Kevin Clarke
klassik.com
17 September, 2015
Da hat sich die Berliner Bar jeder Vernunft tatsächlich drei neue Künstler ins Spiegelzelt geholt, die attraktiv und atemberaubend talentiert sind, um ein neues Satire-Musical zu präsentieren, das den Titel Sarg Niemals Nie trägt. Die drei, um die’s geht, heißen Yvonne Greitzke, Patrik Cieslik und Michael Starkl und sind allesamt ehemalige Studenten der Universität der Künste (UdK) Berlin. Das Stück ist ein „Musical zum Totlachen“, das von zwei Brüdern namens Tim und David handelt, die ein bankrottes Beerdigungsinstitut von ihrem Vater erben, und dort zusammen mit der polnischen Putzkraft Dagmar durch die „psychoaktive Nachverwertung der sterblichen Überreste“ aus den Schulden rauskommen. Konkret heißt das: Die drei mischen die Asche der Toten in Joints und verkaufen sie sensationell gewinnbringend, bis die Polizei den Laden dicht macht. Ein Happy End gibt’s trotzdem, indem sie die Brennöfen umfunktionieren und eine Pizzeria aufmachen.
Ausgedacht haben sich diese Geschichte Dominik Wagner vom Comedy Duo Ass-Dur und Jörn-Felix Alt. Die charmante Groteske war zuvor als Miniproduktion auf der Studiobühne der Neuköllner Oper ein Überraschungshit. Jetzt zeigt die Bar jeder Vernunft das Werk in einem größeren Kontext, mit neuer Besetzung und mit einer dreiköpfigen Band, die Nikolai Orloff vom Synthesizer fabelhaft leitet.
Da es sich um eine Satire handelt, die mit schwarzem Humor Beziehungsprobleme von schüchternen Beerdigungsinstitutsleitern und resoluten Reinigungskräften durchspielen lässt, die allesamt unter Drogeneinfluss auf eine andere Bewusstseinsebene gehoben werden, ist es essentiell, dass das Durchgeknallte der Handlung jederzeit klar ausgespielt wird. Es geht schließlich um Slapstick und Spaß und Überzeichnung. Die drei Stars deuten, jeder auf seine Weise, Charaktertypen an. Aber die im Programmheft nicht genannte Regie belässt es oft bei wirkungsvollen Gruppenarrangements, statt das Extreme der Geschichte zu verdeutlichen. Nur ein Beispiel: Yvonne Greitzke singt mit überwältigender Musicalstimme gleich zu Beginn das Lied „Spiel mit mir!“.
Dann erzählt sie, dass Dagmar aus Polen kommt und dort erwartet wird, dass Männer in Liebesdingen den ersten Schritt machen müssen. Für zirka fünf Sekunden verfällt sie daraufhin in einen witzigen polnischen Dialekt; den Rest des Abends spricht sie aber geschliffenes Hochdeutsch und bewegt sich souverän, wie die emanzipierte Chefin eines Großkonzerns. Warum nutzt sie den polnischen Dialekt nicht durchgehend, um die Komik und Klischeehaftigkeit ihrer Figur klar zu machen, wie das ihre große Kollegin Andreja Schneider als „Frl. Schneider“ bei den Geschwistern Pfister in einer bulgarischen Variante seit Jahren erfolgreich vormacht? Kurz: Es wird einiges an Wirkungspotenzial verschenkt.
Dass das Stück trotzdem funktioniert, liegt daran, dass die drei Darsteller so einnehmend rüberkommen. Patrik Cieslik spielt den verklemmten Herrn David mit hinreißenden Ticks und sieht manchmal aus, wie der verdruckste Bruder von Daniel Radcliffe.
Als sein Gegenspieler ist Michael Starkl ein auftrumpfender Muskelmann, der frisch aus Indien vom Kamasutra-Kurs zurückgekommen ist und nun daheim zu sich selbst findet. Alle drei Darsteller tanzen beeindruckende Choreografien von Jörn-Felix Alt, in denen sie zeigen, wie mühelos echte Musical-Bravour aussehen kann, die einen dennoch staunen lässt.
Bleibt natürlich die Frage nach der Musik, zu der da getanzt wird. Die haben Christoph Reuter und Cristin Claas geschrieben, als eine Mischung aus Pop und ein bisschen Rock. Ich kann mir vorstellen, dass die Partitur im kleinen Trash-Rahmen der Neuköllner Oper funktioniert hat. In der Bar jeder Vernunft – wo sonst die Pfisters allseits bekannte Schlager trällern, Katharine Mehrling Piaf singt oder La Cage aux Folles zum Mitsummen läuft – fallen die Nummern aber stark ab. Sie sind nicht schlecht, ganz im Gegenteil: es ist intelligent gemachte Gebrauchsmusik. Aber es fehlt jener melodisch zündende Funke, der den Abend auf das Qualitätsniveau der Darsteller, Choreographie und der verrückten Liedtextes heben würde; zumindest habe ich das so empfunden.
Trotzdem ist es toll, dass die Bar jeder Vernunft nach dem Weißen Rössl, Cabaret und La Cage jetzt zum vierten Mal ein Bühnenstück selbst produziert hat, anstelle eines üblichen Revue- oder Kabarettabends. Allein schon um Greitzke, Starkl und Cieslik in Action zu erleben, lohnt der Besuch von Sarg Niemals Nie. Ich hoffe sehr, dass alle drei in Zukunft nochmal eingeladen werden mit Soloprogrammen. Denn wie sie hier singen – teils arg „poppig“ in der Mikroaussteuerung – hat ganz große Klasse. Das gilt für Starkls indisch-erotisches „Touch Me Now, Touch Mahal“, für Ciesliks „Albtraum“-Sequenz und für Greitzkes „Ich will mit dir putzen“. Vielleicht überlegt sich Greitzke ja auch das mit dem polnischen Akzent nochmal bis zum 25. September? Dann endet der Lauf des „Ersten und letzten Teils der dreiteiligen Saga“ vorläufig. Aber wer weiß: die kiffenden Totengräber könnten wiederkommen und aus dieser „Limited Edition“ eine „Extended Edition“ machen. Die CD zum Stück, mit der Besetzung der Neuköllner Oper, ist übrigens gerade neu auf den Markt gekommen.