Hans-Dieter Roser
Verein der Freunde des Gymnasiums Krems/Donau
16 March, 2012
Als mich vor ein, zwei Jahren eine humanistische Gesellschaft wegen eines Vortrags ansprach, mich gleichzeitig aber darauf aufmerksam machte, dass das Thema Oper und Antike bereits behandelt worden sei, war es mehr als naheliegend, „Operette und Antike“ vorzuschlagen. Nach einiger Zeit ließ man mich wissen, dieses Thema sei einer humanistischen Gesellschaft nicht angemessen – und zog sich diskret zurück.
Wenn man sich zu meiner Schulzeit in den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Operettenliebhaber deklariert hatte – den Ausdruck Fan gab es damals ja noch nicht -, dann erlebte man in den Kreisen vorgeblicher Musikliebhaber und – kenner eine beinahe identische Reaktion. Dabei waren die Spielpläne der Theater damals noch voll mit Operetten, und der Rundfunk hätte ohne Operettenmelodien sicher längere Spannen Funkstille gesendet. Die breite Masse des Publikums und der Zuhörer liebte Operette, wovon man sich täglich bei den Musikstücken in „Ein Gruß an Dich“ im Radio überzeugen konnte, der „Erbschleicher“-Sendung des Österreichischen Rundfunks, wie sie der Volksmund nannte, wo man die 90. Geburtstag feiernde Großmutter permanent tenoral substituiert instinktlos mit dem Zarewitsch fragen ließ: „Hast Du da droben vergessen auf mich?“
Die negative Einstellung der Operette gegenüber war aber nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, wo die Musikschaffenden und die Musikwissenschaft generell allem, was tonal klang, ablehnend gegenüber standen und sogar die seriöse tonale Moderne der Vorkriegszeit, Schreker, Korngold, diskriminierend ins Out drängten. Schon Anfang der 1940erjahre nannte Richard Strauss die Operettenkomponisten „musikalische Hochstapler und Volksvergifter“ – und einige Jahrzehnte später gestand in seinen Memoiren Oscar Fritz Schuh, ein ernsthafter, kluger Regisseur von brillanten Operetteninszenierungen, seine Aversion gegen das Genre zur Jahrhundertwende 1900, sobald es nicht bereit war, den Formgesetzen der Oper zu folgen. Und das war es nicht. Das durfte es auch nicht, wenn es nicht seine „Seele“ aufgeben wollte.
Woher kommen diese Vorurteile speziell im beginnenden 20. Jahrhundert? War das Genre zu erfolgreich? Bei Richard Strauss kann man die Attacke noch verstehen. Er war auf alles eifersüchtig, was höhere Aufführungsziffern als seine Werke erreichte. Dabei hatte gerade er wenig Grund zum Opponieren, wo doch sein Rosenkavalier sehr deutlich mit der Operette kokettiert. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie einer unserer überaus tüchtigen und gebildeten Germanisten am Gymnasium sich nicht genügend über Libretto und Musik des Werkes exaltieren konnte, das er grässlich, „operettig“ fand – Hofmannsthal hin, Hofmannsthal her.
Woher diese Vorurteile? Hängen Sie mit dem urdeutschen Hang zusammen, nur Tiefsinniges als Kunst gelten zu lassen, nur dem Schönen, Wahren und Guten verpflichtet zu sein, wie man es auf die Tympana der Kulturinstitute des 19. Jahrhundert gemeißelt hatte? Sind die Ursachen dieselben, die Gounods Faust nur als Margarethe durchgehen ließen? War es die Meinung, dass nur der „hohe Ton“ ein Garant für Kunst sei? War man der Überzeugung, dass „beim Happyend“, zu dem unweigerlich jede Operette führte, geistig „abjeblendt“ würde, wie es Kurt Tucholsky für den Film formulierte? Dabei hätte man ja auch ohne weiteres in der Operette das Schöne, Wahre und Gute finden können, denn auch sie entzog sich nicht der Realität.
Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass in der ersten Hochblüte der Operette der Naturalismus die Literatur und das Theater bestimmte. Aber die Operette folgte nicht der Forderung des Protagonisten des naturalistischen Theaters, Otto Brahm in Berlin, nach einer „individuellen Wahrheit“ im Theater, sondern blendete nur das Problemfeld auf, um die Handlung in Landschaft und Zeit festzumachen. Es war quasi das Skelett, an dem die Parameter des Operettengenres fest gemacht wurden. In Wien wurde das ab der Jahrhundertwende besonders deutlich, als Josef Jarno, ein Bewunderer und Schüler von Brahm, am Burgtheater und besonders dann am Theater in der Josefstadt ähnliche Ziele wie sein Lehrmeister verfolgte. Die Operette stieg auf die Themen ein, wendete sie aber in eine andere Zielrichtung, die aber selbst in der historischen Ausrichtung nicht die Realzeit verließ.
Die Operette der ersten Stunde, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris auf die Bühne kam, war schon Protest gegen die Realität.
Protest gegen politische Verhältnisse, Protest gegen die dominierende Kunstanschauung, Protest gegen eine Gesellschaft, die diese dominierende Kunst anschob und sich daraus ihren öffentlichen Lebensstil destillierte. Diese Gesellschaft fand sich nun plötzlich parodistisch, sarkastisch auf der Bühne gespiegelt und war souverän genug, darüber nicht gekränkt zu sein, und gebildet genug, die Scharaden der Vexierspiele durch die Versetzung in andere Zeiten amüsiert zu lösen. Historisch verfremdet ließ sich viel sagen und treiben, was in der Realzeit nicht den Schreibtisch der Zensur oder anderer öffentlicher Sittenrichter hätte passieren können. Die Operette setzte in der Verfremdung auch Gefühle frei, die man im Alltag nicht auszuleben wagte, Begehrlichkeiten, die in der Realität als libertinär verurteilt worden wären. Gefühle, die hier oft mit dem Anspruch erotischer Postulate abgehandelt wurden. Mit der Operette verabschiedete man Tugend und Moral und streifte im Subtext unbehelligt die Pornographie, wenn wir nur allein an den „Säbel des Vaters“ im Couplet der Großherzogin von Gerolstein denken.
Verständlich, dass dieser Pariser Traum von Freiheit schnell das im Schnürkorsett der sogenannten guten Sitten gebundene Europa eroberte. Überall blühte die Doppelmoral. Wir brauchen nur an Stefan Zweig und seinen Wiener Befund in der „Welt von gestern“ zu denken, um zu verstehen, dass das Prinzip Operette vor allem einmal in Wien andockte. Zunächst mit Gastspielen des französischen Komikers Pierre Levassor, der 1856 Offenbachs Erstling, Die beiden Blinden, auf Französisch im Carl-Theater zur Aufführung brachte. In der Folge dieses erfolgreichen Unternehmens wurde das Andockmanöver allerdings kriminell: Karl Treumann, der Levassor mit den Einaktern in deutscher Sprache nachgefolgt war, wollte am Carl-Theater mehr Offenbach spielen, hatte aber Probleme mit den Urheberrechten, die er recht kriminell löste: Da man an eine Offenbachsche Partitur legal wegen der in Europa herrschenden politischen Wirren und kriegerischen Auseinandersetzungen nicht herankam, Französisches für die Monarchie zeitweilig gesperrt oder nicht erwerbbar war, übersetzte man einen Klavierauszug, dessen man habhaft werden konnte, auf Deutsch und ließ ihn von einem Wiener Komponisten nach Wiener Gusto neu instrumentieren. So hielt die Operette 1858 mit der Hochzeit unterm Laternenschein in der späteren Operettenhauptstadt Wien Einzug. Offenbach original war erst 1861 unter dem Meister persönlich zu hören, dann allerdings schon in Treumanns eigenem Theater am Franz-Josefs-Kai.
Offenbach hatte zwar gegen die illegale Vorgehensweise von Treumann protestiert, aber auf Rechtshilfe verzichtet, weil er den Geschäftserfolg der illegalen Unternehmung sah und sich die Tantiemen durch das Original nach Beruhigung der politischen Lage nicht entgehen lassen wollte. „Non olet“ – eine bis heute auch auf dem Kunstsektor gültige Devise!
Der Erfolg des neuen Genres war gewaltig. Treumann hatte weniger Gewicht auf den parodistischen Wert der Stücke gelegt, sondern mehr die Nebenwirkungen der neuen Kunstrichtung betont. Und da war ihm nicht der erotische Kitzel durch das neue Genre entgangen. Treumann hatte aber auch mitbekommen, dass der Magnetismus der Operette von der Bühnenpräsenz ihrer Interpreten abhing – und da natürlich besonders von ihren Interpretinnen. Also galt es, wienerische Pendants zu Hortense Schneider, Offenbachs Diva, zu finden und aufzubauen, die den Männern jeglichen Standes, so wie Madame Schneider in Paris, ordentlich einheizen konnten. Wien durfte bald auf eine Riege bedeutender Operettendarstellerinnen blicken, die das Genre trugen.
Die Operetten-Erfolge des Carl-Theaters hatten natürlich die Wiener Konkurrenz auf den Plan gerufen, in erster Linie den größten Konkurrenten, das Theater an der Wien unter seinem Direktor Alois Pokorny. Ihm war der dicke Fisch Offenbach entgangen, also musste er eigene Wege suchen – und fand sie in seinem Haus, in seinem Hauskapellmeister und – komponisten Franz von Suppé. 1860 präsentierte Suppé an der Wienzeile seine erste originale Wiener Operette mit dem Einakter „Das Pensionat“.
Auch das Theater an der Wien hatte sich bei den nun Wiener Produkten an den Parametern der französischen Operette orientiert und in erster Linie auf stimulierende Erotik gesetzt. Vom Formalen her ging man den Anfangsweg von Offenbach und seinen Librettisten. Man setzte auf die kleine Form mit pointierten Sketches, die oft eine überraschende Schlusspointe hatten. Heute würde man sagen: Es handelte sich um musikalische Comics. Und man setzte mit sich steigernder Begeisterung auf das auch von Offenbach erprobte Stilmittel der Hosenrolle, ein dramaturgischer Haupttreffer in einer Zeit, die Damen von Hals bis Fuß verpackte. Da waren nun plötzlich Damenbeine zu sehen. Bisher verpönte erotische Begehrlichkeiten bei Damen und Herren wurden durch Kunst tolerabel. Eine beträchtliche Schar von Künstlerinnen, die für die damalige Zeit den heutigen Status von Starlets erreichte, begann sich in diesem Genre abzuarbeiten. Die Hosenrollen dominierten derart, dass in der ursprünglichen Fassung des Einakters Banditenstreiche von Suppé sogar Polizeicorps und Banditenbande mit Damen in Hosen besetzt waren. Aber irgendwann hatte das Publikum auch davon die Nase voll. Dann stiegen auch die Herren in Kleid und Schürze. Das Cross-Dressing fand nun in der Gegenrichtung statt.
Die junge Wiener Operette kopierte allerdings nicht nur französische Vorlagen. Sie ging auch eigene Wege und trug als neuen Parameter eine Gefühligkeit in das fremde Kunstprodukt hinein, die dem Pariser Original noch nicht eigen war. Das mag mit dem speziellen Flair der Wiener Musik zusammenhängen, ihrer melancholischen Grundhaltung, wogegen die französische Musik eher durch Eleganz bestach. So trat dadurch in der jungen Wiener Operette zufolge der neuen Gefühligkeit das ironische Element in den Hintergrund. Das Pariser Flair wurde allerdings in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts auch von bürgerlichen Schichten bewusst moniert, die mit einer schon damals virulenten Fremdenfeindlichkeit auf Heimat drangen.
Musikalisch erfreute die Pariser Operette durch die Parodie des „hohen Tones“ der Meyerbeer-Opern. Suppé verzichtete darauf und zog sich auf die musikalische Gefühlsebene des italienischen Belcanto zurück, indem er Donizettis Klangwelt mit ihren ans Herz greifenden Terzen und Sexten in das Genre einband. Der Zusammenklang der hohen Frauenstimmen in den Duetten und Terzetten spannte außerdem den erotischen Bogen des Werkes noch weiter.
Der Wirkung konnte sich der spätere Operettenfeind Richard Strauss jedenfalls nicht entziehen, wie wir uns beim Rosenkavalier und bei der Arabella überzeugen können.
In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein der Ehrgeiz der Operettenkomponisten angehalten hat, auch auf dem Gebiet der Oper zu reüssieren. Außer dem Vater des Genres, außer Offenbach, blieb aber jedem Komponisten der Erfolg in der Oper versagt. Suppé, Strauß, Millöcker, alle waren sie auf dem Sektor glücklos. Und Lehár versuchte nach seinem Misserfolg mit Tatjana erst gar nicht, eine weitere Oper zu schreiben, sondern übernahm das tragische Element der Oper in seine Operetten. Damit raubte er Ihnen allerdings die Legitimation des Genres und rückte sie in ein bedenkliches Fahrwasser, das das Genre aus der Sphäre des Frivolen in den Bereich des Trivialen, ja oft Kitschigen verschob.
Selbst wenn das parodistische Element in der Wiener Operette zurückgedrängt wurde, so heißt das keineswegs, dass die Werke auf eine real existierende politische und gesellschaftliche Ebene verzichten mussten, auf der sich die Handlungen zutrugen.
Da spielen zum Beispiel Korruption, Dünkelhaftigkeit, Standesunterschiede, politische Begehrlichkeiten, ja sogar Armut, usw. eine Rolle. Die Handlungen sind also keineswegs Luftprodukte, sondern sind deutlich, meist sogar genau historisch fixiert, geerdet, wie schon erwähnt. Dass die Libretti nicht gerade Dichtungen sind und die Liedertexte nicht reine Lyrik, war den Librettisten und Komponisten eher egal. Es musste ein Tonfall gefunden werden, der von allen Bildungsschichten verstanden wurde und alle die Sachen transportieren konnte, die von einer Operette primär erwartet wurden. Mag sein, dass damit auch einer vermehrten Banalisierung der Stoffe Vorschub geleistet wurde, und die Operette damit nicht mehr in dem Maße wie in ihren Anfängen das Interesse auch der gebildetsten Schichten erregte. Aber inzwischen war auch Kunst Ware geworden, wie Hermann Bahr 1909 in seinen Tagebüchern konstatierte. Darin war für ihn nichts Schlechtes zu sehen. Eine seiner Thesen scheint direkt auf die Operette abgestellt zu sein: „Es kommt nicht auf den Gebrauchswert einer Ware als darauf an, dass sie sich rätselhaft neu gebärde“, ein Luxusartikel für Auserlesene, die die Seltenheit und den Reiz des Besonderen goutieren.
Wenn auch die Operettenlibrettisten keinen Ehrgeiz im Hinblick auf literarische Qualität entwickelten, sondern in erster Linie an einem überraschenden Fortschreiten der Handlung und einem nicht langweilenden, pointierten Text interessiert waren, so hatte das aber keinerlei Auswirkung auf die musikalische Qualität. Wir dürfen nicht vergessen, dass es bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus nicht diese unselige Trennung in U- und E-Musik gegeben hat, von der wir heute sprechen. Mozart, Beethoven, Schubert usw. haben auch Tanz- und Gebrauchsmusik geschrieben und das nicht als Makel empfunden. Erst als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei verschiedenen Musikern (z. B. Richard Wagner) der Trend dahin ging, Musik philosophisch zu befrachten und sie sogar für kulturpolitische Diskurse zu nutzen, ging die philosophiefreie Unterhaltungsmusik in eine andere Richtung. Sie war aber qualitativ nicht schlechter, weil alle Komponisten des Habsburgerreiches bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der verbindlichen Generalbasslehre (Harmonielehre und Kontrapunkt) ausgebildet wurden und nach deren Regeln komponierten. Das galt gleichermaßen für jede Art von Musik, also auch für die Unterhaltungsbranche.
Die breit eingefangene gesellschaftliche und historische Basis der Operetten, die auf einen allgemein verständlichen Punkt zentriert wurde, der die Botschaft des Werkes trug, war auch der Grund, dass sich die Operette in vielen Stilen über die ganze Welt ausbreitete.
Wir sprechen heute von einer Berliner Operette, einer italienischen Operette, einer spanischen Operette, einer amerikanischen Operette. Natürlich sind dem Genre aus den anderen Kulturen neue Spezifika zugewachsen: in Berlin eine gewisse Schnoddrigkeit, in Italien eine rhythmisch-tänzerische Eleganz, in Spanien eine opernhaftere Dramaturgie und ein opernhafterer melodischer Duktus, in Amerika der spezifische Mix-Klang des Kontinents und seine rhythmische Vitalität.
Das unaufhaltsame mediale Zusammenwachsen der Welt durch technischen Fortschritt hätte auch sicher der Operette in unseren Breiten andere Impulse vermittelt, hätten nicht die Nationalsozialisten der Internationalität einen Riegel vorgeschoben. Sie verbissen sich in die Begriffe der „goldenen“ und „silbernen“ Operette. „Golden“ war der erste große Schub von Wiener Operetten, die zwischen 1860 und 1900 entstanden waren. Denn am 31. Dezember 1899 war Karl Millöcker, der letzte dieser ersten Wiener Operettentrias gestorben und hatte damit diese Phase mit dem Jahrhundertende abgeschlossen. Beinahe lückenlos rutschte man in die Aera der „silbernen“ Operette mit Kálmán, Fall, Lehár usw. als Protagonisten.
Das Zentrum der Produktion verlagerte sich in dieser Zeit immer stärker nach Berlin. Das mag seinen Grund darin gehabt haben, dass Berlin immer mehr zu einer weltstädtischen Metropole wurde, in der mehr erlaubt war, in der das Leben mehr und internationaler sprühte als im zuerst wirtschaftsmaroden, dann austro-faschistisch eingeengten Wien. Sicher muss auch ein Zusammenhang darin gesehen werden, dass Berlin dem erstarkenden Nationalsozialismus klarer begegnete, wogegen in Wien die braunen Gedanken beständig herumwaberten und die antisemitische Bedrohung den vielen jüdischen Protagonisten des Genres in ihrer amorphen Unfassbarkeit das Leben schwerer machten als im Distanz haltenden Berlin. So kamen nun zu den Berliner Operetten-Ursprüngen mit Gilbert und Lincke die Wiener Leihgaben und wurden gleich zu Stars der neuen Revueoperetten.
Diese Revueoperetten dominierten Mitte der Zwanzigerjahre und zu Beginn der 1930erjahre das Genre, von den Operettenverächtern als „blecherne“ Operette abgekanzelt.
Wie sehr dieser Ausdruck diese Werke beleidigt, ist erst jetzt richtig nachvollziehbar, wo die Stücke wieder original zu hören sind und nicht im Kleid der nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch im ästhetischen Diktat der Nazidiktatur verharrenden Aufführungspraxis. Wäre nach der Machtergreifung 1933 nicht nationalsozialistische Kulturphilosophie zum Tragen gekommen, hätte es möglicherweise bald ein europäisches Musical als Pendant zur amerikanischen Entwicklung gegeben.
Die nationalsozialistischen Denker fühlten sich berufen, die Operette arrogant um ihre konstituierenden Elemente zu bringen: Eleganz, Witz, Sinnlichkeit und Frivolität. Sie schraubten die historische Entwicklung zurück. Hatte sich die Wiener Operette neben der italienischen Oper auch am Wiener Volksstück, an der Posse und dem realistischen Wiener Theater orientiert, hatte sie eine eigene Kategorie von Interpreten geschaffen, Operettendarsteller, die nichts mit der großen Oper im Sinn hatten, sondern singende Schauspieler waren, uns älteren Menschen hier noch als Typus mit Fred Liewehr oder Franz Böheim erinnerbar, so griff man nun vermehrt den Trend der silbernen Periode auf, die Operette verstärkt der Oper anzupassen. Was in der silbernen Zeit rein pekuniäre Ursprünge hatte, weil auch prominente Opernsänger an der großen Publicity der Operette und deren höheren Einnahmemöglichkeiten partizipieren wollten, wurde nun vorgegebene Richtung. Operette sollte Volksoper sein. Und auch das leichtlebige, „sündige“ Berlin, wie man sagte, sollte zurückgefahren werden und wieder Sitte, Moral und Heimatliebe Platz machen. Wo die Revueoperette internationale filmische Ansprüche beantworten wollte, zog nun wieder deutsches Wesen ein, obwohl man gerade auf das deutscheste Werk von allen, das Weiße Rössl, wegen seiner jüdischen Väter verzichten musste.
Das Ideal der braunen Denker war die Operette als opernnahes Volksstück, bieder, heimelig, gemütlich, seelenvoll.
Da die Werke jüdischer Autoren, die den Trend der Operette bestimmten, nicht mehr gespielt werden durften, beauftragte man genehme Autoren mit Surrogatwerken, die ziemlich unverblümt die jüdischen Originale kopierten. Es war eben nicht so einfach, aus rein weltanschaulichen Gründen plötzlich Kálmán, Ábrahám, Stolz, Benatzky und vor allem Stammvater Offenbach ersetzen zu müssen. Und dann noch in einer vorgegebenen Form, die nicht die der großen jüdischen Autoren war.
Bedauerlicherweise ging aber der nationalpolitische Nonsens mit dem Ende des Dritten Reiches nicht zu Ende. Die Protagonisten der kurzen 100 Jahre ergriffen nach 1945 wieder das Ruder und veränderten nun die Substanz der Werke der Autoren, die krank, ausgebrannt, gebrochen aus der Emigration zurückkehrten. Sie trimmten sie auf die Maße, die sie ungebrochen über das Ende getragen hatten. Damit brach auch das junge Publikum weg, da es kein Interesse an den Banalopern hatte, die ihnen als Operetten vorgesetzt wurden. Damals hätte es für die Operette eine Bewegung geben müssen wie jüngst für die Barockoper, die eine vergessene Gattung ins Bewusstsein des Theaterpublikums hätte zurück katapultieren können. Wo würden wir heute stehen!
Alfred Polgar hat einmal das damalige Feuilleton „Ein Nichts, aber in Seidenpapier“ genannt. Mit Nachsicht aller Taxen lässt sich der Ausspruch auch auf die Operette anwenden, wenn wir allerdings dem „Nichts“ ein Leichtgewicht zugestehen müssen.
Im heutigen Theater ist bei der Operette das Seidenpapier das Problem geworden, wodurch die Operette wieder aus der Zeit zu fallen droht. Den heutigen Interpreten und auch Teilen des Publikums ist das Gefühl für Eleganz und Stil abhandengekommen, die für die Operette immer Grundbedingung waren, wenn sie sich nicht gerade ein ländliches Sujet vorgenommen hatte. Aber selbst am Land gibt es eine natürlich Eleganz und einen formgebenden rustikalen Stil. Eleganz und Stil sind auch im Sprechtheater mit dem Verlust der Boulevardstücke verloren gegangen, die früher einmal Generationen feine Art und gutes Benehmen mit geschliffenen Pointen gelehrt haben durch Schauspieler, die das noch überzeugend vermitteln konnten. Wer einmal die Almassy Pointen Setzen gehört hat oder Heesters beim Tanzen mit einem Fuß die Schleppe der Partnerin um sie herum werfen sah, weiß, worüber ich spreche.
Der Hang unserer Regisseure zum ewigen Hinterfragen der Stücke, zum Umdichten ist etwas, was amüsanten Operetten nicht bekommt. Was will man noch hinterfragen, wenn schon das Produkt das Ergebnis einer Hinterfragung – aber mit Lustgewinn – ist? Das sind nicht Interpretationen, die sie uns da bieten, sondern Hinrichtungen. Ich möchte keine dieser Schreckenstaten, deren es viele gibt, vor den Vorhang ziehen, weil man sie nur dem Vergessen übergeben kann.
Seit ihren Anfängen war die Geschichte der Operette, wie ich schon sagte, immer auch eine Geschichte ihrer Interpreten. Sie waren in einem ebensolchen Maße publikumsattraktiv wie Handlung oder Musik eines Werkes. Und sie waren sich bewusst, dass nicht nur ihre exzellente Töneproduktion, mit der sie gar nicht aufwarten konnten, die Operette bedient, sondern ihre Persönlichkeit, die das Publikum euphorisierte. Girardi war sicher kein großer Sänger und kein dämonischer Schauspieler, aber er war der Operettenstar schlechthin. Der kleinwüchsige Max Hansen, hatte auch kein außergewöhnliches Organ, ja sprach sogar sehr hoch; aber er bezauberte das Publikum mit seinem überwältigenden Charme. Die legendäre Fritzi Massary, sang keineswegs besser als Max Hansen, aber mit dem perfekten Einsatz dieser Stimme und ihren schauspielerischen Möglichkeiten konnte sie dennoch die Inkarnation einer erotischen, eleganten, elektrisierenden Dame werden. Was diese Herrschaften konnten, ist am heutigen Theater nicht mehr gefragt. Deshalb hat es die Operette in unserer Zeit so schwer.
Was ist es aber dann, was die Operette in der Dürre dieser uneleganten, uncharmanten, unmelodiösen Zeit nicht nur bei alten, in Erinnerungen schwelgenden Zuschauern interessant macht?
Es ist die Flucht in einen Traum, in den Traum von einer heilen Welt, in die die Stücke entführen, das Märchen von gelösten Problemen, der Sieg des Guten, das ewige glückliche Ende, so wie der Tatort-Kommissar immer den Täter überführen und damit das vorerst aufgewühlte und dann endberuhigte Publikum befriedigt in den nächtlichen Schlaf entlassen muss. Und wenn nun einer sagt, die Operette sei ja doch nur Unterhaltungstheater gewesen – na und? Ist Unterhalten etwas Schlechtes? Etwas Negatives? Würden in diesem Falle Scharen von Hausfrauen vormittäglich ihre Kochkünste durch den Genuss von Telenovelas gefährden?
Das Theater war nie nur hehre Lebensreflexion. Auch vom Reflektieren muss man ausruhen. Und dafür hat man nun schon seit mehr als 150 Jahren die Operette. Wien sollte ihr nicht nur eine Ausstellung, sondern ein eigenes Museum liefern. Denn sie hat den Ruf der Stadt ebenso in die Welt getragen, wie alle anderen Kunstwerke, die diese Stadt geschaffen hat.
Vortrag gehalten für den Verein der Freunde des Gymnasiums Krems/Donau im Rahmen der Operettenausstellung des Wiener Theatermuseums