Kevin Clarke
MDR Figaro/Operetta Research Center
1 August, 2005
Wie konnte das geschehen? Wie konnte aus der aktuellen, witzigen, frivolen und vorwiegend austrojudäischen Kunstform Operette, die speziell in den 1920er Jahren eine von Jazz und Swing durchpulste moderne Großstadtunterhaltung war, die muffige „Alte Tante im Walzertakt“ werden, als die man sie heute weitgehend kennt?
Oder anders formuliert: War die Operette immer schon so gestrig und eingestaubt, wie man sie derzeit meistens sieht? Natürlich nicht. Weswegen zu klären wäre, wann, wo und wie das Genre umgekippt ist und wer den Grundstein für die schreckliche Aufführungspraxis legte, die heute gemeinhin als „traditionell“ gilt. Die Schnittstelle, die das Genre Operette in ein „Vorher“ und „Nachher“ teilt, liegt im Jahr 1933.
Das transatlantische Ideal der Silbernen Operette
Es mag sein, dass die älteren Operetten von Strauss und Zeitgenossen vom seligen Wiener Walzer dominiert wurden. Auch in der Lustigen Witwe von 1905, dem Startschuss der Silbernen Operetten-Ära, in der Csárdásfürstin (1915) und Rose von Stambul (1916) dominiert noch weitgehend der ¾-Takt alter Schule. Aber nach 1918 bekam dieser Walzer in Wien und Berlin, den wichtigsten Zentren deutschsprachiger Operettenproduktion, Konkurrenz von den neuen amerikanischen Modetänzen, die US-Soldaten während des Ersten Weltkriegs nach Europa gebracht hatten.
Sie galten als Inbegriff des Fortschrittlichen, und die damals durchaus fortschrittlich denkende Mehrzahl der Operettenkomponisten und Operettenbesucher gab sich den Klängen aus Übersee erregt hin.
„Ein neues Tempo rannte gegen den Wiener Walzer an“, schreibt Paul Markus über jene Jahre in seinem Buch Und der Himmel hängt voller Geigen. „Trillerpfeifen und Autohupen und Kuhglocken klangen aus den Orchestern. Der argentinische Tango, vor dem Krieg noch als ‚unanständig’ verfemt, war mit einem Male salonfähig. ‚El Choclo’ war populär, und die jungen Leute, die jahrelang in den Schützengräben ihr Vergnügen entbehrt hatten, hupften in den abgehackten Synkopen des Foxtrotts. Die Welt drehte sich nicht mehr im Dreivierteltakt, sondern schob, hüpfte und lief beim Tanz.“
Im Bereich der Operette „schob, hüpfte und lief“ niemand so radikal im neuen Rhythmus wie Eduard Künneke und Emmerich Kálmán, zwei der erfolgreichsten Operettenkomponist ihre Zeit. Anders als Rivale Franz Lehár, der die US-Einflüsse verteufelte und das Operettenheil in der Nähe zur Oper und zum Singspiel suchte (z.B. mit Friederike 1928 und dem Land des Lächelns 1929), bemühten sich Künneke und Kálmán um den Anschluss an Amerika. Künneke schuf mit dem „Batavia Fox“ tanzenden Vetter aus Dinsgda (1921) und Kálmán mit der Shimmy tanzenden Bajadere (1921) Werke, die man ‚transatlantisch’ nennen kann. Sie orientieren sich am Broadway und am Musical, wie man es von Romberg, Friml, Kern und Youmans kennt und wie es sich in The Desert Song (1926), Rose-Marie (1924) oder No, No, Nanette (1925) zeigt. Diese US-Stücke wurden fast alle in Wien und Berlin gespielt und dort als moderne Operetten rezipiert. Wer in Europa mit der Zeit gehen wollte, der eiferte ihnen nach. Und Kálmán wollte mit der Zeit gehen, Künneke arbeitete in den 1920er Jahren sogar vorübergehend direkt in Hollywood und in New York am Broadway.
Neue Ideale nach 1933
Die Modernität seiner Musik und Inhalte brachte Kálmán nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten schnell das Prädikat „entartet“ ein, während der biedere Lehár zum Lieblingskomponisten des Führers avancierte. Auch andere ‚modern’ denkende Komponisten wie Paul Ábrahám, der von 1930 bis 1932 mit Viktoria und ihr Husar, Blume von Hawaii und Ball im Savoy die damalige Operettenwelt im Sturm eroberte und den Typus der exotischen Glamouroperette zur Perfektion trieb, wurden verboten. Genauso wie Werner Richard Heymann, der Erfinder der deutschen Tonfilmoperette (Die Drei von der Tankstelle, Der Kongress tanzt). In seinem Buch Das Volk und seine Bühne schreibt Rainer Schlösser 1935 über die Aussichten für die Operette: „Die Kunstgattung steht nicht zur Diskussion, sondern lediglich die Art, wie sie von bestimmten Elementen gehandhabt wurde. Die war freilich grauenhaft genug und begnügte sich […] mit Kitsch und höherem Blödsinn.“ Wenn man hier „Kitsch“ und „Blödsinn“ nicht negativ wertet, hat man eine exakte Beschreibung dessen, was die Silberne Operette bis 1933 war – und worin ihre ungeheure Modernität lag und immer noch liegt.
Clement Greenberg nennt Kitsch in seinem berühmten Essay von 1939 eine „symmetrische Gegenkunst zur Avant-Garde“, die sich genau wie die Operette mit Vorliebe des Stilmittels der Collage bedient, einem Zitieren und Neuzusammenfügen von bereits Bekanntem. Damit setzt sich die Operette auch mit dem Überthema „Erinnerung“ auseinander und betreibt eine popbunte Nostalgie, wie man sie heute in allen Bereichen der Kunst kennt und schätzt – und die merkwürdigerweise nur bei der Operette schlecht und gestrig sein soll. Das liegt allein an der falschen Aufführungsweise heute. Denn: So wie in der Kunst seit den 70er Jahren, von Warhol, Lichtenstein bis zu John Currin und Paul McCarthy der unverhohlen dargestellte Kitsch durch ironische Brechungen oder Verfremdung seinen intellektuellen Reiz erhält, wurden auch Operetten bis Anfang der 30er Jahre immer mit vergleichbarer ironischer Brechung gespielt. Beleg dafür sind u.a. die von der Firma Truesoundtransfers restaurierten und neu veröffentlichten Aufnahmen der Lustigen Witwe mit den Uraufführungssängern Louis Treumann und Mizzi Günther, die gänzlich unsentimental klingen, sogar kabarettistisch und ‚jüdelnd’ und fast jede Phrase parodistisch wenden. Auch spätere Operettendiven wie Gitta Alpár, Marta Eggerth oder Rita Georg sangen Operette vor 1933 auf solch ‚gebrochene’ Weise, als grandios überdrehten Kitsch, der an Susan Sontags Definition von „Camp“ denken lässt und damit in Zusammenhang gesehen werden sollte: „Das Kennzeichen des Camp ist der Geist der Extravaganz. Camp ist eine Frau, die in einem Kleid aus drei Millionen Federn herumläuft.“ Man kann Operettenaufführungen der mit (metaphorischen) Federn überreich geschmückten Alpár nicht ernst nehmen, sondern sollte sie als Vorläufer der überbunten Glitzerbilder von Pierre et Gilles sehen. Sie streben nicht nach Wahrhaftigkeit im Sinne der Oper des 19. Jahrhunderts, sondern sind augenzwinkerndes, exaltiertes Zitat.
Diese Modernität machte die Operette den Nazis suspekt. Sie verhöhnten sie als „jüdisch“ und „kulturbolschewistisch“ und wollten stattdessen eine naiv-volkstümelnde Kunstform, bei der der ironisch gebrochene Kitsch durch „Gemüt“ ersetzt wurde.
Bei Friedrich Billerbeck-Gentz heißt es 1934: „Die Eigenart des Deutschen ist ein von flachen Sentimentalitäten freies Gefühlsleben, dessen Ausdruck das in allen Sprachen der Erde unübersetzbare Wort ‚Gemüt’ bildet. Der Jude hat an seine Stelle triefende Sentimentalitäten gesetzt. Ausdruck innigster und innerster Lebensfreude ist für uns im leichten beschwingten Tanz zu finden, der bei der jüdischen Operette zum schwülen ‚Kampf der Geschlechter ausartete. Unser deutscher Humor war stets ein nur mit dem Gefühlsleben zu erfassendes Moment, ein heiteres Kind des Augenblicks, bestimmt, aus dem Alltagsleben zu lösen und einen sonnigen Optimismus zu verkörpern. An seine Stelle gelang es den jüdischen Librettisten, die ekelhafte Zote und die Verhöhnung menschlicher Gebrechen und menschlicher Schwächen zu setzen.“ Wie beim vorangegangenen Zitat ist auch hier – aller Propaganda-Rhetorik zum Trotz – eine exakte Beschreibung der Silbernen Operette zu finden, die nach 1933 nicht mehr in dieser Form erwünscht war.
Die Marschrichtung war vorgegeben: Zurück zum Gemüt. Da viele damals aktuellen Operetten damit zwangsläufig nicht mehr gespielt werden konnten, griff man auf ältere, plötzlich als „Golden“ bezeichnete Werke von Suppé, Millöcker und Strauss zurück, griff auf den gemütvollen Lehár, Paul Lincke und arische Ersatz-Tonsetzer wie Dostal, Raymond und Schroeder zurück, deren große Karrierestunde nun schlug. Durch die Auswahl besondern gefühlvoller Titel und eine neue Kontextualisierung, wie man sie exemplarisch in den Programmen des Wunschkonzerts beim Reichsrundfunk findet, wurde die Operette zur seichten und langweiligen Kunst. An einem Bunten Abend im Radio spielte man 1940 beispielsweise neben Lehárs Land des Lächelns und Giuditta sowie Linckes Liebestraum Titel wie „Kleine Libelle“, „Die Veilchen vom Kochelsee“, „Chiemgau-Lied“, „Es blüht der rote Mohn“ anstelle von Rita Georg mit dem fetzigen „Kleinen Slowfox mit Mary“ oder Massary mit dem erotischen Chanson „Ich bin eine Frau, die weiß was sie will“. Durch die Verstrickung der Operette mit pseudo-volkstümlichen Weisen und unfreiwillig kitschigen, sexfreien Schlagern, versank die Kunstform Operette in einem Meer biederer Unterhaltung, aus dem sie nie wieder auftauchten sollte. Der damals für „Gehobene Unterhaltungsmusik“ und somit für Operette bei der Reichsrundfunkgesellschaft zuständige Franz Grothe war später jahrelang Dirigent der TV-Sendung Zum Blauen Bock. Das gibt einen recht drastischen Eindruck vom Weg, den die Operette zurückgelegt hat. Auch Eduard Künneke wandte sich – zwangsläufig – als in Deutschland verweilender Komponist nach 1933 ab vom exzentrischen Jazz-Stil der vorangegangenen Epoche und komponierte nun à la Lehár für die Berliner Staatsoper die opulente Opern-Operette Die große Sünderin (1935), die mit Wagner-Stars Tiana Lemnitz und Helge Rosvaenge uraufgeführt wurde. Sie stellt den weitest denkbaren Gegenpol zum kessen Vetter aus Dingsda dar und markiert, zusammen mit den Folgewerken Zauberin Lola (1937), Hochzeit in Samarkand (1938) und Traumland (1941), den Endpunkt einer Entwicklung, von der sich die Operette als Kunstform nie wieder erholt hat.
Gespenstische Nachkriegsauferstehung
Als nach dem Krieg die vormals verbotenen Komponisten wieder aufgeführt werden durften, erlebten viele von ihnen eine ungeheuerliche Renaissance. Das Ungeheuerliche war, dass man sich für die nunmehr freigegebenen Spielpläne wieder jene Werke aussuchte, die zum neuen Folklore-Image passten, das die Nazis der Operette verordnet hatten. Von Kálmán spielte man also nach 1945 nicht etwa die jazzige Herzogin von Chicago (1928) oder die Shimmy tanzende Bajadere, sondern den pusztaseligen Zigeunerprimas, die rot-weiß-grüne Csárdásfürstin, auch die Gräfin Mariza: aber ohne Foxtrotts und Schlagercharme, sondern mit endlos ausgedehnten Walzer- und Csárdás-Szenen. Amerikanische Operetten, Jazz-Erfolge wie Granichstaedtens Der Orlow (1925) und Ábraháms Sex-Abenteuer wie Roxy und ihr Wunderteam (1937) bedeckte man mit dem Mantel des Schweigens oder schrieb die Liedtexte einfach um, damit sie stubenrein wurden. Auch ein Vetter aus Dingsda wurde nurmehr in der ‚entschärften‘ Form gespielt, mit blühenden Walzerweisen („Strahlender Mond“) und einschmeichelnden Volksliedern („Ich bin nur ein armer Wandergesell“), der synkopierte Rest wurde irgendwie angepasst oder mit großem Opernton platt gewältzt.
Auch die Stars von ehemals trällerten nach 1945 weiter ihre auf „Gemüt“ getrimmten Lieder, vor allem im Kino und allen voran Johannes Heesters und Marika Rökk, mit Peter Alexander als jugendlichem Neuzugang. Zu den Operettenfilmen der 50er Jahre schreibt der Filmforscher Christoph Dompke: „Das Genre [Operette] wurde nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches durch den Wolf des ranzigen Heimatfilms gedreht und versank unrühmlich in den Tiefen der Fernsehoperette.“ Auf der Bühne wurde die Operette nach 1945 nicht mehr von brillanten Tänzern und vielseitigen Singschauspielern dargeboten, sondern vorwiegend von Opernsängern. Angeblich, um das Genre zu veredeln, genau wie die Nazis es getan hatten. Dass das eine völlige Verunstaltung der Kunstform ist, kümmerte niemanden. Denn: Die Operette war durch Offenbach als Parodie der Oper kreiert worden und lebte bis 1933 als solche weiter. Durchs Spielen der Operetten als Opern, wie es exemplarisch Franz Lehár mit den Wiener Philharmonikern in den 1940er tat, und wie es später Rudolf Schock und Anneliese Rothenberger ungebrochen weiter taten, wurde aus der Opernparodie eine Operettenparodie, der leider jeder Humor fehlt.
Und so wurde die Operette zu einem Gespenst, einem Schatten ihrer selbst. Pikanterweise gilt genau diese gespensterhafte Spielart der Operette heute als die „traditionell“ richtige. Sogar in seriösen Blättern wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung finden sich zu eingestaubten Aufführungen, wie denen in Mörbisch, Kommentare wie: „Besucher kommen von weit her, weil sie die klassische Operette schätzen, die in Mörbisch noch in weitgehend unverfälschter Gestalt auf die Bühne gelangt.“ Man staunt über die Unkenntnis, was die „unverfälschte Gestalt“ der Ur-Operetten angeht.
Erst in jüngster Zeit hat sich an diesem Zustand etwas geändert. Die Kunstform wurde von einer neuen Forschergeneration entdeckt, die sie erstmals (wieder) in die richtige historische Perspektive setzt und vor den dunklen Seiten der Operettengeschichte ebenso wenig zurückschreckt wie vor den quietschbunten. Dazu schrieb kürzlich der Musikkritiker der Frankfurter Rundschau: „Die Spurensuche nach der Operette, einer ausgestorbenen Gattung, hat etwas Exklusives und Nonkonformistisches – wie die Beschäftigung mit avantgardistischen Klängen. Man kann die alten Stücke ungefähr so hören wie Neue Musik: mit angenehm kitzligem intellektuellen Vergnügen.“ Bis man zu dieser Erkenntnis kam, hat es lange gedauert. Aber die zumindest teilweise Auferstehung der Operette aus Rothenberger-Ruinen in den letzten Jahren erleben zu dürfen, war das Warten wert. Denn wie sagte Christoph Dompke so treffend über die historisch richtig gespielten Operetten: Man müsse sie lieben, „weil sie sinnlich sind, weil sie zu Herzen gehen, weil sie bombastisch sind, kitschig, campy, ja manchmal auch völlig absurd. Und unvorstellbar schön.“