Kevin Clarke
Operetta Research Center
29 October, 2015
Ever since conductor Florian Ziemen came to Gießen, the opera house there has presented some unusual operetta rediscovery projects: Gustav Kerker’s US-style Die oberen Zehntausend in the first staging in nearly 100 years, Abraham Viktoria in the reconstructed original orchestrations. And now, Ziemen will conduct White Horse Inn in the original 1930 version – full of jazz and American influences. These are elements Mr. Ziemen has specialized in, as one of the few conductors of his generation who really tries to get that particular sound right, in a historically informed way, but with a modern sensibility. We spoke to Mr. Ziemen – in German – about Im weißen Rössl, jazz operettas and why it is so worthwhile to play these shows again today.
Nach dem großen Erfolg mit der 1920er-Jahre-Operette Der Vetter aus Dingsda in Bremen und Karlsruhe sowie Die Herzogin von Chicago in Berlin haben Sie einen Schwerpunkt Ihrer Arbeit auf Jazz-Operetten und transatlantische Titel gelegt, etwa Kerkers Obere Zehntausend. Was gefällt Ihnen an diesen Werken, was macht sie für einen jungen Dirigenten so spannend?
Zunächst einmal (natürlich!) die hohe Qualität vieler Musik aus dieser Zeit: das Genre war ein brodelndes und attraktives und hat daher einige extrem begabte Komponisten angezogen. Sie haben eine Musik geschrieben, die eine unmittelbare Musikalität, eine wunderbare Lebendigkeit, Experimentierfreude und Witz hat. Dann kommt der faszinierende Geist dieser Zeit, allgemein in ihrer Zerrissenheit und Aufgebrochenheit und musikalisch speziell durch den Einbruch des Jazz in die Musikgeschichte. Das war einer der radikalsten Umbrüche, die es je gab. Und zum dritten ist es natürlich das Goldgräber-Gefühl, dass so viele dieser Schätze noch immer ungehoben sind, entweder als Werke oder aber durch die teilweise unsägliche Art, wie man sie seit dem Zweiten Weltkrieg aufgeführt bzw. ausmusiziert hat. Das zurechtzurücken und der Musik ihren originalen Charakter und damit ihre Wirksamkeit zurückzugeben, ist zu einer fast missionarischen Leidenschaft von mir geworden.
Nach Künneke, Kalman, Kerker und Abraham war’s vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis Sie beim Weißen Rössl ankommen würden, das in der Originalversion von 1930 ebenfalls von Künneke instrumentiert wurde. Das Rössl ist – bis heute – die weltweit erfolgreichste Jazzoperette „Made in Berlin“. Was ist an dem Stück oder an der Partitur anders?
Das Stück ist einfach perfekt gebaut, Danke des Textbuchs von Hans Müller und der Struktur, die Erik Charell dem Ganzen gegeben hat, auch musikalisch. Die Liedtexte von Robert Gilbert sind fantastisch, ebenso die Dialoge, die Figuren sind durchweg intelligent und doppelbödig, und die Musik ist – vielleicht gerade weil sie von verschiedenen Komponisten stammt – extrem abwechslungsreich. Vor allem ist das Rössl aber, als echtes Spätwerk des Genres, mehr als fast alle anderen Stücke durch und durch selbstironisch und schillert dadurch in allen Farben, besonders den sexuellen.
Apropos Spätwerk: Alle wollen seit Jahren vom Rössl den Originalklang rekonstruieren. Sogar die originale Partitur wurde vom Verlag wieder zugänglich gemacht. Wie bekommt man denn mit heutigen Sängern und Orchestern einen „echten“ Rössl-Sound hin?
Die Wiederherstellung der originalen Partitur war ein sehr wichtiger Schritt, um dem originalen Geist des Stücks nach den Kitsch-Fassungen der Nachkriegszeit wieder näher zu kommen. Wichtig ist aber auch, wie man sie umsetzt. Denn diese Musik braucht bestimmte Spielweisen der 20er Jahre und vor allem auch eine gewisse Freiheit in der Behandlung einzelner Elemente.
Wenn man das einfach so spielt, wie ein klassisches Orchester, ist die Partitur gar nicht so aufregend.
Wir haben uns in Gießen hier über die Jahre doch eine ziemliche Expertise erarbeitet, dem Klang der damaligen Operettenorchester nahezukommen und damit die Lebendigkeit, die Jazzigkeit, das Radikale und Krawallige dieser Zeit zu transportieren. Die Sänger sind natürlich ebenfalls enorm wichtig. Da es den Beruf des Operettendarstellers ja nicht mehr gibt, haben wir für unser Rössl eine Mischung aus Darstellern, die aus dem Klassischen Gesang, dem Musical und dem Schauspiel kommen. Ziel ist es, der Darstellung statt einer stromlinienförmigen Idealität eine Eigenartigkeit und Persönlichkeit zu geben.
In Bremen hatten Sie damals für den Vetter mit Alen Hodzovic und Nicky Wuchinger auch zwei ausgezeichnete (und besonders charismatische) Musicaldarsteller. Wie würden Sie den unterschiedlichen Umgang der Musicaljungs damals mit Operettenmusik beschreiben?
In so einem gemischten Cast lernen alle von allen. Opernsänger müssen sich trauen, klug mit dem Text zu arbeiten und von dort kommend dann auch mal weniger zu singen und von Rhythmus und Tonhöhe abzuweichen mit dem Ziel, die Darstellung plastischer und persönlicher zu machen. Musicalsängern liegt dieser aus dem Theatralen kommende Zugang oft näher, sie müssen dafür lernen, ohne das musicaltypische Belting und ohne Mikroport auszukommen, also auch für sie ein Weg etwas persönlich Passendes zu finden.
Zuletzt haben Sie Boccaccio dirigiert. Hilft die Beschäftigung mit Jazz-Operetten, wenn man sich einem Wiener Werk der 1880er Jahre nähert?
Ja, einfach weil die späteren Werke deutlicher sind in der ironischen Ausstellung einer Oberfläche, hinter der dann die tieferen Schichten des Menschseins lauern. Das habe ich dort gelernt, und wenn man mit diesem Blick auf die älteren Stücke schaut, sieht man wie sehr dieses Element dort schon bestimmend ist.
Gibt’s bei Suppé auch eine „kinky“ oder „funky“ Seite, musikalisch gesprochen?
(lacht) Das ist nicht so mein Vokabular, aber natürlich, ja: diese Stücke sind letztlich genauso durcherotisiert, wie es die späteren oder auch damals schon die französischen Werke waren. Vielleicht etwas bürgerlich-unterschwelliger, aber ohne das wäre ja keiner gekommen in die Wiener Vorstadttheater. Und Suppés große Meisterschaft war ja das Nebeneinander von hohen, oft italienisch geprägten Operntönen – die dann gerade in ihrer Seriosität wieder einen doppelten Boden schaffen – und wirklich krachledernen Possenliedern, Märschen und Couplets.
Bei Boccaccio hatten Sie mit jungen Darstellern gearbeitet. Merken Sie bei denen einen neuen Umgang mit dem Genre Operette?
O ja, ich glaube die Zeit, wo auf dem ganzen Genre Operette „Großeltern Only“ draufstand, sind vorbei. Und das ist sehr gut.
Wieso hört man – trotz aller Neuerungen und tollen neuen Leute – auf Operetten-CDs, die in Köln, München, Ischl, Wien oder Ohio aufgenommen wurden trotzdem immer noch den „alten“ Operettenstil, der eigentlich längst überholt ist und schon in der Vergangenheit niemanden besonders interessiert hat?
Das müssen Sie die fragen, ich weiß es nicht.
Was kommt für Sie nach dem Rössl in Gießen?
Was ganz anderes: ein netter Monat Nussknacker in Montreal.
Dann hoffe ich, dass der auch „durcherotisiert“ wird! Danke für das Gespräch und toi, toi, toi für die Rössl-Premiere am 31. Oktober 2015.