La Belle Hélène lernt Italienisch: Studie zur Rezeption französischer Operetten in Italien 1860-90

Albert Gier
Operetta Research Center
5. März 2021

Die Operette ist in noch stärkerem Maße als die Oper ein internationales Phänomen. Die Bühnenwerke von Jacques Offenbach werden ebenso schnell zu begehrten Exportartikeln wie später die Stücke von Johann Strauss, Franz Lehár, Emmerich Kálmán und vielen anderen. Unter den zahllosen Desideraten der Operettenforschung ist die Erhellung der Transfervorgänge zwischen verschiedenen Sprachräumen und Theaterkulturen eines der dringendsten. Drei Aspekte sind dabei zu unterscheiden: einerseits die Frage nach den Vermittlern (Theaterdirektoren, Dirigenten, Sänger, Übersetzer…), die für die Verbreitung sorgten; zweitens die Reaktionen des Publikums, die sich vor allem aus Kritiken in der Presse rekonstruieren lassen; drittens die Veränderungen, die an den Werken vorgenommen wurden, um sie dem jeweiligen Publikumsgeschmack anzupassen – das reicht von Strichen, Hinzufügungen oder Veränderungen im gesprochenen wie gesungenen Text bis zur Einfügung zusätzlicher Nummern, die entweder anderen Werken des Komponisten entnommen oder nachkomponiert wurden.

Das Buch von Elena Oliva über die Pariser Operette in Italien. (Foto: Libreria Musicale Italiana)

Das Buch von Elena Oliva über die Pariser Operette in Italien. (Foto: Libreria Musicale Italiana)

Die Untersuchung von Elena Oliva hat sich zum Ziel gesetzt, „eine erste dokumentarische Übersicht zu geben, die die grundlegenden Aspekte des Assimilationsprozesses der Operette im theatralen Umfeld Italiens erhellt, ausgehend von der Ermittlung der relevanten Spielorte, des Repertoires, der Theatertruppen, die maßgeblich zur Verbreitung der Gattung beigetragen haben [= erster Aspekt], und nicht zuletzt von der Analye des Rezeptionskontexts [= zweiter Aspekt]“ (S. XVIf.).

Sie gliedert sich in drei, unterschiedlich umfangreiche Teile: Teil I beschäftigt sich mit den französischen Theatertruppen, die von 1860 bis in die 1880er Jahre Werke von Offenbach, Lecocq und anderen Komponisten in der Originalsprache auf italienischen Bühnen aufführten; der sehr kurze zweite Teil ist dem Verlagshaus Sonzogno gewidmet, das seit 1874 die Rechte an einer bedeutenden Zahl französischer Operetten besaß und die Stücke in italienischer Übersetzung publizierte. Den umfangreichsten dritten Teil bilden drei Fallstudien zum Theater in Mailand, Florenz und Neapel.

Jacques Offenbach riding his success, a caricature from a Paris newspaper.

Jacques Offenbach reitet auf seinen Erfolgen, Pariser Zeitungskarikatur.

Der erste Teil (S. 1-94) weist auf die Anwesenheit französischer Theatertruppen in Italien seit 1755 hin (S. 9); seit den 1830er Jahren war vor allem das Theater Eugène Scribes beim französischen Publikum beliebt (S. 11f.). Seit 1850 spielte die von Eugène Meynadier geleitete Truppe in verschiedenen italienischen Städten. Er engagierte Schauspieler und Sänger, die vorher (mehr oder weniger erfolgeich) an Theatern in Paris oder der französischen Provinz aufgetreten waren. Neben Opéras comiques, Vaudevilles u.ä. wurden seit 1860 auch ‚Operetten‘ (zunächst ausschließlich von Offenbach) gespielt; Les Deux aveugles, 1860 in Florenz aufgeführt, kam beim Publikum nicht besonders gut an, so dauerte es bis 1865, ehe Meynadier in Mailand mit Monsieur Choufleuri einen weiteren, diesmal von Erfolg gekrönten Versuch unternahm. Seit 1867 wurden mehraktige „Offenbachiaden“ ins Repertoire genommen; 1870 schickte Meynadier eine zweite Truppe auf Tournee, die ausschließlich Operetten spielte (S. 43), ein klares Indiz für den Erfolg des Genres beim italienischen Publikum.

In musikalischer Hinsicht waren die Aufführungen den herangezogenen Presseberichten zufolge meist zufriedenstellend (obwohl Meynadier, genau wie Nestroy in Wien, nicht das originale Aufführungsmaterial mietete, sondern den gedruckten Klavierauszug neu instrumentieren ließ). Die Truppe spielte in stehenden Theatern, wo sie ein Orchester zur Verfügung hatte. Auch die Sänger erhielten oft Lob, vermochten allerdings, so scheint es, die groteske Komik der Figuren nicht besonders gut zum Ausdruck zu bingen.

Von 1866 bis 1877 spielte auch das Ensemble der Brüder Grégoire, eine „klassische Jahrmarktstheater-Truppe“ (S. 49), die von Anfang an auch Operetten im Repertoire hatte, in Italien (vgl. S. 47-69). In markantem Gegensatz zum Unternehmen Meynadiers traten sie zunächst in einem transportablen Holztheater suf, das in den Städten, in denen sie gastierten, jeweils aufgebaut wurde; da sie dort kein Orchester zur Verfügung hatten, waren ihre Aufführungen in musikalischer Hinsicht denen Meynadiers unterlegen (S. 58), andererseits befriedigten sie eher die Schaulust des Publikums und wurden auch der Komik der Offenbachiaden eher gerecht, weil sie sich an den Konventionen des Jahrmarktstheaters orientierten.

Von 1869 bis 1874 spielten sie in Neapel in einem stehenden Theater; hier verfügten sie über ein Orchester, und die von Frau Oliva ausgewerteten Presseberichte zeigen, daß offenbar auch besser gesungen wurde als vorher. Die Repertoire-Übersicht (S. 67f.) zeigt, daß sowohl die Brüder Grégoire (seit 1872) wie Meynadier (seit 1875) neben Offenbach auch Lecocq, und vereinzelt Operetten weiterer Komponisten wie Hervé spielten.

A caricature of composer Hervé.

Der Komponist und Offenbach-Konkurrent Hervé.

Die Bedeutung anderer französischer Truppen, die für meist kürzere Gastspiele nach Italien kamen, ist geringer. – Für die Entwicklung des Urheberrechts und des Werkbegriffs ist ein Rechtsstreit von Interesse, in den die Truppe der Brüder Grégoire verwickelt wurde, als sie (erstmals 1873 in Turin) Lecoqs Fille de Madame Angot auf die Bühne brachte (S. 75f.): Die konkurrierende Truppe Leroy-Clarence, die die Rechte an diesem Werk vom französischen Verleger Brandus erworben hatte, sah ihre Prärogativen verletzt und suchte die Aufführungen zu unterbinden, aber die Richter gaben den Grégoire recht: Auch sie hatten auf der Grundlage des gedruckten Klavierauszugs eine neue Instrumentation erstellen lassen, was die beiden mit dem Fall befaßten Gerichte als legitim erachteten (!); als urheberrechtlich geschützt galt offenbar lediglich die in der Partitur enthaltene Originalfassung.

Scene from "La Fille de Madame Angot" in a newspaper.

Szene aus “La Fille de Madame Angot”in einer Pariser Zeitung.

Das zweite Kapitel (S. 79-94) ist dem 1874 gegründeten Verlagshauses Sonzogno gewidmet, das gleich zu Beginn seiner Aktivität die Exklusivrechte an einer bedeutenden Zahl französischer Operetten erwarb (vor allem von Offenbach, daneben von Lecocq, Jonas und Hervé, vgl. die Übersicht S. 79f.). Ein Grund dafür, daß Sonzogno sich auf diesen Bereich konzentrierte, dürfte gewesen sein (wie Frau Oliva sicher zu Recht vermutet, S. 82), daß Ricordi, das bei weitem bedeutendste italieische Verlagshaus, nicht auf dem Gebiet der Operette tätig war. – Sonzogno ließ italienische Übersetzungen der Textbücher anfertigen und brachte dem Publikum in zwei Mailänder Theatern, deren Intendanz er übernahm (S. 80), die Werke in seiner Muttersprache zu Gehör. Seit 1874 veröffentlichte er unter dem Titel „Teatro Musicale Giocoso“ eine Reihe von Klavierauszügen; bis 1877 erschienen 42 Bände, von denen nur sechs die Gesangsstimmen mit italienischem Text enthielten, 36 waren für Klavier solo (S. 81f.).

Vereinzelt hatte es Aufführungen von Operetten in italienischer Sprache schon vorher gegeben; als erste spielte die Truppe von Giuseppe Maria Luzi 1868 in Neapel La Bella Elena (S. 83). Seit den 1870er Jahren konstituierten sich dann zahlreiche italienische Operettentruppen, die die Franzosen verhältnismäßig schnell verdrängten. Das hatte zur Folge, daß Operette nur noch am zweitklassigen Häusern gespielt wurde (S. 91): Die Gastspiele der französischen Truppen waren ein elitäres Vergnügen gewesen, das nur die gebildete Minderheit, die französisch sprach, in vollem Umfang zu genießen vermochte, jetzt wurde die Operette eine populäre Kunstform.

Frau Oliva hat für die drei Theaterstädte Mailand, Florenz und Neapel ein vollständiges Inventar der Operettenaufführungen in französischer Sprache und italienischer Übersetzung erstellt [1]; auf dieser Grundlage zeichnet sie die Entwicklung von 1860 bis 1890 nach: Das Jahrzehnt der nationalen Einigung Italiens von 1860 bis 1871 war eine durchaus schwierige Zeit, auch für die Theater: Der Wegfall staatlicher Subventionen 1867 traf große Häuser wie die Scala in Mailand hart. Kleinere Theater boten zunehmend Massenunterhaltung (S. 102), um dem Evasionsbedürfnis Rechnung zu tragen, das angesichts der weitverbreiteten Enttäuschung über die politische Entwicklung spürbar wurde (S. 108-110). In Mailand blieben die Gastspiele französischer Truppen, besonders der Brüder Grégoire, weiter wichtig, aber seit 1874 spielte das Teatro Dal Verme Operette auch in italienischer Übersetzung (S. 124); mit 266 Operettenaufführungen bis 1890 steht es an dritter Stelle der Aufführungsstatistik, hinter dem populären Teatro Fossati (369), wo man italienisch, und dem Manzoni (268), wo man französisch sprach (S. 123-125).

Innenansicht des Teatro Dal Verme, um 1875.

Innenansicht des Teatro Dal Verme, um 1875.

Florenz war von 1865 bis 1871 die Hauptstadt des neuen Italien (bis nach der Niederlage Napoléons III gegen Preußen Rom erobert und der Kirchenstaat okkupiert werden konnte). Prägend waren hier die alljährlichen Gaststpiele der Truppe Meynadiers im Teatro Niccolini (S. 143 und ff.), seit 1874 spielten auch italienische Truppen (S. 162). Kontroversen über die Operette in der Presse entzündeten sich u.a. am Petit Faust Hervés, den Meynadiers Truppe 1870 im Teatro alle Logge aufführte (S. 149ff.); die Polemik des Kritikers Biaggi läßt durchaus antifranzösische Ressentiments durchscheinen, trat Napoléon III doch als Verteidiger der Autonomie des Kirchenstaats auf.

Die Stadt Neapel um 1870. (Foto: Giorgio Sommer)

Die Stadt Neapel um 1870. (Foto: Giorgio Sommer)

Die Situation in Neapel unterschied sich in mancher Hinsicht von der in den beiden anderen Städten: Einerseits lebten die einfachen Leute in wesentlich schlechteren Verhältnissen als im Norden, was das Unterhaltungs- und Evasionsbedürfnis noch verstärkte; andererseits hatte es im lokalen Dialekttheater immer schon aktuelle Anspielungen und parodistische Elemente gegeben (S. 182f.). Hier konnte die Offenbach-Rezeption anknüpfen, die 1868 mit einem kurzen Gastspiel der Brüder Grégoire mit La Belle Hélène begann (S. 183); schon einen Monat später spielte die Truppe des Impresarios Luzi das Stück in einer recht getreuen (S. 185f.) italienischen Übersetzung, die ihrerseits mehrfach parodiert wurde, u.a. von Petito in Na bella Elena inbastarduta infra lingua franzesa, napoletana e toscana (1869, S. 190-194); der Schluß weist übrigens eine gewisse Nähe zu Monsieur Choufleuri auf: Ein eitler, dummer Dorfbürgermeister will dieTruppe der Brüder Grégoire zu einem Gastspiel in sein Dorf locken; man führt ihm eine Gesellschaft von Schmierenkomödianten vor, die in einem mehr als makkaronischen Französisch spielen, was ihm nicht auffällt. Zum Schluß wird er übertölpelt, so daß er der Heirat seines Sohnes mit einer Schauspielerin zustimmt.

Am erfolgreichsten ist fast überall in Italien auf die 30 Jahre gerechnet die Trias La fille de Madame Angot, La belle Hélène und Orphée aux enfers, einzig in Neapel gelingt es Planquette mit Les cloches de Corneville, sich knapp vor Orphée zu schieben (S. 204). – Sehr willkommen ist ein Anhang, der die Texte der Presseartikel, aus denen Frau Oliva zitiert, noch einmal vollständig wiedergibt (S. 233-276).

Auf der Grundlage einer minutiös erstellten Aufführungsstatistik hat Frau Oliva eine Pionierstudie vorgelegt. Naturgemäß konnten ihre sorgfältigen Analysen dieses Material nicht ausschöpfen, es ist noch viel zu entdecken – man fragt sich z.B., warum Joséphine vendue par ses sœurs von Roger – übrigens ein sehr witziges, wenn auch kaum bekanntes Stück – 1887, ein Jahr nach der Pariser Uraufführung, in Mailand exakt einmal gegeben wurde!

Elena Oliva, L’operetta parigina a Milano, Firenze e Napoli (1860-1890). Esordi, sistema produttivo e ricezione, Torino: De Sono Associazione per la Musica – Lucca: Libreria Musicale Italiana 2020, XXI + 312 S.

Das Buch in italienischer Sprache kann man hier bestellen für 26,80 Euro.

[1] Chronologische Übersicht (getrennt nach Städten) unter https://www.lim.it/content/7-contenuti-online; eine Aufstellung nach Komponisten (von den überall erfolgreichsten Offenbach und Lecocq bis hinunter zu denen, von denen nur ein Werk – mitunter nur ein einziges Mal – gegeben wurde, als Anhang im Buch, S. 211-231).

Comments