Kevin Clarke
klassik.com
9 September, 2017
Ja, dieser Auftritt der neuen Sally-Bowles-Darstellerin im Berliner Tipi-Zelt am Kanzleramt ist vergleichbar mit einem Blitzeinschlag – der mit gleißendem Licht alles drumherum in den Schatten stellt und seine ganz eigene einzigartige Megawattenergie verströmt. Das ist beeindruckend anzuschauen und anzuhören. Zu verdanken ist es der jungen Sophia Euskirchen. Sie ist in die seit Jahren laufende Cabaret-Produktion eingestiegen als Alternativbesetzung für die ewige Sophie Berner, und sie hat alle Routine, die sich in die Produktion eingeschlichen hat, einfach beiseitegeschoben und etwas so Grandioses – und detailgenau Ausgearbeitetes – serviert, dass man versteht, wieso diese Inszenierung von Regisseur/Choreograph Vincent Paterson einst ein solcher Knaller war; trotz diverser künstlerischer Mängel und Fragwürdigkeiten der dramaturgischen Neufassung der berühmten Vorlage von Kander & Ebb aus dem Jahr 1966.
Diese basiert bekanntlich auf den Berlin-Romanen von Christopher Isherwood und erzählt vom Aufkommen des Nationalsozialismus 1930-33 und vom Treiben rund um einen kleinen dekadenten Nachtclub, in dem Sally Bowles davon träumt den Durchbruch zum großen Star zu erleben, egal wie … während um sie herum das soziale und politische Leben zusammenbricht. Als Berlingeschichte, die jeder kennt, passt dieses Stück natürlich perfekt nach Berlin. Als touristische Attraktion erster Güte. Und natürlich passt es doppelt gut ins Tipi-Zelt, mit seiner eigenen semi-dekadenten Club-Atmosphäre. Die Inszenierung von Paterson ist im Grunde simpel, mit einfachsten Bühnenbildern auf dem Niveau des Ohnsorg-Theaters, aber mit silbrig glitzernden Showmomenten, die dem Ganzen den nötigen Weltstadtglamour verpassen. Jede Aufführung steht und fällt in diesen Pappkulissen mit der Qualität der Hauptdarsteller. Und diese sind seit Jahren bei jeder Wiederaufnahme die gleichen.
Wer Cabaret im Tipi mehrmals gesehen hat, wird bemerkt haben, dass das Stück inzwischen ohne allzu viel Einsatz über die Bretter geht. Was sehr bedauerlich ist: denn gerade die Rolle des zwielichtigen und sarkastischen Conferenciers – am Broadway und im Hollywoodfilm gespielt von Joel Grey – braucht mehr Persönlichkeit und Bühnenpräsenz, als sie Oliver Urbanski bieten kann. Damit fehlt dem Abend eine Ebene in Songs wie „Willkommen“, „Two Ladies“ oder ‚ „Money, Money“, die entscheidend für die Wirkung des Musicals wäre. Urbanski spielt den Conferencier einfach als lieben netten Mann von nebenan, mit gut gebautem nackten Oberkörper und perfekten Tanzschritten, aber ohne einen Schimmer von Boshaftigkeit – und ohne einen Anflug von 1920er-Jahre-Dekandenz. Man glaubt ihm die Rolle nicht, ich habe sie ihm jedenfalls nicht geglaubt.
Das gilt auch für die beiden Nebendarsteller Regina Lemnitz als Zimmervermieterin vom Nollendorfplatz, Fräulein Schneider, und Peter Kock als jüdischem Obsthändler Herr Schulz. Diese bewegende Liebesgeschichte zweiter alter Menschen – ursprünglich von Lotte Lenya (!) und Jack Gilford kreiert – braucht mehr tragische Fallhöhe und Kontur. Hier bewegt sie sich auf dem Niveau eines gemütlichen Sonntagabendfernsehfilms. Was der überwältigenden Qualität von Songs wie „Wie geht’s weiter?“ („What would you do“) oder „Heirat“ („Married“) nicht gerecht wird. Wenn man daran denkt, wer Fräulein Schneider später alles gespielt hat – von Hildegard Knef bis Judi Dench –, dann ahnt man, dass hier noch viel Luft nach oben ist.
An diese Luft nach oben erinnert Sophia Euskirchen. Weil sie die Sally als perfekte Charakterstudie präsentiert, wo man das Gefühl hat, es ist über jeden Augenaufschlag, jede Handbewegung und jedes Zurechtrücken der roten Bubikopffrisur nachgedacht worden. Kurz: Euskirchen liefert ein rundum glaubwürdiges Porträt der verrückten, verruchten, verzweifelten kleinen Sally ab. Und sie tut es vollkommen anders als Liza Minelli im Film, findet einen eigenen schnodderigen Berliner Tonfall, der atemberaubend ist. Auch die Stimme von Euskirchen ist atemberaubend. Mit dem leichten Kratzen im Timbre und der Rauchigkeit der Töne erinnert sie manchmal an Judi Dench, die vor Fräulein Schneider 1994 die erste Londoner Sally war, 1968. Davon gibt’s eine grandiose CD. An diese Sechziger-Jahre-Dench-Qualität – schauspielerisch und sängerisch – reich Euskirchen locker heran. Das kann man schon sensationell nennen.
Ich hatte Euskirchen als UdK-Studentin mehrmals gesehen und immer gut gefunden; auch im Studentenmusical Grimm an der Neuköllner Oper (und auf CD). Aber nichts hat mich darauf vorbereitet, sie in einer Hauptrolle zu solch phänomenaler Form auflaufen zu sehen. Man spürt, dass sie die Rolle wirklich verstanden hat und nicht einfach nur als dankbare Abfolge von Hit-Songs begreift: „Mein lieber Herr“, „Maybe This Time“ und „Life Is a Cabaret“. Dieses tiefere Verständnis könnte darauf zurückzuführen sein, dass Euskirchen an einer Lesetour der Isherwood-Romane mit Hans-Jürgen Schatz mitgewirkt hat, wo Atrin Madani ihr (sehr guter) Gesangspartner war. Schon damals, ohne Mikrophon, hat mich Euskirchen mit den Sally-Bowles-Liedern positiv überrascht. Im Tipi, diesmal mit Mikroport, klang ihre warme ausdrucksstarke Stimme teils etwas metallisch, was an der Soundanlage liegt, nicht an Euskirchen. Und ab und zu wurde sie von Pianist/Musikalischem Leiter Damian Omansen und der kleinen Band musikalisch ertränkt, was die Technik ebenfalls sofort hätte korrigieren können. Und was sie hoffentlich noch tun wird.
Aber letztlich ist das eine Nebensächlichkeit. Es bleibt ein totaler Triumph. An dem übrigens auch Lukas Benjamin Engel in der Isherwood-Erzählerrolle des Cliff Bradshaw Anteil hat. Er ist als Amerikaner-in-Berlin sehr glaubhaft und schafft es den Wandel vom naiven Erstbesucher zum politisch erwachten Beobachter, der angewidert von den Nazi-Aktivitäten abreist, bravourös darzustellen. Und zwischen ihm und Euskirchen stimmt die Chemie, so dass die vielen Spielszenen der beiden in ihrem kleinen Pensionszimmer größtmögliche Überzeugungskraft haben – besonders der Abschied, als Sally/Euskirchen Cliff/Engel sagt, dass sie nicht mitkommt nach Amerika und sich entschieden hat, das gemeinsame Baby abzutreiben, um weiterhin im Kit Kat Klub aufzutreten. Der Erschütterungsmoment, der sich hier einstellt zwischen den beiden, hätte sich bei etlichen der anderen Darsteller zuvor auch einstellen müssen. Tat er aber nicht.
Sehr toll waren übrigens die Kit Kat Girls: Kiara Brunken als Mausi, Paulina Plucinski als Lulu, Mogens Eggemann als Frenchie sowie Marion Wulf als Helga. Jede einzelne ein Ereignis. Das gilt auch für Torsten Stoll als Ernst Ludwig und Anja Karmanski als Fräulein Kost. Sie alle zusammen erinnern immer wieder daran, wie lohnend es ist, auch eine so lange laufende Produktion auf hohem Energieniveau zu halten. Und Sophia Euskirchen (zusammen mit Lukas Benjamin Engel) erinnert daran, dass eine regelmäßige Neubesetzung der zentralen Rollen ebenfalls lohnend ist. Allein schon deshalb, weil das die Inszenierung immer wieder neu sehenswert macht für alle, die sie in den letzten Jahren schon oftmals erlebt haben. Erwähnt werden muss, dass in der Aufführung die deutsche Übersetzung der Liedtexte von Robert Gilbert benutzt wird, das ist der Mann, der einst Im weißen Rössl und Kongress tanzt betextet hatte, später die Übersetzung von My Fair Lady. Gilbert kommt auf diesem Berlin der Zwanziger Jahre und trifft den Ton perfekt. Neben den unendlich vielen platten Musicaltexten und Übersetzungen, die derzeit kursieren, ist es eine Wohltat, diese Gilbert-Reime zu hören und daran erinnert zu werden, was Musical-auf-Deutsch sein kann. Und öfter sein sollte.
Ich bin sehr gespannt, was Sophie Euskirchen nach diesem Debüt auf einer großen Berliner Theaterbühne als nächstes machen wird. Mit dieser Sally Bowles hat sie sich jedenfalls fürs ganze große Fach empfohlen!
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Dieser Artikel spricht mir und mit mir sicher vielen anderen aus der Seele. Danke dafür!