Ingo Gerlach
Program book Komischen Oper Berlin
20 November, 2010
Die Revue-Operette Im Weißen Rößl, 1930 im Großen Schauspielhaus Berlin unter Erik Charell uraufgeführt, war einer der größten Theatererfolge der Weimarer Republik – und einer der kostspieligsten wohl auch. »Siebenhundert Menschen haben ihr täglich Futter, dreitausend die Illusion, glücklich zu sein«, schrieb das Berliner Tagblatt. Charell, ehemaliger Tänzer und von Max Reinhardt mit der Leitung des Schauspielhauses betraut, hatte während eines New-York-Gastspiels am Broadway gesehen, wie die Amerikaner Revuen produzierten und dieses Prinzip zum ersten Mal mit An Alle! (1924) sehr erfolgreich für Berlin adaptiert.
Dabei war er nicht der einzige, der mit dieser Form des Unterhaltungstheaters das Berliner Publikum begeisterte: James Klein an der Komischen Oper an der Weidendammer Brücke und Herman Haller im Admiralspalast spielten ebenfalls Revuen. Eine der Hauptattraktionen des Genres war dabei nicht zuletzt die ausgestellte Nacktheit – James Klein brachte eine Show unter dem durchaus programmatisch zu verstehenden Titel Tausend nackte Frauen heraus. Zwar bediente auch Charell den gewinnbringenden Voyeurismus und brachte mit den legendären Tiller-Girls die erste Girl-Reihe nach Berlin, versuchte jedoch gleichzeitig, die Nacktheit konzeptionell einzubinden. Im Programmheft zu der 1925 herausgebrachten Revue Für Dich hieß es diesbezüglich: »Der Zuschauer ist schenkelsatt. Gar nicht davon zu reden, wie genug wir von den Massenausstellungen weiblicher Brüste haben. Wir verlangen, dass Fleisch nicht roh serviert, sondern [...] im Dienste einer Regisseursidee gezeigt werde.«
Die traditionelle Ausstattungsrevue erweiterte Charell ab 1926 um modernisierte Operettenklassiker wie Der Mikado oder Die Lustige Witwe. Dabei brach er mit deren Aufführungstradition und machte aus den Vorlagen sogenannte Revue-Operetten. Die Stücke wurden dabei musikalisch bearbeitet, zum Teil ihrer Handlungslogik beraubt und in die Passgrößen der Revue eingefügt.
Mit Casanova (1928), Die Drei Musketiere (1929) und vor allem mit dem Weißen Rößl fand dieses neue Genre schließlich seinen Höhepunkt.
Noch stärker als in der klassischen Operette üblich, zeichnen sich die Stücke wie das Weiße Rößl durch eine extreme Arbeitsteiligkeit aus. Erik Charell und Hans Müller bearbeiteten das 1897 uraufgeführte Volksstück von Gustav Kadelburg und Oscar Blumenthal, die Gesangstexte kamen von Robert Gilbert (der laut Anekdote all seine Tantiemen für das Rößl der KPD vermachte), der größte Teil der Musik stammt von Ralph Benatzky, berühmte Nummern wie »Die ganze Welt ist himmelblau « oder »Mein Liebeslied muss ein Walzer sein« sind Einlagen von Robert Stolz, »Zuschau’n kann i net« schrieb Bruno Granichstaedten und »Was kann der Sigismund dafür« war ein beliebter Schlager von Robert Gilbert, der von Charell in das Weiße Rößl integriert wurde. Nicht genannt werden Eduard Künneke, der einen Teil der Chorszenen komponiert hat, sowie der Kabarettist Karl Farkas, der Text und Musik des Quodlibets collagierte. Diese Ausgangslage hatte nicht nur zur Folge, dass jede Neuproduktion des Weißen Rößl bezüglich Nummernfolge, Instrumentierung oder Einlagen völlig anders aussah als die vorige, sondern auch, dass es später immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten darüber kam, wer denn nun der eigentliche Erfinder des Weißen Rößl sei. Von einem »Werk« kann nicht die Rede sein.
Im Weißen Rößl ist gerade durch die Reichhaltigkeit seiner Rezeptionsgeschichte interessant.
Ausgehend von Kadelburgs und Blumenthals 1897er Lustspiel über diverse Verfilmungen bis zu Charells Erfolgsproduktion von 1930, auf die sich der Großteil der folgenden Bearbeitungen bezieht, nicht nur Charells Bühnenversion von 1951, sondern auch die Verfilmungen mit Johannes Heesters (1952) – ebenfalls unter Beteiligung von Charell – oder mit Peter Alexander (1960). Am spannendsten sind dabei sicherlich die etwas abseitigen Bearbeitungen des Stoffes um die Rößl-Wirtin und ihren Zahlkellner, etwa der pornografische Roman Im Weißen Rößl … da gings hoch her aus den 1930er Jahren oder die Filme von Franz Antel, die in den 1960er Jahren an den Erfolg der Peter- Alexander Verfilmung anknüpften, wie Im schwarzen Rößl (1961) und Im singenden Rößl am Königssee (1963). Diese Filme brachten dem Regisseur zwar eine Klage seitens Charell ein (Die Bunte: »Charell sah die Urheberrechtsverletzung dadurch gegeben, dass in beiden Antel-Filmen ein ›Rößl‹ vorkommt und ein ›Oberkellner‹. ›Lauter Dinge, die man nicht schützen kann‹, war Antels Erwiderung. Jetzt kam es vor Gericht zu einem Vergleich, der es Antel verbietet, weiterhin einen Film zu machen, in dem ein ›Rößl‹ mitspielt, darüber hinaus erhält Charell eine Abfindung, die bei 15.000 Mark liegen dürfte.«), schließen aber auch den Kreis zu dem erwähnten Pornoroman, denn Antel blieb seinen Themen treu und produzierte später unter anderem Filme wie 00-Sex am Wolfgangsee oder Frau Wirtin bläst auch gern Trompete.
Im Weißen Rößl ist also mehr als eine Revue-Operette von Erik Charell.
Dementsprechend geht es bei der Erarbeitung einer Neuinszenierung dieses Stückes eben nicht um eine historisch korrekte Rekonstruktion eines der größten Theatererfolge der Weimarer Republik, aber auch nicht um die Realisierung der queeren Lesart, die sich zum Aufhänger nimmt, dass Charell nicht nur nackte Frauen auf die Bühne gestellt hat, sondern auch »saftige Kerle in Lederhosen« (BZ am Mittag, September 1925) oder dass es in dem zentralen Patentstreit des Stückes darum geht, ob man die Hemdhose vorne oder hinten knöpft. Bei der Beschäftigung mit dem Weißen Rößl fällt auf, dass der Aspekt der Ökonomie und wie er sich auf die Vorgänge um das Hotel und die Beziehung der Figuren untereinander auswirkt, zentral ist. Tatsächlich werden die beiden großen Themengebiete des Stückes, nämlich Sexualität und Tourismus, durch die deutliche Ausrichtung aller Handlungsstränge an den Gesetzen des Marktes zusammengeführt und z. B. in Leopolds Auftrittslied miteinander verbunden: »Einmal Kaffee, ein weiches Ei, ein bissel Lieb’, vier Kronen zwei!«. Bereits in der Exposition der ländlichen Idylle zu Beginn des Abends wird auf die erotische Sphäre verwiesen und eine Oberfläche vorgeführt, die sowohl den exotischen Blick des Europäers auf den vermeintlich unzivilisierten Naturzustand der Bevölkerung seines Urlaubsziels beinhaltet, als auch die Marketingstrategien der Tourismusindustrie anklingen lässt: »So schön wie in Wolfgang ist’s nirgends auf der Erd’. Bei uns, da ist’s richtig, in der Stadt ist’s verkehrt. Holdrioh!«
Zugespitzt wird dieses Glücksversprechen im Laufe des Stückes sowohl durch den Auftritt des Stammgastes Dr. Siedler (»Im Weißen Rößl am Wolfgangsee, da steht das Glück vor der Tür«) als auch durch das Schnadahüpfl- Duett, in dem die Rößl-Wirtin singt: »Es blüht der Holunder den ganzen Sommer mitunter und die Liebe, die blüht’s ganze Jahr. Im Salzkammergut, da kann mer gut lustig sein. Ja, hier san mir immer so – Holdrioh!« Allerdings wird an dieser Figur eben auch die Kehrseite der Medaille offenbar: Das Glück steht laut Libretto zwar genau vor ihrer Tür, ist aber nur denen hold, die wieder wegfahren. Für die Rößl-Wirtin bedeutet das Leben im Glücksversprechen einen permanenten Ausnahmezustand, der für sie in jeder Hinsicht unbefriedigend endet. Dass sie sich durch die Fürsprache des Kaisers in ihr Schicksal fügt und ihren Oberkellner als Ehemann engagiert, ist einer der zahlreichen Momente des Stückes, in denen das Geschäftliche bis weit in die Tiefen der Privatsphäre hineingezogen wird. Eine weitere Auffälligkeit der Personenkonstellation und damit ein drittes zentrales Thema ist die strenge Hierarchie. Vom Oberkellner zum Oberförster ist das gesamte Personal konsequent durchhierarchisiert. Und an der Spitze steht der Kaiser.
Zusammen mit der auffälligen körperlichen Aggressivität, mit der vor allem der Oberkellner den Piccolo traktiert und die sich folklorisiert im Watschentanz wiederfindet, wird eine Gesellschaft gezeichnet, die eine extrem autoritäre bzw. militaristische Struktur unter einem ziemlich fadenscheinigen friedvolldemokratischen Mäntelchen versteckt.
Der direkte Übergang der scheinparlamentarischen Ratssitzung über die Frage, wo denn der Kaiser wohnen soll, hin zu einer Massenschlägerei deutet bereits an, dass anlässlich des Kaiserbesuchs zum Schützenfest die unterschwelligen autoritären Strukturen wieder gänzlich hervorbrechen Besonders in der Figur Leopolds wird dieser Wendepunkt radikal vollzogen. Angesichts des »Allerhöchsten« wandelt er sich vom weinerlichen Beleidigten zum Führer. Dass er der Wirtin ausgerechnet in diesem Moment, in dem er sie in die Schranken des Patriarchats verweist und den Oberbefehl über das Hotel übernimmt (»Aber jetzt, jetzt bin ich der Herr. Jetzt bin ich das Ross!!«) und darüber hinaus auch über ganz St. Wolfgang, zum ersten Mal nicht mehr gleichgültig ist, wirft ein interessantes Licht auf das Selbstverständnis der Frau im Männerberuf. Dass Josepha Vogelhuber, die immer als die zentrale Figur gehandelt wird, eigentlich keine eigenständige Musiknummer hat, sondern immer nur in den Nummern der Männer (Leopold, Siedler, Kaiser) bzw. des Salzkammerguts vorkommt, entspricht somit der Logik des Stückes.
Überhaupt ist die Betrachtung der musikalischen Nummern bezüglich der Figuren durchaus aufschlussreich, auch wenn es sich nicht wirklich um psychologisch Musik handelt.
Dass das mit drei Duetten zentrale Paar, Ottilie und Siedler, als Figuren der Berliner Operette folgerichtig in den angesagten Modetänzen der Zeit wie Slowfox großstädtisch flirten, am Ende aber als Hochzeitspaar in die Walzerseligkeit der Wiener Operetten zurückfallen (»Mein Liebeslied muss ein Walzer sein«), lässt berechtigte Zweifel daran aufkommen, ob sich das Glücksversprechen vom Wolfgangsee auch im Berliner Alltag als tragfähig erweisen wird.