Sigrid Grajek Revives Claire Waldoff Repertoire

Kevin Clarke
klassik.com
3 August, 2017

Die Wirkungsgeschichte von Ikonen folgt eigenen Maßstäben. Und die von Claire Waldoff ganz besonders. Denn die Lieder und Aufnahmen der sogenannten Volkssängerin sind bis heute ein Verkaufsschlager, obwohl die Stimme der Waldoff nicht schön ist und ihre Interpretationen, wie man sie auf alten Schellackplatten hören kann, auch nicht nach Schönheit streben. Stattdessen sind sie eine Dauerprovokation. Mit Texten, die eine rotzfreche Zumutung sind. Mehr noch: sie sind vielfach ein Protestschrei gegen die heteronormative patriarchale Gesellschaft, die Frauen eine bestimmte Rolle zuweisen wollte, gegen die Waldoff von Anfang an aufbegehrte. Lieder wie “Raus mit den Männer aus dem Reichstag!” von Friedrich Hollaender waren 1926 eine Kampfansage. Sie bleiben es bis heute. Und der Schlager “Hannelore” von Horst Platen und Willy Hagen (1928) hat in unseren Ehe-für-alle-Zeiten nichts von seiner Aktualität verloren, wenn die besungene Hannelore-vom-Hall’schen-Tore sich einfach einen Mann und (!) eine Frau als Heiratspartner nimmt. Schließlich ging’s um eine neue Zeit mit neuer Moral und neuen Gender-Modellen.

Mit ihren Auftritten in Hosenanzug und Schiebermütze, mit Songs von Walter Kollo & Co., mit der jungen Marlene Dietrich an ihrer Seite in den queeren Erik-Charell-Revuen am Großen Schauspielhaus, mit ihrem ziemlich öffentlich zur Schau gestellten ‚Anderssein‘ und mit dem tuntigen Wilhelm Bendow als schwulem Bühnenpartner wurde die Waldoff schon in den 1920ern die Vorzeigefrau der sich neu formierenden Lesbenbewegung – und sie ist es bis heute geblieben, als radikale ‚Butch‘. Waldoff hat es geschafft, sich trotz aller Konventionsverstöße und trotz der Machtergreifung der Nationalsozialisten als ‚Marke‘ und ‚Publikumsliebling‘ zu etablieren und zu halten, bis zu ihrem Tod 1957 in Bad Reichenhall. Selbst heute zieht die Marke der gebürtigen Gelsenkirchenerin noch so stark, dass Waldoff-Aufnahmen Verkaufsschlager sind und in hunderten von CD-Ausgaben vorliegen. Auch viele Kleinkunstkünstlerinnen touren noch immer mit Waldoff-Programmen durch die Republik. Manche sind lohnender als andere.

Sigrid Grajek in her Claire Waldoff outfit. (Photo: Guido Woller/Promo)

Sigrid Grajek in her Claire Waldoff outfit. (Photo: Guido Woller/Promo)

Das Programm von Sigrid Grajek ist definitiv eines in der Top-Kategorie. Zum einen, weil Grajek über eine allesdurchdringende Stimme verfügt, die den Waldoff-Tonfall ideal trifft, ohne ihn sklavisch zu kopieren. Sie fügt den Liedern etwas Eigenes hinzu, das spannend ist und sie neu erfahrbar macht. Außerdem ist Grajek eine starke Bühnenpersönlichkeit und ‚wirkt‘, was bei Waldoff-Liedern essentiell ist. Auch was ihre Optik angeht, kopiert Grajek das berühmte Vorbild nicht einfach, sondern erschafft eine eigene Kunstfigur, die eigene Akzente setzt.

Emil Orlik's "Portrait von der Chansonsängerin Claire Waldoff."

Emil Orlik’s “Portrait von der Chansonsängerin Claire Waldoff.”

Was Sigrid Grajek zusätzlich auszeichnet ist, dass sie mit Waldoff-Repertoire vielfach bei queeren Events auftritt, meist mit zwei oder drei Einzelnummern. Damit holt sie diese Lieder aus den 1910er und 20er Jahren in die heutige politische Arena und beweist, wie ungeheuer aktuell diese Songs nach wie vor sind. So hörte ich Grajek beispielsweise vor drei Wochen im Bundesfamilienministerium beim Christopher-Street-Day-Empfang von Katarina Barley. Da wurde auf dem Podium von Aktivisten und der SPD-Ministerin viel zu den politischen Umwälzungen dieses Sommers gesagt (Stichworte: Rehabilitierung der Paragraf-175-Opfer, Homoehe). Und dann tauchte als Abschluss und Höhepunkt des Abends plötzlich Grajek auf und sang “Hannelore” sowie das “Lila Lied” (“Wir sind nun mal, anders als die andern” von Mischa Spoliansky, 1921). Man merkte förmlich, wie die versammelten Zuhörer staunten: dass es solche ausformulierten und auskomponierten Lebensmodellforderungen bereits vor 100 Jahren gab. Der Applaus war überwältigend.

Advertisement for Claire Waldoff records from the 1920s.

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Mir persönlich ist keine andere Interpretin bekannt, die mit Repertoire aus Charell-Revuen, mit Hollaender-Chansons und Kollo-Operettenliedern zu politischen Veranstaltungen gehen würde, um zu demonstrieren, dass dieses deutsche Kulturgut nicht aus Omas Mottenkiste stammt und bestenfalls einen Nostalgiefaktor hat. Grajek belebt die Lieder durch die Kontextualisierung neu. Das würde ich etlichen Operettenkreuzrittern der Gegenwart als Vorbild auch sehr empfehlen!

Diese Woche ging Grajek mit ihrer Pianistin Stefanie Rediske in die Berliner Kabarettanstalt (BKA) am Mehringdamm und präsentierte nicht nur drei Einzeltitel, sondern ein ganzes Abendprogramm: 21 Chansons, bei denen sich superberühmtes wie “Das war sein Milljöh”, “Es gibt nur ein Berlin” oder “Hermann heeßt er” mit unbekannterem mischte. Das von Grajek alles meisterhaft differenziert vorgetragen wurde, weil sie über überraschend viele Klangfarben verfügt. Damit wird solch ein Abend nicht ein einziges Geschreie (was bei Waldoff-Liedern leicht passieren kann), sondern es entstehen berührend intime Momente. Und witzige Kabarettszenen, etwa die, in der Grajek die Zubereitung eines grünen Aals schildert – und ihren Ekel, das glitschige Ding anzufassen. (Man kann das selbstverständlich als wunderbaren Lesbenwitz über Männer verstehen, hier mit Bravour serviert.)

Claire Waldoff in the Kollo operetta "Drei alte Schachteln."

Claire Waldoff in the Kollo operetta “Drei alte Schachteln.”

Zwischen den Musiknummern erzählte Grajek in Umrissen die Waldoff-Lebensgeschichte. Dabei hielt sie sich vorwiegend an die groben Fakten und Legenden – die ‚Volkssängerin‘ stand im Mittelpunkt. Die Operetteninterpretin und der Revuestar wurden kaum erwähnt. Und bezüglich der Zeit nach 1933 und Waldoffs Leben im Dritten Reich, mit einer lesbischen Lebenspartnerin, gibt es etliche neuere Forschungsergebnisse, die letztes Jahr bei einer Tagung in Nürnberg vorgestellt wurden und veröffentlicht sind in Leichte Muse im Wandel der Zeiten: Symposiumsbericht zum Forschungsprojekt “Inszenierung von Macht und Unterhaltung – Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920-1950″. Aber vermutlich hätte eine zu detailgenaue ‚Musikalische Biografie‘ den Rahmen eines BKA-Abends gesprengt: Denn wo soll man da anfangen, wo aufhören? Es gibt zu Waldoff und ihrem Wirken einfach zu viel zu erzählen…

Von den Lieder im BKA hat mich persönlich besonders das Benatzky-Chanson “Piefke in Paris” fasziniert, weil ich das bislang nur von Daniela Ziegler gesungen kannte. Grajek gestaltete die humorvolle Abrechnung mit ‚germanischem‘ Sex in deutschen Ehebetten mit ganz anderer Stimme, viel herber als Ziegler, langsamer im Tempo, aber mit einer deutlich grandioser ausgekosteten Schlusspointe. Das war toll! Und als Nordberliner war ich vom Lied “In Tegel, Tegel” (1917) überrascht, weil mir nicht bewusst war, dass dieser Stadtteil damals ein Ausflugsziel für vergnügungssüchtige Berliner war.

Das Publikum zeigte sich begeistert und verlangte zahllose Zugaben. Die allesamt mit Souveränität geliefert wurden. Das war eine textgestalterische und musikalische Meisterleistung von Grajek und Rediske, die Bewunderung abnötigt. Leider ist das BKA nicht der atmosphärischste Konzertraum; ich hätte Grajek mit diesen Liedern eine Waldoff-artigere Location gewünscht. Oder Merkels Kanzleramt? Da würde eine Nummer wie “Raus mit den Männern aus dem Reichstag” – mit Blick auf die Kuppel gegenüber – auch gut hinpassen.

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