Kevin Clarke
klassik.com
1 August, 2016
Die erste moderne Ábrahám-Aufnahme auf Basis einer rekonstruierten Originalpartitur von Hagedorn & Grimminger: mit einer elegischen Dagmar Schellenberger in der Titelpartie.
Paul Ábraháms Viktoria und ihr Husar fegte wie der sprichwörtliche Sturmwind 1930 durch die deutschsprachige Operettenszene und blies mit einem Schlag mehr oder weniger die gesamte einschlägige Operettenkonkurrenz alter Schule weg: mit einem neuartigen Turbo-Sound, der in der Geschichte des Genres nach wie vor einmalig ist. Wenn Ábrahám das volle Jazzorchester losbrausen lässt, mit all seinen Spezialeffekten, ist das ein Ereignis. Nicht einmal Meisterinstrumentatoren wie Franz Lehár können mit diesem Deluxe-Klang konkurrieren.
„Sein Sinn für orchestrale Technik ist umstürzlerisch und seiner Zeit um ein halbes Menschenalter voraus“, schreibt Bernard Grund in seiner Kulturgeschichte der Operette. Der berühmte Kritiker Erich Urban urteilt in der BZ am Mittag anlässlich der Berliner Erstaufführung: „Ábrahám hat ein untrügliches Gefühl für den Bau, für die Dynamik der Nummern. Ich erinnere an den Hauptschlager ‚Mausi, süß warst du heut nacht’, wie das entwickelt, immer neu variiert und gesteigert ist, bis die hinreißende Wirkung da ist. Jedes Stück ist richtig geraten und gestellt. […] Außerordentlich das Orchester, ein Jazz-Orchester, das von Ábrahám mit Meisterhand geformt ist, das einen großen Reichtum von Nüancen [sic] hat, und mit seinen vielen Mittelstimmen Träger des modernen Gedankens in dieser Operette ist.“ Weder Nonsense-Schlager wie „Do-do-do“, noch die bittersüßen Liebeslieder („Pardon, Madame“) haben ihre grundsätzliche Wirkung verloren, als sie später in teils haarsträubenden Neuninstrumentierungen gespielt wurden. Das beweisen die diversen Nachkriegsaufnahmen von Einzelnummern.
Obwohl seit fast einem Jahrzehnt ein umfassendes Ábrahám-Revival in Gang ist, gepaart mit Bemühungen, die Originalpartituren der 1930er Jahre zu rekonstruieren und diesen außergewöhnlichen Klang neuerlich zu ermöglichen, diesen „modernen Gedanken“ der Operette wieder erfahrbar zu machen, gab es bislang keine Aufnahme von keinem einzigen dieser Revival-Projekte: weder von den WDR-Konzertaufführungen im Radio, noch von einer Bühnenaufführung, die auf den „bühnenpraktischen Neueinrichtungen“ der Partituren durch das Team Hagedorn & Grimminger vorgenommen wurden. Somit ist dieses Cast Album der Mörbischer Festspiele 2016 – “live” bei der Premiere aufgenommen – ein Novum auf CD und diese Viktoria und ihr Husar eine Pioniertat.
Man staunt nicht schlecht: Viktoria enthält einige der bekanntesten Ábrahám-Nummern überhaupt, das melancholische „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ ebenso wie den durchgeknallten Tanzschlager „Meine Mama war aus Yokohama“. Trotzdem ist die Zahl der Viktoria-Einspielungen ziemlich übersichtlich. Es gibt eine Gesamtaufnahme von 1951 aus Köln, dirigiert von Franz Marszalek: mit Gitta Lind und Karl Friedrich als Viktoria und ihrem Husar. Die Aufnahme verwendet eine geigenselige Neuinstrumentierung, die Jazzelemente sind so reduziert, dass man sie fast nicht bemerkt. Die Folge: Das ganze Stück klingt wie ein pathetisches ungarisches Melodrama, mit großen Opernstimmen und wenig Lebensfreude. Und definitiv ohne jedes Roaring-Twenties-Gefühl. Immerhin sind die romantischen Solos imposant. Das gilt auch für die Highlight-Version mit Rudolf Schock und Margit Schramm, dirigiert von Werner Schmidt-Boelcke. Da sind 14 Nummern zusammengestellt. Die besten liefern Schock/Schramm in ihren Duetten und Liedern. Die schlimmsten sind die Buffo-Nummern, die schockierend „keusch“ klingen, wenn man sie Anzüglichkeit und Doppeldeutigkeit der Texte von Fritz Löhner-Beda und Alfred Grünwald bedenkt.
Das alles wird noch schlimmer – soweit das möglich ist – in einer Highlight-Version von 1960 mit Peter Alexander, wiederum dirigiert von Franz Marszalek. Hier hört man eine weitere Orchesterneufassung, die dem Schlagerstil der Epoche verpflichtet ist. Rita Bartos ist diesmal die Titelheldin, sehr sauer und distanziert im Klang, Sandor Konya dafür ein wunderbar schmachtender Husar, aber ohne die Gabe zu Stilisieren, die verhindert, dass die emotionalen Ausbrüche peinlich rüber kommen. Peter Alexanders Kurzauftritte als Buffo sind Dokumente der Zeit, ganz sicher keine Aufnahmen für die Ewigkeit. (Ganz anders als Oscar Denes 1930.) Es ist sogar regelrecht peinlich, Alexanders „Mausi, süß warst du heute Nacht“ zu hören, wo er die nächtlichen Qualitäten seiner Partnerin preist. Diese können nicht sonderlich aufregend gewesen sein!
Danach kommt lange: nichts. Keiner der Versuche, Viktoria wiederzubeleben, wurde auf CD festgehalten, weder die Staatsoperette-Dresden-Fassung, nicht das WDR-Konzert (wo erstmals die Hagedorn & Grimminger Partitur verwendet wurde), noch die Aufführung in Gießen unter Dirigent Florian Ziemen, der viel Energie und Sachkenntnis beisteuerte, aber mit einem problematischen Solistenteam arbeiten musste. Somit ist diese Mörbisch-Live-Aufnahme mehr oder weniger konkurrenzlos. Außerdem bietet sie 74 Minuten Musik auf einer CD, das ist mehr Ábrahám-Material als auf allen anderen Highlight-Ausgaben zu finden ist.
Wie jüngste Aufführungen klar gemacht haben: Es reicht absolut nicht, eine rekonstruierte 30er-Jahre-Partitur zu verwenden, wenn man nicht weiß, wie man damit richtig umzugehen hat. Es scheint für Besetzungschefs außerdem extrem schwer zu sein, passende Sänger für den spezifischen „umstürzlerischen“ Ábrahám-Stil zu finden. Im Gegensatz zur Berliner Ball im Savoy-Produktion (von Adam Benzwi musikalisch betreut und auf Basis der Hagedorn-&-Grimminger-Partitur spektakulär und hochindividuell eingerichtet) vermeidet Mörbisch ungewöhnliche Besetzungen und Interpretationsansätze. Die neun Solisten sind durchweg akzeptabel, teils auch gut, aber selten außergewöhnlich. Vielmehr klingen sie oft austauschbar. Das gilt besonders für die beiden Buffo-Paare Janczi/Riquette (Andreas Sauerzapf und Katrin Fuchs) und Lia San/Ferry (Verena Barth-Jurca und Peter Lesiak). Ihre synkopierten Tanz-Hits wirken akustisch mehr bemüht als enthemmt, ohne die Slapstick-Verrücktheit, die man von den Aufnahmen der 30er-Jahre kennt. Und ohne stimmliche Charakterisierung. (Es handelt sich schließlich um „Typen“, die dargestellt werden wollen, in all ihren Extremen.) Und den Tanzevolutionen, die hier erstmals in größerem Umfang zu hören sind, fehlt jener atemlose Drive, der für Ábrahám essentiell ist. Vom „großen Reichtum an Nüancen“ ist auch nur bedingt etwas zu hören, dafür ist der Orchesterklang zu kompakt und undifferenziert. Was vermutlich der Bühnensituation in Mörbisch geschuldet ist. Aber: Wenigstens sind diese Tanzevolutionen überhaupt aufgenommen; das ist ein großes Plus.
Dirigent David Levi oder die Aufnahmetechnik rücken die orchestralen Sondereffekte nicht bewusst vors Mikrophon. All die gestopften Trompeten, Klaviersolos, Xylophone, Saxophone, Harfen, Glocken, Banjos usw. nehmen hier keine zentrale Klangposition ein, sondern verbleiben im Hintergrund. Das ist bedauerlich, denn genau diese Elemente machen die Neuaufnahme einmalig und zu einem „Must Have“ für jeden Ábrahám-Fan. Mehr Klangfantasie und aufnahmetechnische Experimentierfreude wäre vorteilhaft gewesen. Aber das ist auch eine Kostenfrage, und diese CD ist vom Festival allein finanziert, ohne jegliche Subventionen, was fast unfassbar ist angesichts der Bedeutung von Mörbisch für die Region und für die Operette.
Mörbischs neue Intendantin Dagmar Schellenberger singt die Titelpartie höchstpersönlich. Sie stattet die Viktoria mit einigen sinnlichen, zart-schwebenden Spitzentönen aus und klingt besonders in den elegischen Momenten hinreißend: spürbar eine ehemalige Arabella mit großer Bühnenerfahrung und -präsenz. Eine reife Frau, gefangen zwischen zwei Männern, kein verwirrter Teenager im ersten Liebeschaos. Das ist ein interessanter Interpretationsansatz, der der Rolle emotionale Tiefe gibt. Am besten ist Schellenberger, für meine Ohren, in den Duetten mit Andreas Steppan als Botschafter Cunlight. Er ist offensichtlich Schauspieler mit starker natürlicher Singstimme. In den Duetten mit Steppan klingt Schellenberger befreit, vokal gesprochen, achtet auf jegliche Textnuancen. Außerdem stattet sie tiefe Töne mit jener „dreckigen“ Klangnote aus, die gut zu Ábrahám passt. Für mich war ihr gemeinsames „Pardon, Madame“ ein Höhepunkt der Aufnahme, auch wenn das Orchester die fahle Nostalgie dieses Slow Waltz völlig ignoriert. (Wieso hat Levi solche Angst vor extremen Tempowechseln und dynamischen Kontrasten?)
Wenn Schellenberger mit Michael Heim als Husarenoffizier Stefan Koltay agieren muss, ist das Ergebnis merklich flacher: weniger instinktive Interaktion, weniger Textausdeutung, weniger Spontanität.
Heim hätte sich vorab vielleicht mehr Tauber-Aufnahmen studieren sollen. Die Rolle des Koltay verlangt nach Mut zum Kitsch, zu Schluchzern, zur kontrollierten emotionalen Offenbarung. Was man hier bekommt ist eine anständig gesungene „neutrale“ Version, aber wenig Star Quality. Und Koltay verdient Star Quality. Rudolf Schock hat davon reichlich, nebenbei bemerkt, und deutlich mehr vokales Draufgängertum.
Bei den expansiven Einleitungen und ausufernden Finali wurden für die CD-Ausgabe große Teile gestrichen. Das ist bedauerlich, weil genau da der Unterschied zwischen der 1930er-Version und späteren Adaptionen besonders klar hervortritt, weil da Ábrahám der Klangdramatiker besonders auffällt in seiner Neuartigkeit – auch mit seiner Erfahrung und Orientierung am Tonfilm, mit seinen epischen untermalenden Elementen. Weil das Mörbisch-Team das erste ist, das eine moderne „originale“ Viktoria aufgenommen hat, wäre eine Gesamteinspielung auf zwei CDs willkommen gewesen. Die Aufnahme bei OEHMS Classics ist eh in einer Budget-Linie erschienen, da wären die Extrakosten für den Kunden nicht sonderlich hoch gewesen. (Ich hätte gern die extra Euros ausgegeben.)
Man könnte fragen: Und was passiert jetzt als Nächstes?
Wird jemand wie Ulf Schirmer die Hagedorn-&-Grimminger-Partituren nehmen (es gibt inzwischen eine ganze Reihe: Viktoria, Blume von Hawaii, Ball im Savoy, Roxy und ihr Wunderteam) und sie in München für cpo aufnehmen? Auch wenn ich kein Fan von Schirmers Operettenstil bin, muss ich zugeben, dass seine Giuditta von Lehár – in direkter zeitlicher Nachbarschaft zu Viktoria uraufgeführt – mehr Bounce und orchestralen Glanz hat als David Levis Viktoria. Außerdem standen Schirmer mit den Tontechnikern des Bayerischen Rundfunks die besseren Aufnahmepartner zur Verfügung. Wird die Komische Oper Berlin ihren fabelhaften Ball im Savoy auf Tonträger oder DVD veröffentlichen, mit Dagmar Manzel und Katharine Mehrling als neuartigen heutigen Ábrahám-Interpretinnen, die für diese Musik einen ganz eigenen Tonfall gefunden haben, der überzeugt? Wird eines der großen internationalen Plattenlabels Ábrahám herausbringen, vielleicht mit einem Vertreter der Alte-Musik-Fraktion wie René Jacobs oder Marc Minkowki? Das scheint wenig wahrscheinlich. Weswegen diese 2016er Live-Aufnahme von Viktoria und ihr Husar aus Mörbisch – trotz aller Einschränkungen – eine wichtige Veröffentlichung ist, die den Weg in die Zukunft weist, egal wie lange es dauert, bis andere dem Beispiel folgen.