Wiener Operette, Moderne und kulturelle Viefalt: Moritz Csákys Essay in neuer Auflage

Albert Gier
Operetta Research Center
29 June, 2023

1996 erschien Moritz Csákys „kulturhistorischer Essay“ Ideologie der Operette und Wiener Moderne (Wien – Köln – Weimar: Böhlau). 2021 kam das Buch in einer „im Wesentlichen aktualisierten, verbesserten, erweiterten und somit veränderten Version“ unter einem anderen Titel in einem anderen Verlag heraus. Der Blick aufs Inhaltsverzeichnis zeigt, dass der Aufbau der Ganzen nicht verändert wurde: Die Titel der neun Kapitel und ihrer insgesamt knapp 70 Unterkapitel sind im Wesentlichen gleichgeblieben, gelegentlich wurde nur die Reihenfolge der Unterkapitel umgestellt. [1]

Moritz Csákys "Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette". (Photo: Hollitzer)

Moritz Csákys “Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette”. (Photo: Hollitzer)

Die Titeländerung trägt wohl einerseits der Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Forschung im letzten Vierteljahrhundert Rechnung: Die Kategorie des „kulturellen Gedächtnisses“ [2] ist, vor allem dank der Forschungen von Jan und Aleida Assmann, immer wichtiger geworden. Andererseits fasst der neue Untertitel ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung prägnant zusammen.

Sein Anliegen, so Csáky in der Einleitung (S. 15 f.), sei gewesen:

mit Hilfe einer vielleicht ungewohnten Analyse der Wiener Operette der Jahrhundertwende nicht nur die gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen eines der beliebtesten Unterhaltungsgenres darzustellen, sondern gleichzeitig aufzuzeigen, wie aus einer Rekontextualisierung eines musikalischen Genres in seinen breiteren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext Rückschlüsse auf Bewusstseinsinhalte gezogen werden können, die das Leben in einer bestimmten europäischen Region in der Vergangenheit bestimmt haben und die in gewissem Sinne wohl auch bis in unsere eigene Gegenwart relevant geblieben sind.

Operette erscheine einerseits als „Reflex und Propagator von allgemeinen Inhalten der Moderne“ (S. 10, vgl. Kapitel V, S. 127-175), wobei ein Schwerpunkt auf den „nun schon offen artikulierte[n] Sehnsüchte[n] einer neuen Generation nach Ungebundenheit und freier Liebe“ (S. 130) liege [3].

Moriz Jung's illustration for the operetta cabaret Fledermaus in Vienna, 1907.

Moriz Jung’s illustration for the operetta cabaret Fledermaus in Vienna, 1907.

Darüber hinaus konnte Operette als „Ort des kulturellen Gedächtnisses“ „identitätsstiftend“ wirken, indem sie „den Zuschauern […] durch direkte oder versteckte literarische und musikalische Zitate die plurikulturelle Verfasstheit der Region immer wieder vor Augen führte“ (S. 108): Der Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie erscheine gleichsam als ein „Europa im Kleinen“ (S. 208); „typisch österreichisch“ sei „die musikalische Formensprache der Wiener Operette […] sicher vor allem darin, dass in ihr musikalische und literarisch-thematische Motive und Zitate (Elemente) nachweisbar sind, die sich einer pluralistischen regionalen und heterogenen gesamteuropäischen Herkunft verdanken“ (S. 258).

Das (Wiener) Operettenpublikum wird als „neue soziale Schicht“ – das Bürgertum – beschrieben (S. 49). Operetten waren zunächst von „vorstädtischen Bühnen“ gespielt worden, aber bald nahmen sich auch „innerstädtische Theater“ des neuen Genres an (S. 54); die sogenannte „goldene Operette“ von Suppé, Strauß und Millöcker entsprach „dem Lebensgefühl des gehobenen, liberalen städtischen Bürgertums, der ‚Bourgeoisie‘“; „in den letzten Jahrzehnten der Monarchie“, die immer noch häufig als Ära der „silbernen Operette“ bezeichnet werden [4], wird dieses Publikum durch „die neuere städtische Mittelschicht“ abgelöst, „deren geringere ökonomische Basis und deren eingeschränkterer Bildungshorizont gewiss auch etwas damit zu tun hatte, dass sie sich aus Teilen jener mittleren Bevölkerungsschichten rekrutierte, die durch vermehrte Zuwanderungen erst vor Kurzem in die Stadt gezogen waren“ (S. 72).

Cartoon from the newspaper "Die Bombe," illustrating the original Viennese production of "Der Zigeunerbaron."

Cartoon from the newspaper “Die Bombe,” illustrating the original Viennese production of “Der Zigeunerbaron.”

Als Beispiel für die „Operette der liberalen Bourgeoisie“ (S. 95) wird Der Zigeunerbaron (1885) etwas ausführlicher behandelt (S. 95-107): Die Handlung wird „als eine amüsante, in das 18. Jahrhundert verfremdete Aufarbeitung des politischen Verhältnisses zwischen Österreich und Ungarn nach dem Ausgleich von 1867“ bewertet (S. 95). In dieser Zeit „vermittelt [die Operette] vor allem kontinuierlich die kulturelle Vielheit und Heterogenität der Region und lädt zur Akzeptanz der Fremdelemente ein“ (S. 256): Die Handlung spielt wohl nicht von ungefähr im Temeser Komitat, das „als ein Musterbeispiel für Plurinationalität und -kulturalität angesehen werden konnte“ (S. 99). Auch den „negativen Stereotypen“, mit denen die ‚Zigeuner‘ vielfach charakterisiert wurden, wird widersprochen: „Die Zigeuner sind hier vielmehr ein integraler Teil der ungarischen Gesellschaft“ (S. 102).

The original Viennese stars of "Die lustige Witwe", Mizzi Günther and Louis Treumann.

The original Viennese stars of “Die lustige Witwe”, Mizzi Günther and Louis Treumann.

1905, als Die lustige Witwe uraufgeführt wurde, war der Antisemit Karl Lueger Bürgermeister von Wien, und die „neuere städtische Mittelschicht fand ihre politische Heimat in den „neuen ‚bürgerlichen‘ Massenparteien […] die nicht nur zunehmend antiliberal, sondern auch antikapitalistisch und antisemitisch agierten“ (S. 72). Unter den Besuchern der Aufführungen der Lustigen Witwe im Theater an der Wien waren naturgemäß viele Wähler dieser Parteien.

Karl Lueger in 1897. (Photo: Wenzl Weis / Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Inventarnr. 167964-D)

Karl Lueger in 1897. (Photo: Wenzl Weis / Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Inventarnr. 167964-D)

Der kleine Balkanstaat, in dessen Pariser Botschaft der erste Akt spielt, hätte ursprünglich vielleicht Montenegro sein sollen; möglicherweise bestand die Zensur darauf, daß dafür der fiktive (aber durchsichtige!) Name „Pontevedro“ eingesetzt wurde (S. 85). Es ist gut möglich, daß man im Fürstentum „die politischen und sozialen Zustände der Monarchie wiederzuerkennen meinte“ (S. 90) – nicht nur „Das Wappen Montenegros sah jenem der Monarchie zum Verwechseln ähnlich“ (S. 91). Politische Anspielungen im Text (S. 93-95) zielen auf die „kritische Persiflierung von Politik im allgemeinen“ (S. 95).

Die lustige Witwe propagiert auch – durchaus im Sinne der Wiener Moderne, s.o. – das Ideal der freien Liebe: Felix Salten, bezeichnenderweise ein Repräsentant von Jung Wien, schrieb: „Die Handlung dieser Operette bedeute ‚Enthüllung des Triebhaften‘. Und: ‚Lehárs Musik ist heiß von dieser offenen, verbrühenden Sinnlichkeit; ist wie erfüllt von geschlechtlicher Wollust‘“ (S. 154). Die Geschichte spielt zwar unter Pontevedrinern, aber in Paris, wo – anders als in der Donaumonarchie – die Ehescheidung (seit 1885) wieder möglich war (vgl. S. 132); Danilo war sicher nicht der einzige, für den die Ehe „ein Standpunkt, der längst überwunden“ war (vgl. S. 155).

The seductive tango of John Gilbert and Mae Murray, one of the most striking scenes from "The Merry Widow" movie 1925. (Photo: Archive Operetta Research Center)

The seductive tango of John Gilbert and Mae Murray, one of the most striking scenes from “The Merry Widow” movie 1925. (Photo: Archive Operetta Research Center)

Moritz Csákys hervorragend recherchiertes Buch informiert umfassend über die Bedeutung, die die Operette vor dem Ersten Weltkrieg für das Selbstverständnis vor allem bürgerlicher Schichten in der Habsburgermonarchie hatte; speziell über die Musik als ein „Medium, das [die] kulturelle Vielfalt, [die] ‚Mehrsprachigkeit‘ der Region erklingen läßt“ (S. 10). Neben den hier erwähnten Beispielen werden andere, meist knapp, angeführt. Es ist unvermeidlich und mindert den Wert des Buches nicht im Geringsten, dass dabei nicht alle Aspekte, die zum Verständnis eines Werkes von Bedeutung sind, zur Sprache kommen können.

French sheet music cover for Lehár's "Eva". (Photo: Max Eschig, Paris)

French sheet music cover for Lehár’s “Eva”. (Photo: Max Eschig, Paris)

Dafür nur ein Beispiel: Franz Lehárs Operette Eva (Buch A.M. Willner / Robert Bodanzky, 1911) beginnt „in einem Arbeiter und Fabriksmilieu“: „Ein bürgerlicher Fabrikbesitzer verführt eine junge Arbeiterin, daraufhin revoltieren die Arbeiter“ (S. 78). Allerdings hat Octave Eva nicht „verführt“ – sie hat rechtzeitig bemerkt, daß es ihm nur um sein Vergnügen zu tun war, und das Weite gesucht. Andererseits haben die Arbeiter ein besonderes Verhältnis zu Eva: Ihre Mutter ist gestorben, nachdem der Vater des Mädchens sie verlassen hatte; die Arbeiter der Fabrik haben die Kleine quasi adoptiert und fühlen sich daher für sie verantwortlich, sie wollen sie beschützen – Wilhelm Karczag, der Direktor des Theaters an der Wien, stellte mit Recht fest, daß ihre Intervention mit einer „sozialistischen Demonstration“ rein gar nichts zu tun hat (S. 78).

Freilich gibt es im Buch einen intertextuellen Bezug, der von zentraler Bedeutung ist [5]: Der Fabrikbesitzer Octave lädt das hübsche „Fabriksmädel“ Eva ein, an einem Fest, das er für Pariser Freunde gibt, teilzunehmen. Eine der Pariser Damen borgt ihr ein Kleid; sie fühlt sich wie das „Aschenbrödel im Königssaal“ (Nr. 14. Melodram und Duett). Octave bemängelt, daß seinen „süßen Aschenbrödel“ noch der Schmuck fehlt; er spricht den Zauberspruch („Bäumchen, Bäumchen, rütt’le dich, / Bäumchen, Bäumchen, schütt’le dich, / mach’ mich reich, / allsogleich / wirf Gold und Kleider über mich!“) und legt ihr dann eine Perlenkette um (Nr. 14).

Obwohl Eva in der Fabrik von allen geliebt und verhätschelt wird, fühlt sie sich nicht wirklich glücklich: Sie erinnert sich dunkel an ihre ersten Lebensjahre, die sie bei ihrer Mutter, im Luxus, lebte:

Im heimlichen Dämmer der silbernen Ampel, / Die Kerzen beim Spiegel flackerten leis’… / Spinnwebdünne Seide umschillert die Glieder, – / Die Sommernacht war so schwer und heiß / […] So war meine Mutter, / So möchte ich sein, / Umstrahlt von des Märchens lockendem Schein […] (Nr. 3. Melodram und Lied)

Aber der Liebhaber ihrer Mutter (Evas Vater) hat sie verlassen; sie ist in materielle Not geraten, krank geworden und gestorben, nachdem sie ihre kleine Tochter einem alten Freund anvertraut hat, der in der Fabrik arbeitete.

Woher kannte sie ihn? Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Evas Mutter selbst Fabrikarbeiterin war, bis ein reicher junger Mann sie mit Geschenken und Versprechungen, die nicht ernst gemeint waren, verführt hat.

Eva erkennt rechtzeitig, dass Octave es nicht ernst meint; sie geht nach Paris, wo das schöne Mädchen bald von reichen Verehrern umschwärmt wird. Sie gibt keinem nach – bis Octave wieder auftaucht, den sie nicht vergessen konnte. Er hat einige Mühe, sie zurückzugewinnen, was zweifellos ganz leicht wäre, spräche er das magische Wort „Heirat“ aus, aber er hütet sich, das zu tun… Insofern ist das glückliche Ende ihrer Geschichte problematisch: Manches spricht dafür, daß sich die Geschichte ihrer Mutter für Eva wiederholen wird.

Ihr Walzerlied

Wär’ es auch nichts als ein Traum vom Glück, / wär’ es auch nichts als ein Augenblick […] Ist’s nur ein Tag, den man glücklich ist, / nur eine Stund’, die man nie vergißt, / wär’s nur ein Trugbild, ein Wahn, ein Phantom, / sag‘ ich zum Glück: Komm’, komm’…. (Nr. 3)

könnte sich insofern als prophetisch erweisen.

Und ihre Freunde, die Arbeiter, könnten ihr nicht helfen. Csáky stellt mit Recht fest: „Es lag […] Lehár ganz gewiss fern, mit seiner Operette in die Debatte um die Lösung der sozialen Frage einzugreifen“; vielleicht wollte er „gewiss im gewohnten Genre der heiteren Unterhaltung, dem neuen Bürgertum, zum Beispiel einem Fabrikbesitzer, sein Verhalten vorrechnen“ (S. 78). Aber den Librettisten dürfte es auch reizvoll erschienen sein, eines der bekanntesten deutschen Märchen gegen den Strich zu bürsten.

[1] Ganz neu ist lediglich der Abschnitt „Franz Kafka und die Operette“ (S. 166-175), der auf Csákys Studie Kafka, die Operette und die Musik des jiddischen Theaters, in: Steffen Höhne / Alice Stašková (Hrsg.), „Franz Kafka und die Musik“, Köln – Weimar 2017, S. 45-61, basiert.

[2] Jan Assmann definiert das „kulturelle Gedächtnis“ als „die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen“ („Das kulturelle Gedächtnis“, in: J.A., Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006, S. 67–75: 70).

[3] In diesem Zusammenhang wird auch auf Franz Lehárs Einakter Mitislaw der Moderne (1907, Buch Robert Bodanzky und Fritz Grünbaum) hingewiesen (S. 129), der das Thema allerdings ironisch behandelt und insofern auch in das Kapitel IV („Wiener Operette und Ironie“, S.113-125) gehörte: Prinz Mitislaw wehrt sich gegen die Zumutung, die ihm aus Gründen der Staatsraison bestimmte Braut zu heiraten; er will „modern“ heiraten, bevorzugt eine Partnerin, die unerreichbar scheint, die er z.B. einem anderen Mann wegnehmen muss. Die für ihn bestimmte Braut, die hübsche Prinzessin Amaranth, erobert sein Herz im Sturm, indem sie sich für die Ehefrau des Kanzlers ausgibt, die jedoch alt und zänkisch ist; wenn sich der Irrtum aufklärt, heiratet Mitislaw „lieber unmodern eine Moderne als modern eine Unmoderne“.

[4] Die Jahrhundertwende (oder der Tod von Johann Strauß 1899) markiert zweifellos einen Einschnitt in der Geschichte der Wiener Operette. Die traditionelle Unterscheidung einer „goldenen“ von einer „silbernen“ Ära (vgl. S. 69) scheint allerdings unglücklich, weil der damit behauptete Qualitätsunterschied keineswegs allgemein akzeptiert ist.

[5] Vgl. Albert Gier, „Wär’ es auch nichts als ein Augenblick“. Poetik und Dramaturgie der komischen Operette, Bamberg 2014, S. 185-191.

 

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