Peter Oliver Loew über Polen in der deutschsprachigen Operette

Albert Gier
Operetta Research Center
14. Oktober 2021

2013 wurde dem Slawisten und Historiker Peter Oliver Loew (er ist seit 2019 Direktor des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und seit 2020 Honorarprofessor an der TU Darmstadt) der alle zwei Jahre von der Societas Jablonoviana vergebene Jablononwski-Preis verliehen, mit dem, so das Vorwort zum vorliegenden Buch (S. 5-7), das auch einen Überblick über die wechselvolle Geschichte der in Leipzig ansässigen Gesellschaft seit ihrer Gründung 1774 gibt, „junge Wissehnschaftler aus Polen und Deutschland ausgezeichnet [werden], die den Blick auf das eigene oder andere Land schärfen“.

„…das hält kein Pole aus!“ Polen in der deutschsprachigen Operette. Geschichte, Rezeption, Wirkung" von Peter Oliver Loew.

„…das hält kein Pole aus!“ Polen in der deutschsprachigen Operette. Geschichte, Rezeption, Wirkung” von Peter Oliver Loew.

Aus der Laudatio von Peter Lawaty (S. 9-14) und der Auswahlbibliographie der Veröffentlichungen des Preisträgers (S. 79-86) ist ersichtlich, daß den zentralen Schwerpunkt von Loews Arbeiten die Geschichte und Erinnerungskultur der Stadt Danzig bilden, aber er hat auch zu vielen anderen Themen publiziert.

Die Societas Jablonoviana veröffentlicht in einer eigenen Reihe jeweils eine kleinere Arbeit des Preisträgers. Loew (der sich schon früher mit musikhistorischen Themen befaßt hat, allerdings nur selten) legt hier eine Studie zum Polenbild der deutschen Operette vor.

Peter Oliver Loew, 2015. (Foto: Artur Andrzej / Wiki Commons)

Peter Oliver Loew, 2015. (Foto: Artur Andrzej / Wiki Commons)

Hinsichtlich des spezifisch ‚Polnischen‘ in der Musik der Operetten und seiner Bewertung durch Kritiker in der deutschsprachigen wie der polnischen Presse sollte man eines vielleicht vorab feststellen: Während das breite Publikum italienische, französische oder spanische Musik gewöhnlich an bestimmten charakteristischen Merkmalen zu erkennen vermag, hat der durchschnittliche Opern- oder Operettenfreund keine klare Vorstellung vom Idiom polnischer Musik.

Um etwa den Eindruck von italianità zu erzeugen, kann ein Komponist auf ein Inventar bekannter und erprobter Klischees zurückgreifen, als spezifisch polnisch nimmt ein mitteleuropäisches Publikum allenfalls Tänze wie Mazurka, Polonaise und Krakowiak wahr (vgl. S. 20). Eine mehr oder weniger vage Vorstellung hat der Durchschnittshörer ohne musikalische Vorkenntnisse allenfalls noch vom („schwermütigen“) Charakter slawischer Musik, aber spezifisch Polnisches z.B. von Russischem zu unterscheiden, wird ihm kaum möglich sein. Daß den Komponisten spezifisch polnisches Kolorit weniger wichtig war als die theatralische und dramatische Wirkung ihrer Musik, ist nur folgerichtig.

Einleitend weist Loew darauf hin, daß die Operette als kommerzielle (überwiegend in Privattheatern aufgeführte) Theatergattung den Erwartungen ihres Publikums (in dem er im Anschluß an Moritz Csáky das „aufstrebende mittlere städtische Bürgertum“ erkennt, S. 64) entsprechen mußte. Das Bild, das die Wiener Operette vom „Osten“ vermittle, spiegele das „nationale Überheblichkeitsgefühl der österreichischen Bürger“ wider (S. 21, im Anschluß an Heike Quissek), in Berlin sei es ähnlich.

Marie Geistinger as a cross-dressing "Bettelstudent".

Marie Geistinger as a cross-dressing “Bettelstudent”.

Im folgenden werden die (wenigen) bekannten und einige völlig unbekannte Operetten besprochen, die in Polen spielen: In Millöckers Bettelstudent (S. 23-32) sei der Schauplatz mehr oder weniger beliebig gewählt[1] („des Kostüms wegen“, S. 27). Millöckers Musik enthält denn auch nichts spezifisch Polnisches. Dennoch war (und ist) die Operette auch beim polnischen Publikum beliebt, obwohl ein Lemberger Kritiker nach der Erstaufführung dort 1883 schrieb, die Polen im Bettelstudenten seien immer „dumme und lächerliche Figuren“ (S. 29), was auf Symon, Jan, Bronislawa, und auch auf die (anfangs) arg hochnäsige Laura eindeutig nicht zutrifft.

Hermann Zumpe (1886), gezeichnet von Christian Wilhelm Allers.

Hermann Zumpe (1886), gezeichnet von Christian Wilhelm Allers.

Dann werden kurz einige offenbar mit Recht vergessene Operetten besprochen, die keine „polnischen Klänge“ enthalten: Der Polengraf (Berlin 1889) von Louis Roth; Polnische Wirtschaft (Berlin 1891) von Hermann Zumpe; Jadwiga (Dresden 1901) von Rudolf Dellinger, das Libretto dieses letzten Stücks (von Hirschberger / Pohl) greift kurioserweise den Stoff von Aubers Opéra comique Die Krondiamanten (Buch Eugène Scribe) auf (S. 36). – Sehr erfolgreich war die zweite Polnische Wirtschaft von Jean Gilbert (Cottbus 1909); Polnisches begegnet in diesem Stück auf der textlichen und szenischen, nicht aber auf der musikalischen Ebene (S. 39).

(Ich nutze die Gelegenheit zu einer Präzisierung: Loew schreibt, der Komponist sei „von einem findigen Theaterunternehmer zu einem französisch klingenden Künstlernamen überredet worden“ (S. 37). Das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig: Natürlich, wenn ein Herr Gilbert mir Vornamen Jean heißt, wird jeder den Nachnamen französisch ausprechen (Schilbär). Die Schwiegertochter des Komponisten weiß allerdings zu berichten[2], ihr Schwiegervater habe den Namen „Gilbert“ als Hommage an William Schwenk Gilbert, den Textdichter der erfolgreichen Savoy Operas von Arthur Sullivan, gewählt, demnach wäre Gilbert auf englische Art [oder auf deutsche, was in diesem Fall dasselbe ist] auszusprechen).

Robert Gilbert's famous father Jean Gilbert, composer of operettas such as "Die keusche Susanne" and "Kinokönigin."

Robert Gilberts berühmter Vater Jean Gilbert.

Das umfangreichste Kapitel (S. 44-56) ist dann Oskar Nedbals Polenblut, „einer der erfolgeichsten Operetten der Geschichte“ (S. 44) gewidmet: Es ist „sicherlich die ‚polnischste‘“ unter den deutschsprachigen Polen-Operetten (S. 46), auch die Musik schlägt „eine sehr markant polnische Note“ an (S. 45). Die polnische Öffentlichkeit „tat sich […] nicht leicht mit diesem Werk“ (S. 50): Kritiker warfen Nedbal (er war Tscheche) vor, er habe keine ‚polnische‘ Musik schreiben können (S. 52). Andererseits gab es Versuche einer „nationalen Aneignung“ der Operette, indem etwa polnische Tänze anderer Komponisten eingefügt wurden (S. 51)[3].

Notentitelblatt zu Oskar Nedbals "Polenblut".

Notentitelblatt zu Oskar Nedbals “Polenblut”.

Auch Der letzte Walzer von Oscar Straus (Berlin 1920), spielt in Polen, das hier allerdings als „Abbild russischer Lebens- und Salonwelten“ dagestellt wird (S. 57); als die Operette im folgenden Jahr im Theater an der Wien inszeniert wurde, ging man davon aus, sie spiele in Rußland (S. 58). – Loew erwähnt nur knapp Fritzi Massary, die Vera Lisaweta der Berliner Uraufführung (S. 58); da der Erfolg der Operette nach Ansicht der meisten Kritiker wesentlich ihr Verdienst war, sollte man ihr vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit widmen.

Fritzi Massary in Berlin, 1929. (Photo: Bundesarchiv, Bild 183-1983-0207-501 / CC-BY-SA 3.0)

Fritzi Massary in Berlin, 1929. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1983-0207-501 / CC-BY-SA 3.0)

Die blaue Mazur von Franz Lehár (Wien 1920) schließlich ist die einzige deutschsprachige Operette, in der auf polnisch gesungen wird: Der Protagonist Graf Julian Olinski soll sein wehmütiges Lied, das die Erinnerung an seine Frau Blanka (eine Wienerin) beschwört, die ihm am Tag ihrer Hochzeit fortgelaufen ist, möglichst in seiner Muttersprache singen (S. 60f.). Olinski ist allerdings der einzige Pole unter den Hauptfiguren, die Handlung spielt in Wiem und Umgebung (immerhin ist polnisches Landvolk von den Besitzungen des Grafen nach Wien gereist, um ihm mit Tänzen und Liedern zur Hochzeit zu gratulieren). Komponist Franz Lehár charakterisiert Olinski mit Mazurken, Blanka mit Walzern (S. 62).

Sehr knapp werden dann noch zwei späte Operetten vorgestellt: Die polnische Hochzeit von Joseph Beer (Zürich 1937) hätte m.E. mehr als eine karge Druckseite verdient (S. 66f.), denn Beer (dessen vielversprechende Karriere durch die sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten brutal beendet wurde) ist ein Komponist, der einfach alles kann, die stilistische Vielfalt seiner Partitur ist beispiellos, wenn auch das polnische (folkloristische) Element hier nur eine Facette bildet (u.a. ein sehr schöner Krakowiak). – Dagegen ist Die schöne Carlotti von Willi Czernik (Prag 1943), eine Operette, die in einem „realitätsenthobenen unpolnischen Polen“ spielt (S. 67), zweifellos mit Recht in Vergessenheit geraten.

Poster zur Uraufführung von "Polnische Hochzeit". (Foto: Wiki Commons)

Poster zur Uraufführung von “Polnische Hochzeit”. (Foto: Wiki Commons)

Das Fazit des Autors fällt erfreulich differenziert aus: Die Polen-Operetten erscheinen einerseits als „Werkzeuge eines imperialen Überheblichkeitsgefühls“ (S. 68), andererseits sind die Werke „nicht in erster Linie […] Werkzeuge eines deutschen Kulturimperialismus“ (S. 69).

Für die polnische Musikkritik stellen die deutschsprachigen Polen-Operetten ein Problem dar, das ein bißchen an die heißdiskutierte Frage erinnert, ob Nichtjuden jüdische Witze erzählen dürfen: Wenn nichtpolnische Komponisten „polnische“ Musik zu schreiben vermögen, wird dadurch deren Originalität in Frage gestellt, und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, spricht man solchen Komponisten a priori die Fähigkeit ab, „sich in die polnische Musik einfühlen zu können“ (S. 70).

Die polnische Fahne an einem Mast. (Foto: Nemesia Production / Unsplash)

Die polnische Fahne an einem Mast. (Foto: Nemesia Production / Unsplash)

In eklatantem Gegensatz zu dieser Position stehen nun allerdings Bemühungen, den Bettelstudenten und Polenblut, also die beiden erfolgreichsten der besprochenen Werke, „zu Nationalmusik zu verwandeln, quasi zu einer Halka zum Lachen“ (S. 71). Das Bild, das sich ergibt, ist somit widersprüchlich, verwirrend, und eben dadurch faszinierend.

Stanislaw Moniuszkos "Halko" in einer Aufnahme von 1956.

Stanislaw Moniuszkos “Halko” in einer Aufnahme von 1956.

[1] In den Texten von Bulwer-Lytton und Sardou, die den Librettisten Zell und Genée als Vorlagen dienten, spielt die Geschichte in Frankreich, vgl. S. 23.

[2] Marianne Gilbert Finnegan, Das gab’s nur einmal. Verloren zwischen Berlin und New York. Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann, Zürich 2007, S. 15.

[3] Als die Teschner Operettengesellschaft mit Polenblut in Sarajewo gastierte (1914), kam das Gerücht auf, dieses Gastspiel sei „eine chauvinistisch-germanische antislawische Aktion des Hakatistenvereins“ (S.53). Was der „Hakatistenverein“ ist, wird nicht erläutert, zum Glück gibt es Wikipedia: Der Verein suchte Posen und Westpreußen zu germanisieren und das polnische Element zurückzudrängen.

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