Kevin Clarke
klassik.com
24 September, 2017
Es gibt in Deutschland eine nicht unwesentliche Gruppe von Intellektuellen – in Forschung und Journalistik – die sogenannte Mega-Musicals für herabgesunkenes Kulturgut halten und als kommerzielle Peinlichkeit im deutschen Theateralltag ansehen. Einer, der das lautstark behauptet, ist Volker Klotz, der schon in den 1990er Jahren meinte, das Genre Operette aufwerten zu müssen, indem er es gegen das “banale” und musikalisch anspruchslose “Fließband”-Musical in Position brachte. Eine der Hauptzielscheiben von Klotz & Co. sind die Werke von Andrew Lloyd Webber, was deren Popularität allerdings nie ernsthaft gefährdet hat. Im Gegenteil, Stücke wie Cats und Phantom der Oper zählen zu den erfolgreichsten Musiktheaterwerken der Menschheitsgeschichte und spielen bis heute Milliardengewinne ein.
Ab und zu bekommen auch kleine deutsche Stadttheater die begehrten Lizenzen für Lloyd-Webber-Werke. Einer der Titel, der aktuell freigegeben ist, ist Sunset Boulevard: ein dunkel-glühendes Werk über den Stummfilmstar Norma Desmond, der geistig verwirrt in seiner Villa in Hollywood lebt und nicht begreift, dass die Karriere vorbei ist und die Fans ihn vergessen haben. Billy Wilder hat die gleichnamige Filmvorlage geliefert, Don Black und Christopher Hampton (Gefährliche Liebschaften) haben daraus ein Libretto geformt, Lloyd Webber hat dieses mit gleißender Musik übergossen – in seinem ‚spätromantischen‘ Idiom verfasst, das zwischen Puccini und Pop pendelt. 1993 ging das Werk am Londoner West End in Premiere mit Patti LuPone als Norma, konnte aber trotz spektakulärer Bühnenbilder nur mäßig überzeugen.
Bis kurz darauf Glenn Close die Rolle übernahm und das Stück zum Triumph am Broadway machte. Ich selbst habe Close bei einer Lloyd-Webber-Gala in der Royal Albert Hall mit den zwei Sunset-Solos „With One Look“ und „As If We Never Said Goodbye“ erlebt und muss gestehen, dass die Präsenz dieser winzigen Frau in der gigantischen Konzerthalle so überwältigend war, dass es eines der imposantes Erlebnisse meines gesamten Musiktheaterlebens war – und ist.
1995 kam das Stück auch nach Deutschland, allerdings hat man hier keine Diva vom Format einer Glenn Close finden können. Das Stück lief zwar durchaus erfolgreich, wurde aber nie zu einem Phänomen wie andere Lloyd-Webber-Titel, die bis heute von Stage Entertainment gespielt werden. Während Sunset Boulevard 2017 ein Comeback am Broadway erlebte – abermals mit Glenn Close! – und aktuell auch in Großbritannien in einer Tournee unterwegs ist, taucht es überraschenderweise in Deutschland auch auf Spielplänen auf. Kürzlich hat Gitte Haenning die Norma am Theater Lübeck gestaltet – nun folgt in der gleichen Inszenierung von Michael Wallner das deutsche Musical-Urgestein Angelika Milster als Norma in Altenburg.
Diese Produktion macht deutlich, warum so viele Menschen in Deutschland ein so katastrophales Bild von der Kunstform Musical haben.
Natürlich kann man Sunset Boulevard auch extrem reduziert auf die Bühne bringen, das tat übrigens Lonny Price in der aktuellen Neufassung am Broadway auch. Er ließ das Stück auf einer fast leeren Bühne spielen, auf der ein 40-Mann-Orchester platziert war. Eine Sensation fürs kommerzielle Theater. In der Leere, mit einigen Gerüsten und Treppen, konnte Superstar Glenn Close in fantastischen Kostümen sich voll entfalten. Und bekam dafür ekstatische Kritiken. Für die UK Tour ist Close zwar nicht aufgeboten (sie hat das Stück letzten Sommer an der English National Opera gesungen), dafür gibt’s den attraktiven Danny Mac als Normas Toy Boy Joe Gillis. Der absolviert mit freiem Oberkörper eine Swimmingpool-Szene und darf zu Beginn des zweiten Akts den knalligen Titelsong mit exponiertem Sixpack singen. Ein Hingucker!
Und in Altenburg? Da sieht man zentral eine seltsam unglamouröse Showtreppe, die sich drehen kann, umgeben von vielen Seilen. Sie sollen irgendwie symbolisieren, dass Norma sich in ihrem Wahn ‚verheddert‘ (Bühne: Till Kuhnert). Dazu gibt’s S/W-Filmprojektionen und abenteuerlich unattraktive Kostüme von Hilke Förster, in denen alle Darsteller unvorteilhaft aussehen. Was besonders tragisch ist im Fall von Angelika Milster und Kai Wefer als Joe. Er wirkt wie ein Sack-und-Asche-Jedermann, nicht wie ein Gigolo, in den sich eine vermögende Filmdiva verlieben könnte. Und das, obwohl Wefer von Statur und Stimme durchaus ein guter Joe sein könnte.
Warum das Theater Altenburg ausgerechnet diese visuell mäßig aufregende Produktion aus Lübeck einkaufen musste, statt selbst etwas zu entwickeln, ist mir ein Rätsel. Und warum irgendjemand glaubte, Angelika Milster sei seine gute Besetzung für die geistig umnachtete Diva, ist mir genauso schleierhaft. Denn: Milster kann natürlich die großen Powerballaden sehr gut singen (trotz der banalen deutschen Übersetzung von Michael Kunze), aber sie demonstriert ein geradezu schockierendes Fehlen von Schauspieltalent. Doch bei der Norma geht es nicht um eine tolle Sängerin, sondern um eine legendäre Schauspielerin mit überlebensgroßer Präsenz. Wenn man die nicht hat, sollte man die Finger von der Rolle lassen. Und Milster hat sie absolut nicht. Das macht es nachgerade peinigend, ihr drei Stunden zuzusehen und in den vielen kurzen Dialogpassagen zuzuhören, besonders weil sie einige der berühmtesten Sätze der Filmgeschichte zu sprechen hat (aus dem Billy-Wilder-Original). Sie klingen hier, als würde Milster eine Schlagerparade moderieren, vollkommen desinteressiert. Selbst der Schlusssatz: „Ich bin bereit für meine Großaufnahme, Mr. DeMille!“ („I’m ready for my close-up, Mr. DeMille.“)
Immerhin verfügt Altenburg über ein großes Symphonieorchester und könnte damit punkten – und den Broadway locker übertreffen. Aber Dirigent Thomas Wicklein musiziert die Partitur so unspektakulär und undramatisch (und das Orchester spielt teils mit so vielen Patzern in den Bläsern), dass ich mich fragte, ob in Altenburg irgendwer ernsthaft Lust auf dieses Stück hatte?
Johannes Beck als Butler Max ist zu jung für die Rolle und singt seinen Song „She Is The Greatest Star of All“ so mühevoll, dass die Nummer nicht das hypnotische Leuchten entfaltet, das sie braucht. Nur Claudia Müller als Betty und Florian Neubauer als Artie machten wenigstens halbwegs achtbare Figur. Alle jugendlichen Rollen hätte man mit deutschem Musicalnachwuchs problemlos und kostengünstig besser besetzen können; ich fragte mich den ganzen Abend über wieso da nicht jemand wie Jan-Philipp Rekeszus als Joe auf der Bühne steht oder Johanna Spantzel als Betty? Offensichtlich hat es niemanden interessiert, in die Aufführung im “Musicalzentrum Mitteldeutschland” (O-Ton Altenburg-TV) mehr Glanz und Überzeugungskraft zu bringen. Nach dem Motto: Lloyd Webber zieht sowieso?
Was würden die Bewohner von Mittelerde wohl dazu sagen, wenn man ihre Herr der Ringe-Saga auf diese Weise zurichten sollte?
Trotzdem war das Haus bis in die höheren Ränge voll, und trotzdem gab es zum Schluss nicht enden wollende Standing Ovations speziell für Angelika Milster. Wie ist das zu erklären? Ist diese Art von Aufführung das, was deutsche Musicalfans sich wünschen und wovon der Rezensent der Neuen Musikzeitung (nmz) geradezu ins Schwärmen kommt? Also genau das und genau darüber, wovor viele Intellektuelle hierzulande flüchten? Nimmt man hier gar keine Notiz davon, wie solche Stücke – und speziell dieses Stück – anderswo aufgeführt werden? Immerhin gibt es heutzutage einfachste Möglichkeiten, sich im Internet visuell und akustisch zu informieren. Dabei sollte Lübeck nicht die Referenzgröße sein. Natürlich ist Altenburg nicht der Broadway und hat andere finanzielle Möglichkeiten, was die Besetzung von “Stars” angeht. Aber mit Fantasie und Einsatz kann man da auch in Mitteldeutschland andere überzeugendere und konkurrenzfähigere Angebote machen.
Wenn ich das Theater Altenburg nicht von früheren Aufführungen in bester Erinnerung hätte, wäre ich nach dieser Sunset Boulevard-Premiere abgereist und hätte mir geschworen, nie wieder dorthin zurückzukehren. Falls irgendwer im deutschen Feuilleton nun behauptet, dass Sunset sowieso der reinste Blödsinn sei und ein musikalisch schlechtes Stück, dann liegt das an den künstlerisch Verantwortlichen in Altenburg, nicht an Andrew Lloyd Webber. Die nächste Sunset-Premiere steht im Oktober in Cottbus bevor, dort führt Klaus Seiffert Regie und hat ebenfalls ein volles Symphonieorchester zu Verfügung. Ob Hardy Brachmann als Joe ein feuchter Traum ist, muss sich zeigen. Isabel Dörfler übernimmt die Norma.
Für weitere Informationen zur Produktion in Altenburg/Gera, hier klicken. Für Termine und Besetzung in Cottbus, hier.