Robert Quitta
Operetta Research Center
3. Februar 2023
Wien war einst Jacques Offenbachs „zweites Paris“. 89 seiner Werke wurden hier aufgeführt, einige davon sogar uraufgeführt. Diese Tradition (ja sogar das Wissen darum) ging leider nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg verloren.
Jetzt wollte es der Zufall, dass gleich zwei seiner Operetten (eigentlich ist die korrekte Bezeichnung: opéra bouffe) kurz nacheinander an zwei Wiener Theatern Premiere hatten. Lotte de Beer, die neue Intendantin der Volksoper, hatte dafür (sicher ist sicher) seinen Megahit Orpheus in der Unterwelt ausgewählt, Stefan Herheim, der neue Intendant des Musiktheaters an der Wien die weitaus weniger bekannte La Périchole.
De Beer hatte die Regie dem britischen Duo Toby Park & Aitor Basauri, das unter der Marke Spymonkey auftritt, anvertraut, was keine sehr kluge Entscheidung war. Im Vorfeld war (vor allem in den Presseaussendungen, die in letzter Zeit immer mehr PR-Communiqués gleichen) viel von Monty Python, Buster Keaton, Charlie Chaplin und „physical comedy“ die Rede. Da wurde die Latte wirklich viel zu hoch gelegt, denn gesehen hat man davon – nichts.
Gesehen hat man die Parodie einer Parodie einer Parodie, und das mit ziemlich schlechtem (eben britischem) Geschmack: Pappendeckelkulissen, Kostüme und Perücken wie aus einem uralten Fundus, billige Gags (geschorene Schafe, eine Puppentheaterschlange, pink Bobbies), ein Merkur auf dem Segway, ein äußerst bodypositiver Schäfer/Pluto mit britischem Akzent, etc…
Nein, von Monty Python war da nichts zu spüren, die Atmosphäre war eher die einer Nachmittagsvorstellung für Schüler in der englischen Provinz.
Musikalisch war es leider auch nicht viel besser. Alexander Joel dröhnte mit dem Volksopernorchester alles zu, gesanglich retteten sich eigentlich nur die wunderbare Hedwig Ritter als Eurydike, Jaye Simmons als Diana und Juliette Khalil als Cupido sowie darstellerisch die wie immer präzise Ruth Brauer als Öffentliche Meinung. Eine ärgerliche Erfahrung.
Da verließ man die Halle E, das an und für sich nicht sehr attraktive Ausweichquartier des Musiktheaters an der Wien, schon unvergleichlich viel glücklicher, fröhlicher und beschwingter.
Und das obwohl sich Regisseur Nikolaus Habjan und sein Team (Dramaturgie: Boris Kehrmann) für eine Variante der Offenbach-Behandlung entschieden haben, die ich an und für sich verabscheue: die Verkabarettisierung der Vorlage durch Hinzufügung unzähliger lokaler tagesaktueller Anspielungen, Scherzchen, Witzen und Spässchen.
Ungeachtet dessen (ich komme später darauf zurück) war der Abend ein ungetrübtes Fest für Offenbach.
Allein schon der Dirigent Jordan de Souza entlockte gemeinsam mit dem ORF Radio-Symphonieorchester der Partitur Farben und Rhythmen, die Gott sei Dank des Meisters klassische Vorbilder Haydn und Mozart durchhören ließen (und nicht etwa Jahrmarktstschinderassabummusik, wie das so oft missverstanden wird). Und das Casting (gemischt aus singenden Schauspielern und schauspielernden Sängern) war schlicht und einfach perfekt bis in die kleinste Nebenrolle.
Die „drei Cousinen“, die Würstelstandbesitzerinnen Guadalena, Berginella und Mastrilla (Tania Golden, Bettina Soriat, Alexandra Maria Timmel) waren eine wilde, wüste Wucht, das (eigentlich in der Volksoper beheimatete) Komikerduo Don Pedro und Panatellas (Gerhard Ernst und Boris Eder) ein eingespieltes Team, und Alexander Stömer als Vizekönig überhaupt die Überraschung der Produktion. Obwohl langjähriges verdientes Ensemblemitglied des Theaters in der Josefstadt, ist er daselbst eigentlich nie als Protagonist in Erscheinung getreten.
In dieser Périchole macht er aber aus dem Vizekönig Andres de Ribeira, der normalerweise als purer Bösewicht dargestellt wird, eine gespaltene, zerrissene Persönlichkeit, eine tragisch-komische Figur à la Figaro-Graf oder Don Giovanni. Und er singt auch noch gut! Hinreißend…
David Fischer ist ein hinreichend glaubwürdiger eitler und eifersüchtiger Straßensänger Piquillo, aber der absolute Star, die uneingeschränkte Herrscherin, die unbestrittene Königin des Abends ist Anna Lucia Richter als seine aus Hunger fremdgehenwollende Geliebte La Périchole.
Was die Richter, unlängst zur Mezzosopranistin mutiert, hier für eine spektakuläre Show (im positivsten Sinn!) abzieht, ist fast unbeschreiblich: sexy, erotisch, kokett, sie singt, spielt und tanzt sie sich (mit gekonnt verführerischen Moves) aus der Gosse in den Vizekönigspalast hoch. Und dann dringt aus diesem zierlichen, schlanken, blonden Persönchen auch noch eine solch kräftige Stimme mit einem dermassen betörenden dunklen Mezzo-Timbre, dass man genaugenommen vor Anna Lucia Richter als Périchole für den Rest des Abends flach auf dem Boden liegen müsste. Ein Erlebnis!
Besonders zu erwähnen auch noch das zwar trashige, aber intelligente Bühnenbild mit Wien-Bezug (Pärchen-Ampel!) von Julius Theodor Semmelmann und die witzige und originelle Bewegungschoreographie von Esther Balfe.
Nun müssen wir noch begründen, warum wir die eingangs als Einwand erwähnten österreichspezifischen Politwitzchen (hauptsächlich in Bezug auf die berüchtigte Ibiza-Affäre und die legendären, mittlerweile in den Sprachgebrauch eingegangenen WhatsApp-Nachrichten zwischen Bundeskanzler Kurz und seinem kryptoschwulen, dickpicsammelnden Adlatus Thomas Schmid) nicht weiter stören, im Gegenteil. Erstens weil die Engführung zwischen Korruption in „Peru“ und Österreich überzeugend dargestellt wird, und zweitens, weil die Auswahl der Zitate von einer großen Sachkenntnis zeugt und die Pointen immer auf den Punkt gespielt sind.
Das Wiener Publikum, erneut vom Offenbachfieber angesteckt, war jedenfalls begeistert (um nicht zu sagen: aus dem Häuschen) und hätte glaube ich nichts dagegen, wenn diese Périchole-Produktion en-suite gespielt würde bzw. die restlichen 88 in Wien aufgeführten Werke des Pariser Meisters ebenfalls in dieser Form wiederbelebt würden…