Kálmán’s “Die Herzogin von Chicago”

Ludwig Hirschfeld
Neue Freie Presse
6 April, 1928

Der Lenz ist da.Nicht der von Hildach. Den gibt es das ganze Jahr. Im Theater an der Wien ist das anders. Dort ereignet sich die große Frühlingspremiere nur alle zwei Jahre. Wenn draußen die Sonne lacht und auf dem Nasch­markt die nettesten jungen Ge­müse grünen, gibt’s im Theater an der Wien nur feierlichen Ernst und gut­erhaltene Lorbeeren, wie es sich bei einem solchen Anlaß gehört: die Wiener Operetten­welt tritt in den Wendekreis des Kálmán. Die anderen mögen in der Wintersaison hundert- bis zweihundertmal jubilieren oder durchfallen, der große Meister und Rechenmeister der Wiener Exportoperette läßt sich Zeit. Beim Produzieren wie beim Auf­geführtwerden. Vielleicht auch aus Aberglauben, weil er in dieser schönen Jahreszeit immer seine schönsten Erfolge hatte. Also wird es offenbar auch diesmal wieder so sein. Im Theater an der Wien, dessen Betrieb auf dem Nietzschen Prinzip der ewigen Wiederkehr des Gleichen basiert, gibt es ja nur große Erfolge. Die mittleren Erfolge sind dort genau so gründlich abge­schafft, wie die neuen Namen oder die ganz neuen Ideen.

Dollar gegen Königskrone.
Beim ersten Blick auf den Theaterzettel ist man allerdings besorgt: Operette in zwei Akten, einem Vorspiel, einem Nachspiel, im ganzen vier Bilder – was sind denn das für neue Sachen? Sollten die Herren Brammer und Grünwald, die Librettisten der ‚Herzogin von Chicago’, nicht mehr auf dem ehrwürdigen, drei­aktigen Wege wandeln? Nur keine Angst. Trotz der vier Bilder ist es der be­währte Dreiakter. Man hätte im voraus um 100.000 Schilling wetten können – nein, nur in Dollar. Er ist die treibende Kraft, das Symbol der ganzen An­gelegen­heit: Amerika gegen Europa. Die Repräsentanten dieser zwei Welten sind Mary Lloyd, die Tochter des Chicagoer Wüstelkönigs Benjamin Lloyd, und Sandor Boris, der Erbprinz des Königreiches Sylvarien, der von seinem Oheim Pankraz XIII. dereinst nichts als den Thron und beträchtliche Staatsschulden erben wird. Mary ist Mitglied des Young Ladies Excentric Clubs, der jedes Jahr einen Preis von einer Million Dollar ausschreibt. Ihn gewinnt jene junge Dame, die auf ihrer Europatour etwas kauft, das für Geld schwer oder gar nicht zu haben ist. Eine Aufgabe nach dem übermütigen und dollartrunkenen Herzen von Benjamin Lloyds einziger Tochter. Im Budapester Nachtlokal, wo die Ungarn am feurigsten erwachen, lernt sie den Prinzen, der sich für seinen Adjutanten ausgibt, kennen, aber noch lange nicht lieben, denn er haßt, wie alles Amerika­nische, die Jazzmusik, und Mary hat nichts für Walzer und Csárdás übrig. Nach dieser ersten musikalischen Meinungsdifferenz dringt sie nach Sylvarien vor. Dort hat ihr Vater sämtliche Petrole­um­gruben für sich gegraben. Nicht genug an dem, gräbt die Tochter dem Prinzen eine noch ärgere Grube, indem sie sein Schloß kauft und in einen Dollarpalast verwandelt. Sie fällt selbst hinein, denn sie verliebt sich in den Prinzen und will ihn zum Besten des Landes heiraten. Schon ist sie zur Herzogin von Chicago geadelt worden, schon schlagen die Herzen gemeinsam in einem Kompromiß von Charleston und Csárdás, da erfährt der Prinz von jener Clubwette. Eingedenk einer zwanzigjährigen Finalepraxis wendet er sich verächtlich ab und der armen Prinzessin-Cousine zu, die mit Recht darüber sehr entsetzt ist, daß man diesen aufgebrauchten Trick der Schein­verlobung noch immer anwendet… Aber Gott sei Dank, es gibt Nachtlokale, es gibt Sekt und in die Ohren fiedelnde Zigeuner, also lauter natürliche und einfache Mittel, um den abgrundtiefen Konflikt zwischen zwei feindlichen Welten spielend zu überbrücken. Die Angst war unbegründet: es ist keine Reform­operette. Kein neuer Wein, sondern altes Wasser in alten Schläuchen. Die vom Erfolg anscheinend allzu verwöhnten Autoren haben diesmal eine be­merkens­wert schwache, humorlose und schematische Arbeit geliefert, und es ist höchste Zeit, daß sie sich entschließen, einmal eine irgendwie andere Operette zu schreiben.

Jazz gegen Csárdás.
Das ist das zweite Thema der Operette, das wahrscheinlich Emmerich Kálmán   gereizt hat, dieses Buch zu komponieren: der musika­lische Ringkampf zwischen Europa und Amerika, zwischen alter und neuer Tanzmusik. Kálmán hat sich in     dieses rhythmische Problem mit seinem ganzen großen Können gestürzt und schon durch diese musikalische Auseinandersetzung ist seine neue Operette sicher­lich eine seiner interessantesten und artistisch raffiniertesten Werke. Er ist ja heute der Repräsentant der leichten ungarischen Musik, und der Csárdás­rhythmus erklingt bei ihm immer, leiser oder lauter. Um so merkwürdiger, daß gerade die spezifisch ungarischen Nummern dieser Operette nicht ihre markan­tes­ten sind. Da bleibt nur ein zigeunerhaft elegisch einsetzendes und sich dann wirbelnd steigerndes Lied ‚Das waren Zeiten’ im Ohr. Auch die Huldigungen vor dem Wiener Walzer sind sehr elegant, aber nicht unwiderstehlich. Der Ungar Kálmán hat derlei schon wienerischer komponiert. Bei seiner eigenen Musik erweist es sich hier, wie stark der Einfluß des Jazzrhythmus selbst auf aus­geprägte Individualitäten ist, denn die Blues, die Charleston, die Slow-Fox sind Kálmán am besten gelungen, richtige, internationale Erfolgsmusik. Jedes Bild ent­hält zwei reizvolle, manchmal sogar entzückende Nummern dieser Art. Da ist ein sentimental-lyrischer Tanz ‚Armer Prinz’, ein effektvoller Slow-Fox ‚In Chicago’, der wie ein ‚Varasdin’ in Moll klingt, da ist die wahrscheinlich popu­lär­ste Nummer ‚Rose der Prärie’ und außerdem noch eine Menge scharmanter [sic] Tänze und Liedchen. Sicherlich ist das eine oder andere, vielleicht die Barnummer ‚Ein Slow-Fox mit Mary’, der Weltschlager dieser und der nächsten Saison. Das große, leidenschaftliche Kálmán-Motiv vermißt man. Dafür ent­schädigt das diesmal ganz besonders raffiniert behandelte Orchester, in dem sich die modernsten Opern- und Jazzeffekte mit den alten Csárdás- und Walzer­wirkungen vermengen. So endet auch in musikalischer Hinsicht diese Operette, die stellenweise wie eine stark rechts orientierte Propa­ganda für das alte Regime an­mutet, mit einem unbedingten Sieg der neuen Zeit.

Marischka spielt auf.
Das Publikum sieht Hubert Marischka am liebsten in großer Uniform. In dieser für und um ihn geschriebenen Operette wechselt er die Uniform viermal, und zum Schluß kommt er noch im Frack. Er trägt solche Kleidungsstücke mit vor­bild­licher Eleganz und weiß sie auch mit sympathischer, kultivierter Mensch­lich­keit auszu­füllen, soweit ihm das die Librettisten gestatten. Er ist der ungarisch angehauchte Scharmeur [sic] und Räsoneur, der brillante Sänger und Tänzer des Abends, und auch sein großzügiger und splendider Regisseur, der die Revuekonzessionen mit Geschmack macht. Schließlich greift er sogar eigen­händig zum Saxophon, und da ist das Publikum natürlich restlos entzückt: Hubsi spielt auf…

Die Stars.
Ein Star ist Professor Ernst Stern, der berühmte Berliner Mitarbeiter Max Reinhardts. Von Stern sind die Stilkostüme: in kostbares Material umgesetzt aparte Ideen, blendende Effekte in Gold, Silber und Federn. Schade, daß man ihm nicht auch den Entwurf der Dekorationen übertragen hat, die etwas kon­ven­tio­nell wirken. Die modernen Kleider zeigen den aparten Geschmack der Frau Lilian Marischka. Auch ein neuer Operettenstar ist aufgegangen: Rita Georg, eine junge Künstlerin, die schon bei ihrem ersten Auftreten vor einigen Jahren sofort durch echtes inten­sives Talent und Temperament aufgefallen ist. Nun hat sie, über Berlin, rasch den Höhepunkt der Operettenkarriere erreicht: erste Sängerin im Theater an der Wien. Aber sie ist es nur nach dem Rollenfach und er­freulicher­weise nicht nach den Allüren. Sie hat sich die ihr eigentümliche burschikos-girlhafte Natürlichkeit bewahrt, sie beherrscht vom ersten Moment an die Szene und das Publikum, erfreut Auge und Ohr durch vollendete Gesangs- und Tanzkunst und sieht blendend aus. Hier ist ein großes Talent an den richtigen Platz gelangt. Auch die Wiederkehr des Soubret­ten­stars Elsie Altmann ist sehr zu begrüßen. Sie spielt eine kleine lispelnde Prinzessin mit süßer, naiver Herzigkeit und mit Humor, und jedes ihrer Tanzduette wird zum zier­lichen Schlager. In Fritz Steiner, dem Liebling der Galerien, hat sie einen spring­lustigen Partner. Als Fremder von Distinktion in jedem Sinne erscheint Hugo Thimig, der als behaglicher Dollarpapa beweist, daß man auch im Operetten­unsinn ein nobler Schauspieler sein kann. Das Burgtheater hat Fred Hennings entsendet, der seine Hauptaufgabe, gute Figur zu machen, elegant erfüllt. Daß diesmal Hans Moser den dritten Akt nicht wie sonst beherrscht, liegt wohl daran, daß er einen König spielen muß und dazu noch einen Französisch sprechenden. Die Herren Waldemar und Egger sind als Minister für Thaddäbelei [sic] nach Möglichkeit komisch, die Herren Springer und Langer brave Epi­so­dis­ten. Ausgezeichnet das Orchester unter der Leitung Anton Pauliks mit Herrn Gaudriot als Saxophonstar.

Wie war die Premiere?
Sie begann am Gründonnerstag und dauerte in den Karfreitag hinein. Fünf ge­schlagene, fünf applaudierte, begeisterte und unzählig wiederholte Stunden. Es war ein Erfolg der Kálmán-Musik, ein Marischka- und Rita-Georg-Erfolg, ein Erfolg der Kostüme und Toiletten. Aber zum Schluß waren die rüstigsten und gewissen­haftesten Enthusiasten schon ein bisschen müde und abgespannt. Man kann ruhig ein Bild, anderthalb Stunden und etliche Milliarden streichen. Gewiß: Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber trotzdem muß auch eine Dollar­operette ihre Grenzen haben.

 

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