Ur- oder Erstaufführung, im Zentrum steht. Alle Informationen, die hierbei wesentlich sind, werden dokumentiert. Dies betrifft das Inszenierungsteam, die Premierencast, natürlich das Werk selbst (zum Zeitpunkt der Premiere) und dessen Autoren, aber auch die Reaktionen des Publikums, wie sie sich in den Medien ausdrücken. Hinzu genommen haben wir zusätzlich eine kleine „Premierenchronik“, um einen Überblick zu geben, ob und gegebenenfalls wann die Werke in den jeweils anderen deutschsprachigen Ländern nachgespielt wurden. Im Hinblick auf die Optik der Inszenierung suchen wir nach Möglichkeit, einige Premierenfotos aufzutreiben und einzufügen. Und da wir auf unserer Website keine akustischen Beispiele präsentieren können, geben wir zumindest Hinweise auf vorhandene Tonaufnahmen der Produktion.

Gibt es etwas Vergleichbares, beispielsweise in Buchform, oder ist dieses Lexikon totales Neuland?
Wolfgang Jansen: Meines Wissens gibt es bislang nichts Vergleichbares. Wir kennen alle die üblichen Musical- und Operettenführer; es gibt die Wikipedia-Einträge, Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Doch dort konzentrieren sich die Autoren durchweg auf das Werk. Nicht, dass wir das Stück selbst geringachten, bitte nicht missverstehen, doch Theater ist unseres Erachtens etwas anderes als Literatur. Die Praxis, den Text ins Zentrum zu rücken, geht letztlich zurück bis in die Zeit der Aufklärung, als die Autoren begannen, ihre Novitäten erst im Druck erscheinen zu lassen, bevor sie zur Aufführung kamen. Das mag im Schauspiel noch halbwegs vertretbar sein, doch im Musiktheater, insbesondere im populären Musiktheater sieht es unseres Erachtens anders aus. Es sind die Darsteller auf der Bühne und die Musiker, die uns im Zuschauerraum die Geschichten erzählen, nicht die geduckten Texte oder Noten (die in der Regel Verlagsmanuskripte bleiben). Die einzelnen Inszenierungen sind die Mittler meines ästhetischen Erlebens. Insofern betrachten wir unser Online-Musicallexikon als notwendige Ergänzung zu den anderen Nachschlagewerken.

The inside of the "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier for the magazine "Musicals")

The inside of the “Zentrum für Populäre Kultur und Musik” in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Musical-Fans haben schon lange die International Broadway Database, für Film-Cracks gibt es die International Movie Database. Wie beurteilt ihr eure Database im Vergleich?
Michael Fischer: Beide Projekte sind in ihrem Datenreichtum überwältigend und auch in ihrer Darstellungsform vorbildlich. Aber bei beiden Datenbanken handelt es sich um privatwirtschaftliche Unternehmungen, bei der IMDb steht die Firma Amazon dahinter, bei der IBDB die Geschäftsorganisation „The Broadway League“ – das ist mit einem Projekt wie dem Unsrigen nicht vergleichbar.

Unterscheidet ihr nach “Musical”, “Operette” und “Revue”, was den deutschsprachigen Theaterbereich betrifft?
Wolfgang Jansen: Ja und nein. Zu diesem Thema haben wir in der Planungsphase längere Gespräche geführt. Denn insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren gibt es aufgrund der genregeschichtlichen Übergangsphase eine unglaubliche Vielzahl an Gattungszuschreibungen durch die Autoren. Entschieden haben wir uns letztlich dazu, alle Ur- und Erstaufführungen in unser Lexikon aufzunehmen, so lange die Produktionen dem Bereich des populären Musiktheaters zuzurechnen sind. Nur auf diesem Wege können wir die komplette Situation dokumentieren. Da wir aber die Differenzen nicht verwischen wollen, werden zu jedem Stück die Gattungsbezeichnungen genannt, die den Werken zur Zeit der Ur- bzw. Erstaufführung verliehen wurden. Dennoch verbleiben weiterhin Grenzfälle (wie etwa die Oper Porgy and Bess oder die Revue Oh, What a Lovely War). Über diese stimmen wir uns jedes Mal einzeln ab.

Werden auch Theaterproduktionen in der ehemaligen DDR berücksichtigt? (Wie schwierig ist es heute, da an Material heranzukommen?) Und was ist mit Österreich und der Schweiz?
Michael Fischer: Das Musicallexikon dokumentiert Ur- und Erstaufführungen an deutschsprachigen Theatern seit 1945. Das heißt: Österreich und die Schweiz gehören genauso dazu wie Deutschland oder die Deutsche Demokratische Republik (1949–1989).

Wolfgang Jansen: Die Materialrecherche zur DDR ist natürlich speziell, weil die seinerzeitigen Uraufführungen nach der deutschen Vereinigung nur noch in Einzelfällen gespielt wurden. Umso größer ist unsere Freude, wenn wir wieder einmal ein seltenes Programmheft auftreiben können, zumal wenn es einen Einleger mit der Premierencast enthält. Hier sind wir auf unseren Spürsinn, aber auch auf Hinweise von außen angewiesen. Um es deutlich zu sagen: Noch liegen uns die vollständigen Materialien aus 75 Jahren Theatergeschichte nicht vor! Es ist keine rein mechanische Eingabe, die wir vornehmen müssen. Sondern oft geht ihr eine teils mühsame Recherche voraus.

"The Book of Musicals": The inside of the "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier for the magazine "Musicals")

“The Book of Musicals”: The inside of the “Zentrum für Populäre Kultur und Musik” in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Kann man bestimmte Trends für die unterschiedlichen Jahrzehnte ausmachen?
Wolfgang Jansen: Ja, es beginnen sich in der Tat einige generelle Entwicklungen abzuzeichnen. Vorbehaltlich weiterer gezielter Forschung lässt sich u.a. allgemein sagen, dass der Wechsel zum Musical in den 1960er-Jahren stattfindet. Die bislang als mehr oder weniger selbstverständlich angesehene Branche für die deutschsprachigen Autoren und Komponisten bricht praktisch zusammen (im Westen). Dafür kommen immer mehr amerikanische und britische Musicals in die Spielpläne. Damit verbunden ist die wachsende Bedeutung von Übersetzern, die zuvor kaum eine Rolle spielten – ein interessantes Forschungsthema im Übrigen. In der DDR ist die Situation aufgrund der sozialistischen Gesellschaftsordnung etwas stabiler, aber auch dort nimmt ab den 1960er Jahren die Zahl importierter Musicals zu. Die Situation ändert sich erst wieder in den 1990er Jahren, als eine nachgewachsene Generation im deutschsprachigen Raum sich durch den aufgeflammten Musicalboom inspirieren lässt und beginnt, wieder eigenständige Werke zu schreiben.

Euer Lexikon ist auf Deutsch. Wie können englischsprachige Nutzer damit umgehen?
Wolfgang Jansen: Die Nutzung des Musicallexikons ist jedermann zugänglich, ganz egal, welcher Muttersprache der Nutzer ist. Doch zur vollen Auswertung der eingegebenen Daten ist eine Kenntnis der deutschen Sprache sicherlich unerlässlich.

Michael Fischer: Wir möchten im weiteren Ausbau des Lexikons die Beschreibungstexte und die Navigation auch in englischer Sprache anbieten, um die Benutzerfreundlichkeit für das internationale Publikum zu erhöhen.

"K - L - M": The inside of the "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier for the magazine "Musicals")

“K – L – M”: The inside of the “Zentrum für Populäre Kultur und Musik” in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Ein solches Projekt umzusetzen muss extrem zeit- und arbeitsintensiv sein. Habt ihr dafür eine Förderung bekommen – und gibt es Partnerinstitutionen?
Michael Fischer: Unser Lexikon beruht auf dem Engagement von Klaus Baberg und Wolfgang Jansen, die ihre Expertise in das Projekt einbringen. Die Bereitstellung der Technik und die Präsentation im Internet übernimmt die Universität Freiburg; auch das Deutsche Musicalarchiv – das für die inhaltliche Arbeit ja ganz wesentlich ist – ist Teil der Universität und wird von dieser finanziert.

Wolfgang Jansen: Es geht hier um ein wissenschaftliches Projekt. Über dessen Grundsätze und Möglichkeiten haben wir unabhängig von irgendeiner Finanzierung nachzudenken begonnen. Unsere Haltung war (und ist): Wenn ich immer erst darauf warte, dass mir jede Arbeitsstunde, die ich für ein solches Vorhaben aufwende, von irgendjemanden angemessen bezahlt wird, kommt nichts dabei raus. Und das wäre meines Erachtens in diesem Fall und grundsätzlich die schlechtere Perspektive.

Es ist wie am Theater. Auch dort beginnen die Autoren und Komponisten vielfach mit der Arbeit an einem neuen Stück, auch wenn kein konkreter Auftrag vorliegt, wenn sie noch nicht wissen, ob sie ihr Werk später zur Aufführung bringen können und ihr Zeitaufwand und ihre Kreativität bezahlt werden.

Klaus Baberg und ich haben, dank Michael Fischer, unser Projekt immerhin „auf die Bühne“ bringen können. Künftig wird, davon können wir ausgehen, kein Wissenschaftler, der sich mit dem hiesigen populären Musiktheater beschäftigt, ohne orientierenden Zugriff auf das Lexikon auskommen.

"The Phantom of the Opera": The inside of the "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier for the magazine "Musicals")

“The Phantom of the Opera”: The inside of the “Zentrum für Populäre Kultur und Musik” in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Die meisten Menschen werden Freiburg vermutlich nicht mit Showbusiness assoziieren. Wer studiert an diesem Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM), wer unterrichtet dort?
Michael Fischer: Nein, Freiburg ist kein Hot Spot der Show- oder Musicalszene. Allerdings gibt es im nahegelegenen Basel (Schweiz) ein Musicaltheater und Freiburg hat immerhin ein Stadttheater mit eigenen Musikproduktionen. Unsere Studierende erhalten Unterricht, der sich auf die Performativität, Theatralität und Medialität von Musik bezieht, es geht um Star- und Fanphänomene und um die Geschichte populärer Musik. Das bedeutet, das populäre Musiktheater ist im Unterricht in einen größeren kulturwissenschaftlichen Zusammenhang eingebettet.

Wolfgang Jansen: Meine Prognose: Freiburg ist auf dem Wege, zum Marbach des populären Musiktheaters zu werden!

Sind euch neue Themenfelder aufgefallen, für die sich Studierende neuerdings interessieren?
Michael Fischer: Unser Zentrum interessiert sich für alle historischen und gegenwärtigen Gattungen und Genres populärer Musik. Allerdings stehen bei uns nicht künstlerisch-ästhetische Fragen im Vordergrund wie bei einer Musik- oder Kunsthochschule. Es geht nicht um das Gestalten und Produzieren, sondern um Verstehen und Reflektieren. Insofern ist die Operette als Gegenstand in der Forschung für uns wichtig – auch mit ihren Bezügen zum Schlager und zum Musikfilm. Das Deutsche Musicalarchiv wiederum sammelt auch Material zur Operette und freut sich über Zusendungen.

The inside of the "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier for the magazine "Musicals")

The inside of the “Zentrum für Populäre Kultur und Musik” in Freiburg. (Photo: Ralf Rühmeier, Berlin)

Wer kommt sonst noch zu euch um eure Sammlung zu nutzen?
Michael Fischer: Unsere BenutzerInnen kommen bisher überwiegend aus dem Bereich der Wissenschaft und der akademischen Lehre, aber es sind natürlich grundsätzlich alle Interessierten willkommen – von Journalisten über Theaterdramaturgen bis hin zu Fans.

Was ist euer nächstes großes Vorhaben?
Michael Fischer: Unser nächstes Projekt geht in eine andere Richtung: Unter dem Namen „Arbeiterlied digital“ veröffentlichen wir im Internet Quellen zur musikalischen Arbeiterkultur, darunter auch seltene Tonaufnahmen von Arbeiterliedern vor 1933.

Zum Online-Lexikon geht’s hier.

 

 

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