Kevin Clarke
klassik.com
4 March, 2019
So viel vorweg: Dass in Hildesheim Offenbachs einstiger Sensationserfolg Die Prinzessin von Trapezunt (1869) nach Jahrzehnten des Vergessens wieder auf die Bühne gebracht wurde, im Offenbach-Jubiläumsjahr 2019, kann nicht hoch genug gelobt werden. Damit reiht sich das kleine Theater für Niedersachen (TfN) ein in die illustre Liga von Häusern wie die Staatsoper Hannover, wo Offenbachs König Karotte/Le roi Carotte (1872) aktuell auf dem Spielplan steht und zur Wiederentdeckung einlädt, und der Rheinoper Straßburg, wo Barkouf (1860) erfolgreich ausgegraben wurde. Nicht zu vergessen, der plötzlich an vielen Orten wieder aufgetauchte Einakter Oyayaye, ou la Reine des Îles von 1855, über eine Kannibalenkönigin, die auf einer fernen Insel einen verzweifelten Kontrabassisten zwingt für sie zu spielen – als Alternative dazu, als ihr Abendmahl zu enden. Als das Jewish Chamber Orchestra das Stück kürzlich in München aufführte, hieß es: „Das ist Operette 4.0!“
La Princesse de Trébizonde wurde ursprünglich für Baden-Baden geschrieben, dann wegen der großen Resonanz zu einem abendfüllenden Pariser Spektakel ausgebaut. Aber den durchschlagenden Erfolg hatte die Prinzessin von Trapezunt in Wien 1871 am Carl-Theater mit einer Superstarbesetzung, bestehend u. a. aus der „berüchtigten und beliebten“ Josefine Gallmeyer, die das Publikum laut zeitgenössischen Kritiken „elektrisieren“ konnte mit „drastischer Komik“.
Es geht im Werk um eine Gruppe Jahrmarktsgaukler, die als Attraktion ein Wachsfigurenkabinett zur Schau stellen, in dem man berühmte Persönlichkeiten sehen kann. Eine ist die wächserne Prinzessin von Trapezunt. Unglücklicherweise haut Zanetta beim Putzen der Prinzessin die Nase ab. Was nun tun, als das Publikum herbeiströmt, um genau diese Prinzessin zu sehen? Kurzentschlossen stellt Zanetta sich selbst als Prinzessin zwischen die anderen Kabinettsfiguren. Und ebendort sieht sie der jung-naive Prinz Raphael. Aus begeistertem Überschwang wirft er zum Dank eine Summe Geld und ein Lotterielos in den Hut von Carbiolo, dem Oberhaupt der Gauklerfamilie. Und ausgerechnet dieses Los führt dazu, dass die Gaukler ein Schloss gewinnen. Sie verlassen das Leben auf unterster sozialer Stufe und ziehen aufs Land.
In Akt zwei sieht man sie in ihrem noblen Anwesen, wo sie sich aber langweilen, vornehme Gesellschaft zu spielen. Sie ärgern sich auch darüber, dass der benachbarte Fürst Kasimir sie nicht empfangen will, weil sie nicht standesgemäß seien. Als er sich bei der Jagd mit seinem Sohn Raphael im Schlosspark der Gauklerfamilie verirrt, gelingt es, doch noch eine Einladung in sein Haus zu ergattern. Als Gegenleistung verlangt Kasimir aber, das Wachsfigurenkabinett kaufen zu dürfen –er hat erfahren, dass sein Sohn sich in die Prinzessin von Trapezunt verliebt habe. Und er glaubt, solange sein Kind die glühenden Leidenschaften nur an eine Wachsfigur richtet, kann nicht viel schief gehen. Womit er sich natürlich gründlich irren soll.
Akt 3 spielt im Schloss des Fürsten, in eben jenem aufgekauften Wachsfigurenkabinett. Dort treffen sich nächstens verschiedene Charaktere, besonders natürlich Raphael und die von ihm angehimmelte Prinzessin, die zu seinem Entzücken nicht nur sehr lebendig, sondern auch sehr zärtlich zu ihm ist. Als sich bei einem wilden Bankett herausstellt, dass Fürst Kasimir einst eine Geliebte hatte, die die Schwester von Gauklerin Paola war, muss der auf Etikette pochende Fürst einsehen, dass diese ganze Seiltanztruppe eigentlich seine ‚Familie‘ ist. Er willigt in die Hochzeit von Prinz Raphael und Zanetta ein, auch die jüngere Schwester Regina (das ist die Gallmeyer-Rolle) gibt ihre Hand dem Ex-Clown der Gruppe, Tremolini. Alle sind glücklich: das Lumpenproletariat vom Jahrmarkt ist in der feinen Gesellschaft angekommen. Und wie Pygmalion hat der Prinz seine Statue fürs echte Leben gewonnen. Happy End mit Cancan.
Anlässlich der Wiener Erstaufführung schrieb das Neue Fremden-Blatt, es sei das „größte Theaterereignis der Saison“ – und dies „mit vollem Rechte“! Das Libretto wurde als „äußerst amüsant“ gepriesen, und die Musik als „die frischeste, melodiöseste und feinste“, die Offenbach „in neuerer Zeit“ geschrieben habe, mit „süß, sinnlich, bestrickenden Melodien“. Gelobt wurde auch „die unübertroffene Virtuosität“, mit der Offenbach „das parodistische Element handhabt“. (Es ist die Rede von „durchschlagender musikalischer Komik“.) Dazu kam eine Darstellung, wie sie „nicht vollendeter gebracht werden kann“.
In Hildesheim operiert man nicht mit dem Budget des Carl-Theaters von 1871, was Stardarsteller erlaubte. Und auch was ‚dekorative und prächtige Ausstattung‘ angeht, muss man sich das in Hildesheim ein paar Nummern bescheidener denken. Besonders was die extrem unatmosphärische Ausleuchtung von Akt 1 und 2 angeht. (Dass es auch anders geht, zeigt Akt 3.)
Immerhin gab’s prominente Gäste: Der gefeierte Berliner Operettendarsteller und Starschauspieler Max Hopp gab in Hildesheim sein Regiedebüt, und der gleichfalls gefeierte Berliner Operettendirigent Adam Benwzi hat die musikalische Einstudierung übernommen. Damit bewies Benzwi erstmals abseits der Komischen Oper und vom typischen 1920er-Jahre Jazz-Idiom, dass er auch etwas anderes kann. Und dies sehr gut.
Hopp führt eine neue Figur ein: Puppenspieler Paul Hentze als Conférencier, der à la Cabaret am Anfang vor den Vorhang tritt und das Publikum begrüßt, in Joel-Grey-Aufmachung, aber ohne Joel-Grey-Ausstrahlung. Das war für mich ehrlichgesagt das Hauptproblem der Inszenierung, dass die liebenswerten Darsteller zwar gut und charaktervoll sangen, aber selten Bühnenpräsenz demonstrierten, um in der kargen Ausstattung von Caroline Rössle-Harper die Geschichte zum Ereignis zu machen. Da fehlte jenes Timing, jene Souveränität, jene Schauspielkunst, die man an Max Hopp selbst als Darsteller schätzt. Da fehlte aber auch jede Form von Drastik und Parodie, für die ehemals Josefine Gallmeyer gepriesen wurde.
Eine drastische Darstellung bieten Levente György als Cabriolo und Töchter Zanetta (Meike Hartmann) und Regina (Neele Kramer) nicht. Obwohl sie alle vorzüglich singen. Das gilt auch für Katharina Schutza als Paula.
Für die Slapstick-Momente des Fürsten Kasimir (Uwe Tobias Hieronimi), der mit Prinzenerzieher Sparadrap (Dieter Wahlbuhl) durchs Plastikgebüsch am Bühnenrand stolpern darf, auf der Suche nach Raphael (Julian Rohde), fehlte dem Dreigespann das darstellerische Format, um aus Plastiksträuchern denkwürdige Operette zu machen. Und das sage ich, auch hier, obwohl alle drei vorzüglich singen. (Die Rolle des Prinzen Raphael ist bei Offenbach übrigens als Hosenrolle für Mezzo angelegt, warum ein entsprechendes Cross-dressing in Hildesheim vermieden wurde, ist mir nicht bekannt.)
Denkwürdige Augenblicke entstehen dennoch, zum Beispiel als im 3. Akt Paul Hentze das Conférencier-Kostüm abstreift und als dreiköpfige lebensgroße Puppe auftaucht, die als Nachtwächter das Wachsfigurenkabinett hütet. Da – auf einmal – war jenes surreale Flirren, jene Aufhebung der Realität, jenes Abheben in die höheren Regionen des Nonsens, die dem Abend sonst fehlten. Dafür bekam Hentze stürmischen Applaus.
Der andere Gast war Musical-Jungstar Jan Rekeszus, der nicht nur mit großer Natürlichkeit singt, statt Operntöne zu verwenden, sondern der als verklemmt-verliebter Tremolini eine Körperbeherrschung demonstriert, die seine Szenen mit Regina ebenfalls zu Ereignissen machen, in der Tradition von Oliver Hardy.
Im Orchester ließ Adam Benzwi einen entschlackten Offenbach hören, fast reduziert aufs Kammermusikalische. Das klang nicht nur extrem durchhörbar und intim, sondern auch pointiert in der Rhythmik. Besonders in den Ensemblenummern. Benzwi hat das Hildesheimer-Hausensemble offensichtlich animiert, mehr zu wagen als nur Operngesang. Was sich positiv auswirkt. Aber um in dieser Hinsicht radikal weiterzugehen, wie Benzwi es an der Komischen Oper Berlin mit seinen Solisten geschafft hat, bräuchte es vermutlich mehr Zeit und mehr Routine.
Was bleibt als Gesamteindruck? Dass dieses Stück absolut lohnt und dass deshalb auch die Reise nach Hildesheim sich lohnt für alle, die die Prinzessin von Trapezunt nicht schon woanders erlebt haben. Die intime, vom Kabarett kommende musikalische Herangehensweise des Dirigenten lohnt bei Offenbach ebenfalls; ich hoffe, das war nicht Benzwis letzte Offenbach-Produktion. (Er hatte im Dezember erst eine wunderbare Schöne Helena mit seinen UdK-Studenten in Berlin einstudiert, allerdings nur mit Klavierbegleitung.) Und bei einem Regiedebüt wie diesem kann man nur sagen: chapéu!
Natürlich kann beim ersten Mal nicht alles perfekt funktionieren. Dafür gibt es Bühnen wie Hildesheim, wo man sich ausprobieren kann. Aber die Tatsache, dass Max Hopp sich für dieses Experiment für eine Offenbach-Rarität entschieden hat, und Operndirektor Florian Ziemen überzeigen konnte, zum 200. Geburtstag des Komponisten diese Sozialfarce auf den Spielplan zu setzen, verdient Respekt. Und Bewunderung.
Vielleicht ist diese Prinzessin von Trapezunt nicht Operette 4.0. Aber sie beschreitet in vielerlei Hinsicht neue Wege. Und das ist gut so. Man darf gespannt sein, wie das Ensemble in 13 Folgevorstellungen möglicherweise noch mehr zum Offenbach-Stil findet, der Max Hopp und Adam Benzwi vorgeschwebt haben mag. Wer sowieso in Hannover ist zu König Karotte sollte den Abstecher nach Hildesheim machen. Es gibt allerdings auch Aufführungen in Wolfsburg, Nienburg und Itzehoe.
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