Retro-Muschi: La Nick und der “Schwanz, der noch ficken will und kann”

Kevin Clarke
queer.de
10 May, 2015

In der Berliner Theaterszene hängt natürlich immer alles mit allem zusammen. Irgendwie. Was ja auch den besonderen Reiz unserer Hauptstadt ausmacht. Unter diesem Aspekt kann man das neue Programm von Désirée Nick im Tipi-Zelt am Kanzleramt nicht nur für sich genommen als aufregend “andersartige” Show sehen. Sondern auch als Antwort und Kampfansage an die vielen anderen Institutionen vor Ort.

Denn La Nick widmet sich in der neuen Show “Retro-Muschi” fast vollständig der Operette und dem Chanson, mit Friedrich-Holländer-Titeln und Oscar-Straus-Liedern sowie einem Abstecher zu Johann Strauss und der “Fledermaus”-Adele. Von Bach/Gounods “Ave Maria” und Barbra Streisand (“Guilty”) mal ganz zu schweigen.

Desiree Nick

Szene aus der Show “Retro-Muschi” mit La Nick im Cher-Look. Foto: XAMAX

Das ist im Kern ein Repertoire, das in Berlin hauptsächlich die Komische Oper bedient, die bekanntlich seit längerem einen Tipi-Star nach dem anderen abwirbt für Spezialproduktionen. Desirée Nick war bislang nicht dabei. Abgeworben hat sie nur die Staatsoperette Dresden, wo sie seit langem konzertante Aufführungen von Johann-Strauss-Operetten präsentiert. Dabei passt ein Glamourstar wie Desirée Nick natürlich viel besser ins pochende Herz von Berlin statt in die Vororte von Dresden. Obwohl sie da auch ihre Fans hat. Ihr im Dschungel erworbener Ruf strahlt halt weit!

Geht’s in den vielen Stand-up-Comedy-Passagen primär um ihr schwules Publikum und ihr Verhältnis zur Homowelt (und zu schwulen Couturiers), so steht im musikalischen Zentrum Oscar Straus. Der bekanntlich auf Barrie Koskys Spielplan der Komischen Oper als neue eigene Reihe unter den Neuankündigungen zu finden ist. Zur Erinnerung: Es wird in der Behrenstraße demnächst “Eine Frau, die weiß was sie will” (1932) geben. Mit Dagmar Manzel. Die die Fritzi-Massary-Klassiker “Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?” und “Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will” singen wird. Mit Adam Benzwi am Dirigentenpult. Weitere Straus-Massary-Operetten sollen folgen.

Im Gegensatz zu Manzel wählt Nick eine andere, höchst individuelle Herangehensweise an dieses Repertoire.

Statt berühmte Vorbilder zu kopieren oder ihren Stil zu adaptieren, statt diese Lieder weitestgehend so zu singen, wie man sie aus historischen Vorlagen kennt, krempelt Nick sie kurzerhand um und macht aus ihnen etwas ganz Eigenes.

Ein Ansatz, den sie sich von den Großen des Genres Operette/Chanson abgeguckt hat. Denn eine Massary, beispielsweise, hat sich alles umschreiben lassen, damit es ihr wie auf den Leib geschneidert passt. Désirée Nick tut das auch, zusammen mit ihrem Regisseur Alexander Doering und dem Pianisten Volker Sonderhausen. Und sie tut es genial.

Sagen wir mal so: So wie hier hat bestimmt noch niemand Oscar Straus interpretiert, seit den seligen Tagen der Fritz Massary.Denn wenn die “Dschungelqueen mit Weltklasse” anhebt und trällert “Ich bin eine Frau, man nennt mich La Nick” und “Warum soll eine Frau keine Schamhaare haben?”, dann ist das mindestens eine Operettenrevolution. Sogar in Berlin, wo unlängst schon mehrere Operettenrevolutionen stattgefunden haben.

La Nick singt Oscar Straus. Foto: Jan Wirdeier

La Nick singt Oscar Straus. Foto: Jan Wirdeier

So frech und keck und over-the-top hat dennoch, selbst hier, diese Titel niemand präsentiert. Mit einem Hang zur Groteske, mit Lust an der Selbstdekonstruktion, mit Starquality in XXL-Format und mit einer Stimme, die das Absurde und die Abgründe des Lebens nicht nur evoziert, sondern zelebriert. Es war der gagahafteste Operettenabend, den ich je erlebt habe.
Für jemanden, der sich oft mit der Groteske und Erotik der Ur-Operette beschäftigt hat und sich fragte, ob er das jemals nochmal live wird hören dürfen, war es fast eine Offenbarung, Désirée Nick zu laschen, wenn sie während des Schamhaar-Songs in den Saal ruft: “Ist sie hübsch, wird man sagen, na, die darf doch keine haben, es wär’ zu dumm. Ja, und ist sie vorn auch nackt wie eine Schnecke, wächst ihr hinten rum am Arsch ‘ne fiese Hecke!” Auch im Tipi hielt das Publikum kurz den Atem an, bevor es lachte.

Ich würde behaupten, dass seit den Tagen von Offenbachs Stars Hortense Schneider, Marie Geistinger oder Josefine Gallmeyer niemand derart radikal Operette vorgetragen hat. Und auch wenn der Gesang von Désirée Nick oft nicht schön klingt, er ist immer wirkungsvoll. Schauderhaft wirkungsvoll. Und es sind Schauder der Freude, ihr zuzuhören.

Der andere zentrale Komponist des Abends ist Friedrich Holländer. Seine “Kleptomanin” trägt La Nick noch weitgehend im “Original” vor, obwohl der Blow Job des Herrn in der ersten Reihe natürlich nicht in der Vorlage zu finden ist. Und der mit Sperma gefülltem Mund gesungene letzte Refrain auch nicht.

Die Marlene-Dietrich-Nummer “Kinder, heut Abend, da such ich mir was aus” bekam dafür von ihr einen vehementeren neuen Dreh. Der im Grunde das, was Anfang der 1930er Jahre nur angedeutet wurde, in die grelle Realität von Porn-2.0-Zeiten katapultiert. Denn jetzt heißt es, neu getextet unter Mitarbeit von Doering: “Kinder, heut Abend, da such ich mir was aus, einen Schwanz, einen richtigen Schwanz.” Weiter geht’s mit: “Einen Schwanz, der noch steht, und der vor Geilheit glüht. Einen Schwanz, dem das Sperma aus der Nille sprüht. Kurz: Einen Schwanz, der noch ficken will und kann.”

Ich fühlte mich erinnert an Statements wie: “Ein gewisser dämonischer Zug ihrer Augen wirkt doch mächtig auf jeden sie betrachtenden. Sie ist interessant, pikant. Ein leiser satyrischer und stark sinnlicher Zug spielt um ihre Mundwinkel und Alles an ihr athmet Geist, Lebenslust und Genuß.”

Diese Worte schrieb Max Waldstein 1885 über die skandalöse Gallmeyer, Offenbach-Interpretin par excellence in Wien und Berlin. Als Waldstein sie in ihrem Boudoir besuchte, nur mit einem Negligé bekleidet, sagte sie zu ihm: “Na, was schaun S’ mich denn so hopoatatschig an, als wenn S’ mi mit Haut und Haar auffressen wollten! Bin i denn gar so appetitlich?”

 

Regisseur Alexander Doering bei der Probe mit Desirée Nick.

Regisseur Alexander Doering bei der Probe mit Desirée Nick. Foto: Privat

Appetitlich sieht Désirée Nick in ihren diversen Fantasiekostümen allemal aus, egal ob die ihr Dekolleté präsentiert, ihre Beine in Latex und Leder zeigen oder sie sich eine Unterhose mit Po-Implantaten anzieht, wo dann ein künstlicher After zu sehen ist, den sie dem Publikum während eines Exkurses zu Bleaching präsentiert. Ein Exkurs, der direkt überleitet zu Oscar Straus.

Das alles ist starker Tobak. Das alles ist aber auch eine kühne neue Herangehensweise an Operette und Chanson, wie es sie sonst in Berlin derzeit nicht zu erleben gibt.

Und, last but not least, sei darauf hingewiesen, dass gleich die erste Nummer des Abends, “Hello Dolly” (als “Hello Tipi”) unsere Miss Nick an alle empfiehlt, die diesen Musicalklassiker mal gegen den Strich der Biederkeit bürsten wollen. Ich fand den “Retro-Muschi”-Abend jedenfalls grandios. Eine klingende Visitenkarte.

Dass man diese radikalrevolutionäre neue Sichtweise der Operette ausgerechnet im Tipi erleben darf – statt an der Komischen Oper – ist erstaunlich. Hoffen wir mal, dass Désirée Nick und ihre Art der Operettenpflege den Weg der übrigen Tipi-Stars gehen und bald in der Behrenstraße ankommen. Wo ja nicht nur Oscar Straus wartet, sondern auch Offenbach.

Adam Benzwi saß übrigens im Zuschauerraum, neben dem Dramaturgen der Komischen. Regisseur Alexander Doering ist Benzwis Ehemann. Und Benzwi/Nick haben diese Lieder bereits vor 20 Jahren zusammen auf Kleinkunstbühnen gemeinsam vorgetragen, damals noch mit dem alten Text. Wie gesagt, in der Berliner Musiktheaterszene hängt immer alles mit allem zusammen. Und das ist nicht nur gut so, sondern wunderbar.

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