Boris Kehrmann
Opernwelt
1 September, 1999
Leidenschaftliche Offenbachianer werden Laurent Fraisons klingende Offenbach-Anthologie bereits in der seltenen Vinyl-Edition besitzen. Für alle anderen macht das Label Forlane die historische Schellack- und Walzen-Kollektion des legendären Pariser Sammlers nun in einer digitalen Aufbereitung zugänglich: 80 Interpreten, die meisten aus dem Ensemble der Opéra Comique, passieren in 96 Aufnahmen aus den Jahren 1903 bis 1948 auf vier Einzel-CDs mit genau fünf Stunden Spieldauer Revue.
Die Schwerpunkte der Präsentation liegen auf dem ersten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts (22 Beispiele) und auf der Zeit um 1930 (59 Beispiele). Ihre Anordnung folgt nicht der Chronologie der Aufnahmedaten, sondern der Entstehungszeit der 24 Werke, denen die Stücke entstammen: Volume 1 vereinigt Auszüge von Le Violoneux (1855) bis La Princesse de Trebizonde (1869); Volume 2 ist umfangreichen Auswahlen aus Pariser Leben (13 Nummern), Großherzogin von Gerolstein (8 Nummern) und Perichole (6 Nummern) gewidmet; Volume 3 spannt den Bogen von Les Brigands (1869; 7 Nummern) bis zu Offenbachs viertletztem Bühnenwerk, der offen militaristischen und trotzdem hinreissenden opéra-comique La Fille du Tambour-Major (1879); die letzte Folge ist mit 21 Beispielen den Contes d’Hoffmann vorbehalten. Mit ganz wenigen herausragenden Ausnahmen beschränkt sich die Anthologie auf französische Einspielungen.
Am nächsten an Offenbachs Aufführungspraxis führen uns vier Aufnahmen von Juliette Simon-Girard (1859-1954) heran. Die Pariser Mezzosopranistin gab 1877 in des Meisters Foire St.Laurent an den Folies-Dramatiques ihr Bühnendebüt und hob anschliessend unter seiner Leitung Madame Favart und La Fille du Tambour-Major (Titelrolle) aus der Taufe. 1903 trat sie für Fred Gaisberg vor den Aufnahmetrichter der “Gramophone Company”. In der “Legende du Verre”, der Erzählung vom Riesenpokal der Großherzogin von Gerolstein irritiert zunächst das gutturale Timbre. Wie die grauenerregenden Zieltöne – “Damenschreie” nannte Kurt Tucholsky diese unvermeidlichen Übel der Schellack-Zeit – sind sie der unvollkommenen Aufnahmetechnik geschuldet. Dringt man horchend jedoch tiefer ein, so vernimmt man unter der knisternden Patina ein komödiantisch-plastisches Spiel mit allen möglichen Einfärbungen der Stimme. Bei beschwingtem Grundpuls passt Simon-Girard das Tempo ihren Gestaltungsabsichten und ihrem Temperament völlig frei an, prescht hier vor und hält dort zurück. In der zweiten Strophe würzt ein kurzes, beiseite gesprochenes Extempore den Vortrag. Kleinere und größere Verzierungen werden mit größter Selbstverständlichkeit angebracht – es ist als ob die Stimmbänder mit den Augen zwinkern.
Damit sind Maßstäbe gesetzt. Juliette Simon-Girard kommt vom Pariser Café-Chantant her. Beim Durchhören der vier CDs drängt sich eine einfache Formel auf: je mehr Stimme, desto weniger Humor. Opernsänger sind offenbar Gift für Offenbach. Rudolf Schocks Hoffmann im Heldenton klingt nach Groschenroman (1948). Jussi Björling, mit dem Ida-Lied als 27-jähriger Paris in der Blüte seines herrlichen Tenors dokumentiert, mordet die kleinen Ornamente, deren tieferer Sinn ihm entgeht (1938). Marthe Chenal von der Opéra stattet ihre Helena mit mehr Gefühl als Charme aus (1915), Emma Calvé verwechselt die praktische Perichole mit Bizets herzensguter Micaela (1919), Gaston Michelettis Hoffmann an der Opéra Comique ist nur schön (1927), Miguel Villabella, mit wundervoller Artikulation, schmettert auch mal los (Grand Opéra, 1928), Leila Ben Sedira – bezaubernd, aber geistlos (1930), Livine Mertens fällt als Großherzogin auf ihr eigenes Pathos herein (1930)… Die teilweise geradezu berauschende Ausführung dieser Gesangsheroen hält mehr, als ihr oberflächliches Offenbach-Verständnis verspricht. Neben den hauptberuflichen Offenbach-Darstellern, denen die Anthologie den Löwenanteil des Platzes einräumt, wird das offenbar. Die wirklich einleuchtenden Interpretationen kommen von Schauspielern, Stand-up-Comedians, Revue-Starlets und Diseusen. Bei ihnen liegt der wahre und wohl auch authentische Offenbach-Stil. Hört man die Einspielungen in der Reihenfolge ihrer Entstehungsdaten, so kann man verfolgen, wie sich dieser spezifische Stil mit dem Verschwinden der Cafés-Concert allmählich verflüchtigt.
Laurent Fraisons Anthologie in einer kurzen Rezension zu würdigen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu wenige der Trouvaillen können hier benannt werden. Den Höhepunkt stellt zweifellos Klavdia Novikova mit der «Griserie», dem Schwipslied der Perichole dar (1939). Das gluckst und torkelt, ist anarchisch wie das Leben, lustig wie das Spiel und charmant wie die Kunst, 100-prozentiger Ausdruck einer starken Künstler-Persönlichkeit, die sich nicht hinter blasser Werktreue zu verstecken braucht und doch ganz Geist von Offenbachs Geist zu sein scheint. Novikova, 1895-1968, gehörte während der Russischen Revolution zum Roten Agit-Prop-Zug, ging 1920 für zwei Jahre als Operettensängerin nach Odessa, schließlich ans Moskauer Operettentheater, wo sie bis 1958 wirkte. Für Melodiya hat sie zahlreiche Platten eingespielt. Man soll sie herausgeben!
Nr.2 auf der Hitliste: Reynaldo Hahn, Lebensabschnittsgefährte von Marcel Proust. Er war Komponist und sang nur für Freunde im Salon. Die beiden Couplets aus La Boulangère à des Écus erfindet er geradezu neu und erzählt die Geschichte vom Mehl- und Kohlenhändler, indem er vom Sprechen ins Singen, vom Singen ins Sprechen gleitet: ein Juwel (1921). Erfreulicherweise hat Pearl dem Komponisten, Pianisten und Hobby-Tenor eine ganze Porträt-CD gewidmet (Vertrieb Helikon GEMM 0003).
Ein “Monsieur Ragneau de l’Opéra”, der in der Operngeschichte aber keine Spuren hinterlassen hat, erweist sich als Vokaldadaist ersten Ranges (1906). In Hippolyte Belhomme lernt man den Crespel der Hoffmann-Uraufführung kennen (1910). Marthe Bakkers und Suzanne Brohly von der Opéra-Comique wirkten in der Uraufführung von Ariane et Barbe-Bleue mit. Mit dem Hausierer-Duo aus Roi Carotte (letztere unter dem Pseudonym Alix Martell auch im Entführungs-Duett der Princesse de Trebizonde) machen die beiden deutlich, was Karl Kraus mit dem “tiefholden Unsinn” meinte, den er Offenbach bescheinigte (1910). In Anna Tariol-Baugé (1908), Edmée Favart (1920), Yvonne Printemps (sie war die zweite Frau Sacha Guitrys und Muse der Groupe des Six; Hortense Schneider rief sie als ihre legitime Erbin aus; 1929), Fanely Revoil, der “letzten Divette” (1934) und vielen anderen lebt die Revue-Tradition der Bouffes Parisiens und des Théâtre des Variétés wieder auf. Félix Oudart und Dranem (d.i. Armand Ménard), zwei Stand-up-Comedians, prägen sich mit unglaublichen Chargen unvergesslich ein. Zwei der berühmtesten Offenbach-Aufführungen der 30er Jahre, das Pariser Leben im Théâtre Mogador und die Banditen der Opéra-Comique, sind mit umfangreichen Auszügen dokumentiert. Abby Richardsons Jenseitsrufe als Mutter Antonias in den Contes d’Hoffmann fahren einem durch Mark und Bein (1931). Die Schauspieler Madeleine Renaud und Pascal Bertin geben als Lischen und Fritzchen ein sublimes Elsässer-Paar (1932). André Balbon (1930), Louis Richard (1930) und Joel Berglund (1938) lehren uns, was es heißt, ein Offenbach-Bösewicht zu sein…
Der Reichtum dieser klanglich erfreulich restaurierten Anthologie ist unermesslich. Nur zwei Dinge fehlen ihr zur Vollkommenheit: die Gesangstexte und die Biographien der Interpreten.
Offenbach: Anthologie Vols.1-4
Simon-Girard, Ragneau, Vaguet, Marak, Tariol-Baugé, Boyer, Dambrine, Démoulin, Berthaud, Devriès, Nansen, Syril, Nicod, Ponzio, Berthon, Pujol, Luart, Gilles, Viva, Foix, Syfer, Fenoyer, Dréan, Urban, Regelly, Delprat, Coiffier, Rousseau, Musy, Duvaleix, Noel, Bettendorf, Groh, Feraldy, Beaujon, Teschemacher, Klose, Domgraf-Faßbaender, Korjus, Micheau u.v.a.
Forlane/Note 1, 16766, 16778, 16783, 16788, AD: 1903-1948, (4 CDs)