Ein Interview mit Henning Hagedorn über die Rekonstruktion (und das Spielen) von Ábraháms Zentralpartituren

Kevin Clarke
Operetta Research Center
18 August, 2018

Herr Hagedorn, seit Sie mit Ihrem Kollegen Matthias Grimminger angefangen haben für den WDR und die dortige Ábrahám-Aufführungsserie Partituren von Paul Ábrahám zu rekonstruieren ist viel in Bewegung gekommen. Das Verständnis von Dirigenten hat sich verändert, dass es nicht reicht, einfach das ‚historische‘ Notenmaterial zu spielen, um einen ‚authentischen‘ Operetten-Sound zu kreieren. Man muss sich auch mit den spezifischen Anforderungen des Materials beschäftigen, damit es ‚richtig‘ nach Ábrahám klingt. Und man braucht entsprechende Darsteller, um diesen Ábrahám-Stil hinzubekommen.

Eine Partiturseite von Paul Abraham. (Foto: Opernhaus Blog Dortmund)

Eine Partiturseite von Paul Abraham. (Foto: Opernhaus Blog Dortmund)

Wie haben Sie diesen Prozess erlebt – was hat sich wo getan, wer hat wichtige Impulse gegeben und wo sind nach wie vor die größten Hürden?

Unsere Arbeit beim WDR war nur ein erstes Eintauchen in die komplexe Materie. Schon damals wurde klar, dass es nicht reicht, die alten Partituren ins Reine zu Schreiben und zu hoffen, dass das Spielen von einem guten Orchester automatisch ein stimmiges Klangbild entstehen lässt.

Dazwischen wurde dann das alte Material von Im weißen Rössl wiederentdeckt und gab es wichtige Impulse auch für die Ábrahám-Operetten. Auch, wenn Künneke deutlich anders instrumentierte als Ábraháms Mitarbeiter, wurde hier ebenfalls deutlich, wie einflussreich die Notation damals typischer Spielweisen auf das Klangergebnis ist.

Dann fragten gleichzeitig die Komische Oper nach Ball im Savoy und das Theater Gießen nach Viktoria und ihr Husar, wodurch wir mit zwei Dirigenten (Adam Benzwi und Florian Ziemen) arbeiten konnten, die sich bereitwillig mit den historischen Aufnahmen und Filmen auseinandersetzten und auch unsere Erkenntnisse und Anregungen in ihre Produktionen mit einfließen ließen.

Ein wichtiger Schritt war dann die deutsche Uraufführung von Roxy und ihr Wunderteam am Theater Dortmund, weil wir dort in enger Zusammenarbeit mit dem musikalischen Leiter Philipp Armbruster, den Musikern, dem Ensemble, dem Choreografen Ramesh Nair und Regisseur Thomas Enzinger arbeiteten und gemeinsam das Gesamtergebnis gestalten konnten. Dabei erfuhren wir noch intensiver, wie wichtig es ist, die Orchesterbegleitung für verschiedene Gesangstypen unterschiedlich einzurichten.

Man könnte glauben, dass die Arbeit an den anderen Operetten (Die Blume von Hawaii oder Märchen im Grand Hotel) dann schon fast zur Routine wurde. Aber obwohl die Werke in doch recht kurzem zeitlichem Abstand entstanden sind, weisen sie teilweise extreme Unterschiede auf, so dass es auch weiterhin spannend bleibt.

Lange Zeit hat sich die Theaterwelt – wenn überhaupt – nur mit Ábraháms „Großen 3“ auseinandergesetzt: Viktoria und ihr Husar, Blume von Hawaii, und (Dank Barrie Kosky) inzwischen auch wieder Ball im Savoy. Aber neuerdings sind Regisseure auch auf andere Ábrahám-Titel neugierig geworden. Was für Stücke haben Sie noch rekonstruiert und für wen?

Im Gegensatz zu den „Großen 2“ wurde Ball im Savoy ja in der Nachkriegszeit kaum gespielt. Auch die Verfilmung von 1955 verzichtet ja fast komplett auf Ábraháms Musik.

Aus Ábraháms Wiener Zeit gibt es noch Märchen im Grand Hotel, das 2017 und dann nochmal 2018 konzertant an der Komischen Oper gegeben wurde und auf die erste szenische Inszenierung in Mainz wartet, Roxy und ihr Wunderteam, das mit Dortmund und Augsburg schon zweimal auf den Spielplänen stand und Dschainah, an dem wir gerade arbeiten.

Henning Hagedorn. (Photo: Private)

Henning Hagedorn. (Photo: Private)

Vor Viktoria entstand ja noch Ábraháms erste vollständig selbstkomponierte Operette Az utolsó Verebély lány, das zwar auch 1930 als Der Gatte des Fräuleins ins Deutsche übertragen wurde, aber durch das Fehlen von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda leider im Libretto nicht die Qualität der späteren Werke hat.

Musikalisch wäre es ähnlich interessant wie zum Beispiel Roxy und ihr Wunderteam. (Das gleiche Problem gibt es bei den anderen Operetten, die nur in Ungarn aufgeführt und nicht ins Deutsche übertragen wurden und auch bei Broadway-Zauber, das alle Autoren nur unter Pseudonym veröffentlicht haben sowie Tambourin, das 1945 im Exil entstanden ist.)

Kostümentwurf für Michiko Meinl zu Paul Abrahams "Dschainah". (Foto: Österreichisches Theatermuseum / Kunsthistorisches Museum)

Kostümentwurf für Michiko Meinl zu Paul Abrahams “Dschainah”. (Foto: Österreichisches Theatermuseum / Kunsthistorisches Museum)

Die Entdeckerlust ist also weiterhin da, aber leider ist Ábraháms Oeuvre begrenzt, und ein Ende unserer Arbeit zeichnet sich ab.

Alle Stücke rekonstruieren wir im Auftrag der Bühnenverlage, so dass sie allen Theatern zur Verfügung stehen.

Muss man eigentlich jede dieser Ábrahám-Partituren rekonstruieren, kann man nicht einfach das alte Aufführungsmaterial benutzen?

Abgesehen davon, dass das alte Material voller Fehler ist, können Die Blume von Hawaii und Ball im Savoy nicht gespielt werden, ohne das Material aufwendig einzurichten. Durch das Prinzip der Zentralpartitur ist es eben nicht möglich, es einfach abspielen zu lassen, da auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, was wie gespielt werden soll. Und für diese Einrichtung fehlt vielen Dirigenten neben der Erfahrung vor allem die Zeit. Es wären mehrere Orchesterproben zusätzlich nötig, diese Einrichtungen vorzunehmen.

Wir versuchen daher, unter Berücksichtigung unserer Erfahrung, diesen Einrichtungsprozess vorzuentlasten. Es bleiben dann immer noch genügend Möglichkeiten, die von den Gegebenheiten des Theaters und der Inszenierung abhängen und entsprechend gewählt werden müssen.

Wo finden Sie denn das Ábrahám-Material?

Im Gegensatz zu einigen Gerüchten, war das alte Material nie verschollen, so dass wir von den Verlagen einen Großteil an Klavierauszügen, Textbüchern und Orchestermaterial erhalten haben. Vieles liegt in den Bibliotheken von Wien und Budapest und gelegentlich finden sich noch einzelne Skizzen, die einen Einblick in Ábraháms Arbeitsprozess ermöglichen.

Einige der Ábrahám-Operetten wurden nach 1945 ja durchaus gespielt. Wer hat das damals neu bearbeitet? Und sind diese Bearbeitungen der 50er, 60er und 70er Jahre als Alternative auch verfügbar?

Da das Material eben nicht ohne Einrichtung gespielt werden kann, galten die Operetten teilweise als unspielbar. Film- und Schallplattenaufnahmen wurden ja schon zu Ábraháms Zeiten speziell arrangiert. Zusammen mit dem Zwang, die Stücke eh einrichten zu müssen und so zu bearbeiten, könnte es Theater dazu gebracht haben, sich gar nicht mit dem alten Material zu beschäftigen und es von Grund auf neu zu arrangieren. Es gibt zum Beispiel die Bearbeitung von Ball im Savoy, die Herbert Mogg für Marika Rökks „Abschiedstournee“ in Wien und München 1983/84 erstellt hat. In Ábraháms Instrumentationskonzept sind die Rollen der einzelnen Instrumentengruppen nicht eindeutig festgelegt; es gibt viele Möglichkeiten kleine Gruppen innerhalb des Orchesters neu zu formieren. Mogg dachte vom konkreten Orchester aus und verteilte die Rollen eindeutig und unveränderlich. Dann wurden beide Banjos vollständig durch eine Gitarre ersetzt und andere Percussions-Instrumente wie Maracas und Bongos ergänzt. Hinzu kamen unübliche Streicher-Effekte und ein Saxophon-Satz (den Ábrahám hier bewusst nicht eingesetzt hatte).

Andere Bearbeitungen (vor allem die der Blume von Hawaii) beschränkten sich auf das teilweise radikale Ausdünnen des Orchestersatzes und versuchten so einen durchsichtigeren Klang zu erreichen. Wenn dann die Banjos ersatzlos gestrichen werden und Spielanweisungen wie „roh“, „hot“ oder „Schlagbass spielen“ ignoriert werden, erhält man schnell einen „entspannten“ und dadurch bequemen Sound, der den Solisten auf der Bühne auch eine andere Art des Singens ermöglichte.

Wenn ein Theater wie – sagen wir mal – die Volksoper Wien Ihre rekonstruierte Originalpartitur spielt, aber traditionelle Operettensänger einsetzt wie in den 70er Jahren, kann dann das Ábrahám-Feeling überhaupt entstehen?

Sicherlich haben Rosy Barsony und Oskar Denés neue Stimmfächer und Darstellertypen geschaffen, die zum großen Teil für den Ábrahám-Sound verantwortlich sind. Allerdings waren Ábraháms Operetten ja auch bei den Premieren nicht nur mit Komikern besetzt, sondern lebten ja gerade von dem Kontrast zwischen Koloratursopran und Tanz-Soubrette, tragischem Heldentenor und Buffotenor und eben dem Sprechgesang, der von Komikern und Schauspielern praktiziert wurde, die oft keine Gesangsausbildung hatten und daher umso eindringlicher mit dem Textvortrag bühnenpräsent wirken konnten.

Wenn die Bereitschaft der traditionellen Sängerinnen und Sänger da ist, sich auf diese Art der Operette einzulassen und musikalische Leitung und Regie dies unterstützen, dann können durchaus Ergebnisse entstehen, die im Ganzen rund wirken und den Geist damaliger Operettenabende atmen. Unserer Erfahrung nach wirken Produktionen, die sich dem verschrieben haben, durchaus nicht antiquiert und kommen auch heutzutage gut beim Publikum an. Ábraháms Musik unterstützt dabei die zeitlosen Prinzipien guten Unterhaltungstheaters.

Wieso tun sich viele Besetzungschefs bei Operetten immer noch so schwer, dem akustisch überlieferten Vorbild der originalen Ábrahám-Sänger zu folgen?

Operetten galten lange als ein Garant für sichere Einnahmen, man hat sich auf die Publikumswirksamkeit der Musik zu sehr verlassen und alles andere drum herum kaputtgespart. Man wählte irgendein bewährtes Stück, besetzte es wahllos mit dem vorhandenen Personal, setzte unerfahrene Regisseure und Kapellmeister ein, wunderte sich, dass die Vorstellungen schlecht besucht waren. Am Stück vorbei gebasteltes Regietheater tat sein Übriges, das Publikum jedoch merkte es.

Zum Glück hat sich das geändert: Zunehmend entwickelt sich in der Theaterleitungsebene wieder ein Bewusstsein dafür, dass es Fachpersonal braucht, eine Operette überzeugend zu produzieren. Sie kümmern sich liebevoll, was das Publikum goutiert und erstaunlicherweise auch viele jüngere Theaterbesucher anlockt. Viele Theater ‚casten‘ für Operetten wieder (bislang war das meist nur bei Musicals der Fall) und engagieren spezialisierte Tänzer und Sänger für ihre Operettenproduktionen, das ist erstaunlich und eine höchst erfreuliche Entwicklung.

Dabei zeigt sich, dass auch Ensemblemitglieder am eigenen Haus oft solche Operetten sehr überzeugend darbieten, weil sie das Genre ernst nehmen und sich gern damit beschäftigen, wenn man sie lässt und Ihnen genug Probenzeit und ausreichend Einarbeitung zugesteht. Wie schon gesagt, bedarf es nicht unbedingt Stars für eine gute Umsetzung, die Bereitschaft, sich einzulassen ist wesentlich wichtiger.

Über viele Jahrzehnte haben Operettenschaffende alte Partituren recht munter dem jeweiligen musikalischen Zeitgeschmack angepasst. Haben wir heute keinen eigenen Zeitgeschmack mehr oder wieso stürzen wir uns plötzlich auf diese Rekonstruktionen? Und wäre eine Version von 1950 oder 1970 nicht genauso historisch interessant wie eine von 1930?

Irgendwann stellt sich anscheinend immer ein Stilpluralismus ein, der alle Spielweisen und Geschmäcker nebeneinander zulässt. Ein Beispiel dafür, dass eine Nachkriegsversion interessant ist und bleibt, ist ja Im Weißen Rössl, dessen Neufassung von Bruno Uher und die Fassung aus der Bar jeder Vernunft nebeneinander vom Verlag angeboten werden, jede für sich eigene Anforderungen stellt und jeweils schlüssig inszeniert werden kann. Jede Version hat ihre Berechtigung und ist ein Kind ihrer Zeit.

Nächste Spielzeit kommt Roxy und ihr Wunderteam an der Komischen Oper raus, Sie arbeiten auch an Dschainah. Was kann man da erwarten? Was finden Sie selbst musikalisch und musikdramaturgisch spannend an den Stücken?

Roxy war fast als Theaterstück mit Musik konzipiert. Es gab ursprünglich vergleichsweise wenige Musiknummern und Melodramen. Auch die Finale waren eher kompakt und es gab kaum Einsätze des Chores. Wir haben die Musiknummern aus dem Film transkribiert und die Chorsätze behutsam ergänzt. Es bleibt aber eine turbulente Komödie, die zwischen Fußballplatz und Plattensee hin- und herspringt.

Dschainah ist das Gegenteil. Hier gibt es nicht nur die beiden Aktschlüsse, die wie sonst große musikalische Rahmen stellen. In fast jedem Bild gibt es Passagen, die an Puccini erinnern, der sich mit Ravel getroffen hat. Unvermutet einsetzende Foxtrotts gibt es aber weiterhin.

Reisen Sie zu all den Aufführungen, wo ‚Ihre‘ Partituren benutzt werden?

Wir versuchen schon, möglichst viele Inszenierungen zu besuchen. Meist bleibt es aber auf Nordrhein-Westfalen beschränkt.

Es findet sich die ganze Bandbreite an Möglichkeiten. Manchmal wundert man sich, dass Elemente aus anderen Inszenierungen übernommen wurden, die dann plötzlich deplaziert sind, manchmal denken Kapellmeister, Jazz bedeute nur „schnell und laut“, manchmal ist aber auch einfach sinnvoll, toll gespielt und ein Genuss.

Wir freuen uns sehr, dass das Genre der Operette an Theatern zunehmend wieder seinen gebührenden Platz im Spielplan bekommt, weg vom sparzwanggeprägten Geldbringer zugunsten üppiger Opernproduktionen hin zu einer sorgfältig vorbereiteten und ausreichend budgetierten Bühnenkunstform hohen Niveaus, das gutes Unterhaltungstheater nun mal sein sollte.

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