“Bitte Britisch”: Wenn Frankensteins Monster die Hose runterlässt

Kevin Clarke
klassik.com
4. Oktober 2021

Vermutlich kennen Fans der Mel-Brooks-Filme den ekstatischen Liebesschrei „A Sweet Mystery of Life“ besser als die meisten Operettenfans hierzulande. Denn in einer legendären Szene in Young Frankenstein (1974) singt Madeline Kahn diese Melodie aus Victor Herberts Naughty Marietta in just jenem Moment, als sie das erste Mal Sex mit dem XXXL-Monster hat.

Sie bzw. Brooks befreite damit die Nummer vom Image des „altmodischen“, das ihr anhaftete, seit Jeanette MacDonald diesen Herbert-Klassiker in der Hollywoodverfilmung der Operette von 1935 sang. Einer ihrer größten Kinoerfolge.

Poster for the 1935 movie version of "Naughty Marietta."

Poster für die Filmversion von 1935 von “Naughty Marietta”.

Ich selbst habe „A Sweet Mystery of Life“ vor ein paar Jahren in einem Taylor-Mack-Konzert im St. Anne’s Warehouse in Brooklyn gehört und der Saal, voller junger hipper New Yorker, tobte vor Begeisterung. Weil auch Mack dieses Stück – in Drag – zu einem Spektakel machte, das überwältigte.

In Deutschland kennt so gut wie niemand Naughty Marietta oder Victor Herbert (oder Taylor Mack). Genau wie die anderen Titel in dem Bitte Britisch-Konzert der Staatsoperette Dresden vermutlich terra incognita für viele Operetten-Aficionados in Sachsen ist: Ivor Novello (1893-1951) und Noel Coward (1899-1973)? Eher Fehlanzeige. Egal wie berühmt Stücke wie Bitter-Sweet oder The Dancing Years in Großbritannien und teils auch in den USA sind und egal wie oft sie verfilmt und aufgenommen wurden. Allenfalls hat bei uns schon mal jemand von Gilbert & Sullivans Mikado (1885) gehört.

Bryan Rothfuss mit einem Lied aus "The Mikado" in der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Bryan Rothfuss mit einem Lied aus “The Mikado” in der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Der war denn auch der Auftakt zu diesem großartigen Programm, das Dirigent Johannes Pell mit vier Solisten und dem Orchester der Staatsoperette vorstellte. Als Teil einer neuen Konzertserie, die Ein Lied geht um die Welt heißt. Erste Station der Weltreise war also das United Kingdom, zu dem auch Irland (Herbert) und Wales (Novello) gerechnet wurden. Und so mischten sich Lieder aus deren Operetten mit Klassikern wie Edward Elgars Pomp and Circumstance-Märschen und Raritäten wie der Festival Fanfare des Arbeiterklassekomponisten William Havergal Brian (1876-1972), mit der Fat Knight-Suite von Ralph Vaughan Williams (1872-1958) und der Grand, Grand Overture von Malcom Arnold (1921-2006), der ein parodistisches Klangspektakel entfacht, das er mit vier Staubsaugern unterlegt – bedient von Bryan Rothfuss, Maria Perlt-Gärtner, Jolana Slavíková und Silke Richter. Die allesamt zuvor die Filetstückchen des Abends vortragen durften.

Vier Staubsauger und eine Symphonieorchester: das Finale des "Bitte Britisch"-Konzerts in der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Vier Staubsauger und ein Symphonieorchester: das Finale des “Bitte Britisch”-Konzerts in der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Im Laufe des Konzerts erwies sich Pell als sehr charmanter und kompetenter Moderator, der es schaffte, alle Werke so vorzustellen, dass man begriff, worum es ungefähr geht – auch wenn man die dazugehörigen Operetten nicht kennt oder noch nie von den Komponisten gehört hatte. Am Pult schien es, als würde Pell sich nicht so recht trauen, die Ekstasen der Musik selbst wirklich ekstatisch zu dirigieren. Da hätte er sich (für meinen Geschmack) gern stärker an der Lockerheit und Souveränität seiner eigenen Moderationen orientieren können. Nur als Tipp fürs nächste Mal.

Chefdirigent Johannes Pell und das Orchester der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Chefdirigent Johannes Pell und das Orchester der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Und: Er könnte seine Solisten daran erinnern, dass in englischsprachigen Operetten der Text wichtig ist. So wichtig, dass es lohnt, ihn klar und deutlich zu artikulieren. Speziell wenn es keine Übertitel im Saal gibt und speziell, wenn kaum jemand mit den Werken vertraut ist, um die’s geht. Bariton Bryan Rothfuss offerierte „Our great Mikado, virtuous man“ und den einschmeichelnden Herbert-Walzer „I’m falling in love with someone“ mehr oder weniger als Vokalise. Was auch Sopran Maria Perlt-Gärtner mit „The sun whose rays are all ablaze” (aus Mikado) tat und im Duett mit Rothfuss mit „Sweet Mystery of Life“.

Vor der Überrumpelung des Hörers, mit dem auftrumpfenden Beginn dieser Herbert-Melodie, schreckte sie zurück, statt voll aufzudrehen. Vielleicht sollte sie sich mal Young Frankenstein anschauen, um zu lernen, wie man das anders servieren kann? Immerhin ließ Pell zu diesem „Lebensmysterium“ die Harfe Glissandi spielten, die einen als Zuhörer in die höheren Sphären der Verzückung katapultierten. Ich ging jedenfalls vollauf entzückt in die Pause, mit einer Träne der Begeisterung im Auge.

Maria Perlt-Gärtner und Bryan Rothfull mit "A Sweet Mystery of Life" in der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Maria Perlt-Gärtner und Bryan Rothfull mit “A Sweet Mystery of Life” in der Staatsoperette Dresden. (Foto: Stephan Floss)

Im zweiten Teil trat Jolana Slavíková mit Ivor Novellos hinreißendem Liebeslied „My Dearest Dear“ an – in ganz großer Diva-Pose und mit ganz großem Diva-Ton (zudem hochschwanger). Das war wunderbar anzusehen und anzuhören. Auch wenn bei ihr ebenfalls der Text auf der Strecke blieb. Schade hier, dass dieses Lied nicht in seiner ursprünglichen Form als Duett mit Dialog präsentiert wurde, was die dramatische Wirkung um ein Vielfaches gesteigert hätte.

Solchen Kontext bot immerhin Silke Richter mit der Abschiedsnummer „Kiss Me (Before You Die)“ aus Cowards bittersüßem Operettenhit Bitter-Sweet, wirkungsvoll mit Mikrophon als Chanson gesungen – und besser verstehbar als zuvor die Arie „I Dreamt I Dwelt in Marble Halls“ aus The Bohemian Girl von Michael William Balfe (1808-1870). Diese Oper war im 19. Jahrhundert einer der ganz großen Hits auf britischen Bühnen. Mehr dazu erfuhr man im Programmheft in den Anmerkungen von Kurt Gänzl, dem Herausgeber der Encyclopedia of the Musical Theatre. Übrigens war Coward die einzige mit Mikro vorgetragene Nummer.

So sehr ich die Orchesterwerke des Abends liebte, speziell die Ballettmusik vom Gustav Holst (1874-1934) aus seiner Oper The Perfect Fool und den Marsch Nr. 4 vom Elgar, so sehr hätte ich mir gewünscht, Vaughn Williams‘ Fat Knight wäre auf „Greensleeves“ beschränkt geblieben und dafür hätte man mehr von Novello und Coward gehört – für die ich speziell von Berlin nach Dresden gefahren bin. Auch hätte es dieser Musik nicht schlecht getan, sie von den Musicalstars des Hauses singen zu lassen, statt von Opernstimmen. Gero Wendorff zum Beispiel saß hinter mir und wird demnächst mit Devi-Ananda Dahm im Broadwaymusical Gentlemen Prefer Blondes auftreten. Beide hätten – über ihre Ausbildung – einen ganz anderen Umgang mit Sprache. Und beide wären perfekt für Novello und Coward, die eben nicht für Opernsänger geschrieben haben.

A dashing looking young Ivor Novello in a typical publicity shot.

Der Komponist und Schauspieler Ivor Novello in jungen Jahren.

Aber statt zu meckern, möchte ich dieses Konzert lieber zelebrieren. Und kann es nur allen empfehlen. Es ist eine Entdeckungsreise – mit dem „March of the Toys“ aus Herberts Babes in Toyland (1903) als Glanzlicht. Und mit viel Unbekanntem von Brian, Holst, Balfe usw. Alles wunderbar vorgestellt vom Chefdirigenten höchstselbst und von einer glänzende aufgelegten Blechbläser-Truppe mit Karacho gespielt.

Warum der MDR das Programm nicht aufgezeichnet und übertragen hat, ist mir ein Rätsel. Aber es gibt ja noch vier Konzerttermine, bevor die Ein Lied geht um die Welt-Reihe weiterzieht zu neuen Gefilden.

Das Orchester der Staatsoperette Dresden unter Dirigent Johannes Pell mit dem "Greensleeves"-Hintergrund. ((Foto: Stephan Floss)

Das Orchester der Staatsoperette Dresden unter Dirigent Johannes Pell mit dem “Greensleeves”-Hintergrund. (Foto: Stephan Floss)

Auf Coward, Novello und Herbert kommt die Staatsoperette hoffentlich unter der neuen Intendantin Kathrin Kondaurow noch mal zurück, hoffe ich. Und: Wenn schon Zugabe, dann doch bitte den berühmten Marsch Nr. 1 aus Pomp and Circumstance, statt das Adagio („Nimrod“) aus Elgars Enigma Variations. Etwas mehr Mut zu Showeffekten schadet nicht!

Weitere Informationen und Aufführungstermine finden Sie hier.

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