Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker: Angst vor der Nazi-Vergangenheit?

Kevin Clarke
Operetta Research Center
30 December, 2015

Am 1. Januar 2016 wird das kommerziell erfolgreiche Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Großen „goldenen“ Saal des Musikvereinsals „75-jähriges Jubiläum“ angekündigt. Wir sprachen mit dem Strauss-Experten Ralph Braun über die historischen und politischen Hintergründe dieser berühmten Johann-Strauss-Konzertreihe.

Strauss expert Ralph Braun. (Photo: Private)

Strauss expert Ralph Braun. (Photo: Private)

Fand das erste Wiener Neujahrskonzert mit Strauss-Walzern wirklich 1940/41 statt?

Nein! „Neujahrskonzert“ heißt es erst seit 1946! Begründet wurde das Konzert zum Jahreswechsel mit Musik von Johann Strauss am Silvestermittag 1939. Seit Jahrzehnten nennen die Wiener Philharmoniker dieses Johann Strauss-Konzert vom Silvestermittag 1939 als Beginn ihrer Neujahrskonzerte. Nun – zum Jahreswechsel 2015/16 – nicht mehr. Anzeichen für die beabsichtigte Wende gab’s schon vor einem Jahr: bereits das Booklet zur Neujahrskonzert-DVD 2015 nennt Clemens Krauss: 1941-1945, 1948-1954.

Trotzdem wird es am 1. Januar vor der Übertragung des Jubiläumskonzerts diesmal eine ORF-Doku von Robert Neumüller geben mit dem Titel: „Prosit Neujahr! – 75 Jahre Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker“. Ist das Geschichtsfälschung des ORF?

Da muss man die Sendung erst mal abwarten. Sie läuft am Freitag ab 9.55 Uhr auf ORF2, in Deutschland über Satellitenfernsehen.

The collected New Year's concerts from Vienna, in a Sony box.

The collected New Year’s concerts from Vienna, in a Sony box.

Kürzlich erschien die CD-Jubiläums-Edition New Year’s Concert: The Complete Works, Wiener Philharmoniker.

Dazu schrieb der Wiener Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz in Die Presse: „Die Neujahrskonzerte werden 75. Das ist ein Grund zum Feiern, gerade weil in jüngster Zeit stets ein paar Tage vor Silvester die Meldung wiedergekäut wird, das erste dieser Ereignisse hätte im Kriegsjahr 1939 stattgefunden und sei damit so etwas wie eine ‚Kraft durch Freude‘-Aktion des Wiener Orchesters gewesen. Wer ein wenig über den Zeitgeschichtlerhorizont hinausdenkt, kann sich vorstellen, was es für Österreicher, die gerade zu ‚Ostmärkern‘ degradiert worden sind, bedeutet haben mag, wenn die Philharmoniker Musik der Strauß-Dynastie unter Leitung des geborenen Wieners Clemens Krauss musiziert haben… Damit genug: Das Neujahrskonzert, spätestens seit den Sechzigerjahren ein Medienereignis, darf als bedeutendster Werbeträger dieses Landes gelten. Als eine Art tönende Bilanz erschienen nun 23 CDs mit fast allen Werken, die je in einem Neujahrskonzert erklungen sind. Von Clemens Krauss bis Zubin Mehta sind sämtliche Dirigenten vertreten mit Ausnahme von Josef Krips, der in den beiden Jahren, als Krauss mit Dirigierverbot belegt war, eingesprungen ist und auf den man wieder einmal vergessen hat.“

Warum wollen die Wiener Philharmoniker so vehement vom eigentlichen Start der Strauss-Musik-Neujahrskonzerte in der NS-Zeit ablenken? Wovor fürchten sie sich?

Der österreichische Dirigent Ernst Theis, ORCA-Lesern natürlich bekannt ist als langjähriger Chefdirigent der Staatsoperette Dresden (2003-2013), wo er die Strauss-Operettenausgrabungen auf Basis der wissenschaftlichen Ausgaben der Strauss-Edition-Wien betreute, hat im Auftrag der Wiener Philharmoniker die Geschichte des Neujahrskonzerts völlig neu erarbeitet und herausgefunden, dass das NJK noch viel älter ist. Dies berichtete der Wiener Kurier vor wenigen Tagen: „178 Jahre! Die Tradition ist aber noch viel älter, sagte der Dirigent und Musikforscher Ernst Theis, der jetzt im Auftrag der Wiener Philharmoniker die Geschichte des Neujahrskonzerts völlig neu aufgearbeitet und dabei wesentlich frühere Termine entdeckt hat. Demnach fand Wiens erstes Konzert an einem Neujahrstag bereits 1838 statt, weshalb Österreichs weltweit berühmteste Musiktradition am 1. Jänner 2016 ihren 178. Geburtstagt feiern könnte.“

Conductor Ernst Theis. (Photo: www.ernsttheis.com)

Conductor Ernst Theis. (Photo: www.ernsttheis.com)

Vom österreichischen Historiker Dr. Harald Walser [Bildungssprecher der Grünen im österreichischen Nationalrat] ging ab 2010 die in Wien regelmäßig zum Jahreswechsel erhobene Kritik an der ungenügenden eigenen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der WPH aus.

Walser schrieb jetzt einen Gastkommentar zum geschichtsklitternden Sinkovicz-Artikel in der Presse. Überschrift: „Das Neujahrskonzert und so manch unhaltbare Legende / Das Märchen vom unpolitischen Charakter des Konzerts“. Es bleibt zu hoffen, dass sich etwas zum Guten bewegt.

Der erste Dirigent der Neujahrskonzerte war Clemens Krauss. Wieso fiel die Aufgabe gerade an ihn, den Direktor der Münchner Oper?

 Austrian conductor Clemens Krauss, as a young man.

Austrian conductor Clemens Krauss, as a young man.

Krauss wurde vom hierfür zuständigen Leiter der Musikabteilung des Propagandaministeriums, Dr. Heinz Drewes, und nicht von den WPH ausgewählt. Diese durften ihre Dirigenten wegen des geltenden „Führerprinzip“ damals nicht frei wählen. Nach dem „Anschluss“ 1938 wollte der von Hitler als Intendant der Münchner Oper zum Aufbau des größten Opernhauses der Welt (München) bestimmte österreichische Dirigent Clemens Krauss zusätzlich wieder die Leitung der Wiener Staatsoper übernehmen, welche er bereits von 1929 bis Anfang Dezember 1934 geleitet hatte. Nachdem während einer von ihm am 11. Dezember 1934 geleiteten Falstaff-Vorstellung in der Wiener Oper infolge von Tumulten sogar die Polizei eingegriffen hatte, wechselte Krauss als Generalmusikdirektor an die Berliner Staatsoper.

Die Neue Freie Presse berichtete über den tumultreichen Abend: „Beim Erscheinen des Direktors am Dirigentenpult sowie vor dem dritten Akt haben Anhänger und Gegner des Direktors ihren Gefühlen laut Ausdruck gegeben. In den Beifall, mit dem der Direktor begrüßt wurde, mischten sich auch Zischen und Rufe gegen Krauss. Die Polizei verhielt einige Besucher zur Ausweisleistung.“

Schon am 28. April 1938 schrieb Krauss an Hitler bezüglich der Wiener Oper.

Die Bitte wurde indirekt abschlägig beschieden. Deshalb suchte Krauss – auch gegen den Willen der mit ihm bereits seit 1934 verfeindeten Wiener Philharmoniker – andere Wege, sein Ziel zu erreichen.

Er wurde – wie von Goebbels bereits im November 1938 in dessen Tagebuch vermerkt – künstlerischer Oberleiter des Salzburger Mozarteum bei dessen Erhebung zur Musikhochschule am 13. Juni 1939. Im „Großen Saal des Mozarteum“ leitete Krauss dann am 13. August 1939 im Rahmen der Salzburger Festspiele ein Johann Strauss-Konzert der Wiener Philharmoniker.

Krauss at the “Festakt zur Erhebung des Mozarteums zur Musikhochschule”, 13 June 1939, as seen in the “Wiener Neuste Nachrichten”. (Photo: Archive Ralph Braun)

Dieses Konzert am Sonntagvormittag um 11 Uhr wurde live, bemerkenswerterweise vom Reichssender München – und nicht Wien – mit den sechs angeschlossenen Sendern: Wien, Hamburg, Königsberg, Leipzig, Stuttgart, Böhmen übertragen. Angesetzt war es vom Propagandaministerium in Berlin. Die erste Ankündigung des Konzerts erschien am 8. April 1939 in der österreichischen Volks-Zeitung.

Das schlicht „Außerordentliches Konzert“ genannte Silvester-Konzert 1939 war dann eine am 15./16. Dezember kurzfristig von Dr. Drewes, der seit Kriegsanfang auch Vorsitzender des der Musikabteilung nachgeordneten „Amt für Konzertwesen“ war, angesetzte Wiederholung des Salzburger Konzertprogramms in derselben Abfolge.

Die früheste Ankündigung des Silvesterkonzerts findet sich in der Ausgabe des Neuen Wiener Tagblatt vom 17. Dezember 1939 – interessant der Hinweis auf Termin „Gleich den regelmäßigen Abonnementskonzerten“.

Announcement of the New Year’s Concert in the “Neues Wiener Tagblatt“, 17 December 1939. (Photo: Archive Ralph Braun)

So hatte es Krauss erreicht, zum üblichen sonntäglichen Termin der Abonnementskonzerte der WPH wieder im Musikvereinssaal an deren Spitze zu stehen.

Gleichzeitig zu der am 22. Dezember durch Goebbels erfolgten Einsetzung des bisherigen kommissarischen Vorstands der Wiener Philharmoniker, Kontrabassist Wilhelm Jerger (NSDAP- und SS-Mitglied sowie Ratsherr der Stadt Wien), zu deren „Führer” für drei Jahre erschien in der Presse am selben Tag die Meldung, dass die WPH die Einnahme ihres Johann Strauss-Konzerts dem „Kriegs-Winterhilfswerk” zur Verfügung stellen.

Ein Tag nach der Begründung des Johann-Strauss-Konzertes zum Jahreswechsel übertrug der Reichssender Wien dieses Konzert der Wiener Philharmoniker unter Clemens Krauss mit dem Solisten WPH-Soloflötist Josef Niedermayr. Laut Website der WPH (Historisches Archiv) wurden Werke von Mozart, Haydn, Schubert und Strauss gespielt. Hier ist der Termin 30. Dezember genannt. Das Deutsche Rundfunkarchiv besitzt eine Aufnahme aus diesem Konzert: Johann Strauss „Perpetuum mobile”. Das Etikett nennt den 1. Januar als Aufnahmedatum. Am Schluss ist Krauss mit den berühmten Worten „und so weiter” zu hören.

Recording of "Perpetuum-mobile" by Clemens Krauss, 1 January, 1940. (Photo: Archive Ralph Braun)

Recording of “Perpetuum-mobile” by Clemens Krauss, 1 January, 1940. (Photo: Archive Ralph Braun)

Wann und auf wessen Veranlassung war dieses vielleicht auch die Philharmoniker selbst überraschende Konzert in Auftrag gegeben worden?

Dieses Konzert, welches abweichend von den Programmvorschauen der Presse erst am Silvestertag bzw. am Tag davor, 30. Dezember (Neues Wiener Tagblatt), in der Presse angekündigt wurde, war – am Morgen (8-10 Uhr) nach dem  „Außerordentlichen [Strauss-] Konzert“ – bereits das von Berlin bestellte Vorbild für die dann ab Winter 1940 jährlich vom Großdeutschen Rundfunk im Musikvereinssaal veranstalteten vier „Philharmonischen Akademien“ unter Krauss, von denen die jeweils zweite bis einschließlich 1945 immer den Namen „Philharmonische Akademie – Johann Strauss-Konzert“, und eben nicht „Neujahrskonzert“, trug. Durch die Einrichtung der jährlichen vier „Philharmonischen Akademien“ band sich der mit den Wiener Philharmonikern von 1933 offiziell bis 1943 verfeindete Krauss für die Jahre der NS-Herrschaft über die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft an die WPH.

Wieso wurde für dieses schon damals medial ausgeschlachtete Konzert ausgerechnet Johann-Strauss-Musik ausgewählt und nicht etwas „Heroisches“ zu Kriegszeiten, wie Beethoven oder Bruckner?

Am 12. Oktober 1940 berichtete das Neue Wiener Tagblatt über die neu eingerichteten „Philharmonischen Akademien” des Großdeutschen Rundfunk – dies war das heitere NS-Konzertmodell im Dienst der Kriegsführung.

„Neue Wiener Tagblatt”, 12 October 1940. (Photo: Archive Ralph Braun)

„Neue Wiener Tagblatt”, 12 October 1940. (Photo: Archive Ralph Braun)

„Neue Wiener Tagblatt”, 12 October 1940. (Photo: Archive Ralph Braun)

„Neue Wiener Tagblatt”, 12 October 1940. (Photo: Archive Ralph Braun)

Für Beethoven, Bruckner, Brahms, Tschaikowsky waren die Abonnementskonzerte und Furtwängler bzw. Knappertsbusch und Böhm zuständig.

Gerade ist das Buch Die Reichsmusikkammer von Albrecht Riehtmüller herausgegeben worden. Spielt das Neujahrskonzert darin eine Rolle? Gibt es darin auch etwas zu Operetten allgemein und Strauss-Operetten im Besonderen zu lesen?

Book cover of "Die Reichsmusikkammer", edited by Albrecht Riethmüller. (Böhlau)

Book cover of “Die Reichsmusikkammer”, edited by Albrecht Riethmüller. (Böhlau)

Zu Operetten nicht, aber die Anschaffung lohnt sich auf jeden Fall: in diesem Bericht zur 2013 an der FU-Berlin veranstalteten Tagung findet sich die weltweit erste Abhandlung über Dr. Heinz Drewes, welcher bis heute von seiner „Bedeutung” selbst vom Referenten und Verfasser PD Dr. Martin Thrun nicht genügend erkannt ist und auch bezüglich des Entstehung des Neujahrskonzertes eine zentrale Rolle spielte.

Die Abhandlung „Der Takstock als Waffe” von Oliver Bordin gibt tiefergehende Einblicke zum geheimen Propaganda-Kriegseinsatz der deutschen Musik und Spitzenorchester, für welchen wiederum Dr. Drewes als Leiter der Musikabteilung des RMVP, des ihr nachgeordneten „Amt für Konzertwesen [während des Krieges]” und Vorsitzender der ebenfalls nachgeordneten „Auslandsstelle für Musik” die zentrale Verwaltungs- und Kontrollposition innehatte.

Bereits am vierten Kriegstag hatte Goebbels im Erlass zum „Konzertwesen während des Krieges” bestimmt:

 

Stadtarchiv Gelsenkirchen StA Ge, GE 41, 237

Stadtarchiv Gelsenkirchen StA Ge, GE 41, 237

Gezeichnet war dieses vom „Amt für Konzertwesen” an die „Reichsstatthalter, Gauleiter und Gaupropagandaleiter usw.” versendete „Vertrauliche!” Rundschreiben von Dr. Drewes. Derartige vertrauliche Rundschreiben wurden in der Regel nicht verwahrt, sondern bald nach Erhalt vernichtet.

Während in Wien um den 15./16. Dezember 1939 das Johann-Strauss-Silvesterkonzert angesetzt wurde, gastierten die Wiener Philharmoniker auf Einladung Generalgouveneurs Dr. Hans Frank, des „Schlächters von Polen”, in Krakau zum „Anfang des deutschen Kulturlebens in der alten deutschen Stadt Krakau”.

Nach einem Empfang des Generalgouverneurs in der Krakauer Burg mit den WPH, Reichsminister Funk, dem von Hitler im Oktober 1939 zum Chef der Zivilverwaltung im Generalgouvernement eingsetzten Reichsminister Dr. Arthur Seyß-Inquart, führenden Militärs, den Gouverneuren von Krakau, Warschau und Radom und Wiens Kulturreferenten Blaschke gaben die Philharmoniker am 16. ihr erstes Konzert im „Deutschen Theater”.

Arthur Seyß-Inquart standing next to Adolf Hitler in Vienna, 1938. (Photo: Bundesarchiv Bild 119-5243)

Arthur Seyß-Inquart standing next to Adolf Hitler in Vienna, 1938. (Photo: Bundesarchiv Bild 119-5243)

Auf der Website der WPH kann man das Programm erfahren: 2. Beethoven, 4. Bruckner und „Lieder der Nation”. Bei „Lieder der Nation” ist als Komponist „Unbekannt” angegeben. Hierbei handelte es sich um die 1. Strophe des „Deutschlandliedes” gefolgt vom „Horst-Wessel-Lied” und damals im Generalgouvernement wahrscheinlich schon gefolgt vom „Treuelied” der SS.

Am Mittag des 17. Dezember (Sonntag) folgte ein heiteres Konzert. Die Website der WPH bietet auch das Programm dieses Konzerts: Nicolai, Mozart, Schubert und Johann Strauss. Dies war bereits zwei Wochen vor dem an diesem Tag in Wien erstmals angekündigten Silvesterkonzert das heitere NS-Propagandakonzert-Modell des „Konzertwesen während des Krieges”. Parallel zur heiteren aufbauenden Musik wurden in dieser Zeit tausende Menschen ermordet. Seit November 1939 mussten sämtliche Juden im Generalgouvernement eine weiße Armbinde mit „Judenstern” tragen. Im „Reich” war dies erst ab 1941 vorgeschrieben.

Wahrlich kein Anlass, ein 75-jähriges Jubiläum des Neujahrskonzerts zu begehen!

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