Koskys “Orphée aux enferns”: Swarovski-Genitalien auf der Suche nach der Hölle

Kevin Clarke
klassik.com
21 January, 2021

Zum Offenbach-Jubiläum 2019 spielten die Salzburger Festspiele erstmals eine Offenbach-Operette und übertrugen die Regie Barrie Kosky. Leider gaben sie ihm keine Besetzung, mit der dieser ein Wunder hätte vollbringen können.

The DVD "Orphée aux enfers" from Salzburg, 2019. (Photo: Unitel / Naxos)

The DVD “Orphée aux enfers” from Salzburg, 2019. (Photo: Unitel / Naxos)

Die drei Fragezeichen (Wieso? Weshalb? Warum?) stellen sich für mich bei dieser Salzburger-Festspiele-Produktion von Offenbachs Orphée aux enfers quasi vom ersten Ton an, den die Wiener Philharmoniker unter Enrique Mazzola spielen. Da hört man die Hirtenschalmei, mit der Offenbach 1858 seinen Original-Orpheus eröffnete, aber man hört diese Parodie einer Pastorale als elegantes (jedoch banales) Instrumentalsolo, ohne jegliche Übertreibung, ohne Schrägheit, ohne satirischen Biss. Womit die musikalische Interpretation vom ersten Moment an in die Falle tappt, vor der Carolyn Williams in ihrem großartigen Operettenbuch warnte: dass nämlich das Parodierte oft genauso klingt, wie die Parodie selbst, man kann sie leicht verwechseln. Und wenn man die Parodiemusik so spielt, dass sie exakt wie die Vorlage klingt, die durch den Kakao gezogen werden soll, dann fällt alles in sich zusammen – und der Humor bleibt auf der Strecke.

Das ist zumindest auf orchestraler Seite das, was in dieser Produktion vom ersten bis zum letzten Ton passiert in all den Menuetten, Hirtengesängen, Revolutionschören, gesummten Liebesduetten, Todesgesängen usw.. Denn hier wird Offenbachs ‚Opéra bouffe‘, mit der er weltweit den Siegeszug der neuartigen ‚sittengefährdenden‘ Musiktheaterform Operette einläutete, zu einer Art Singspiel ‚veredelt‘, womit niemandem ein Gefallen getan wird. Schon gar nicht Regisseur Barrie Kosky, dessen Umsetzung des Offenbach‘schen Orpheus-Mythos absolut nicht (!) in Richtung Veredelung oder Singspiel zielt. Im Gegenteil. Gott sei Dank.

The act one duett between Eudydice and Orpheus, sung by Kathryn Lewek and Joel Prieto, with Max Hopp (left) watching and waiting. (Photo: SF/Monika Rittershaus)

The act one duet between Eudydice and Orpheus, sung by Kathryn Lewek and Joel Prieto, with Max Hopp (left) watching and waiting. (Photo: SF/Monika Rittershaus)

Nichts Halbes und nichts Ganzes

Man könnte natürlich auch fragen: Wenn schon Orphée aux enfers auf die große Bühne der Salzburger Festspiele kommen soll als musikalisches Ereignis, wieso wird dann nicht die spätere Fassung von 1874 gespielt, wo Offenbach unendlich viel Musik – vor allem Ballettmusik – nachkomponiert hat, um aus dem Mini-Werk von 1858 eine ‚Opéra-féerie‘ in vier Akten und 12 Bildern zu machen? Da hätten die Wiener Philharmoniker ja mal ordentlich was zu tun gehabt, und Barrie Kosky hätte sich mit seinem Choreographen Otto Pichler und dessen sexy Tanztruppe austoben können nach Herzenslust. (Man kann diese Fassung nachhören auf der EMI-Aufnahme mit Michel Plasson, wo die neue Ouvertüre ein elektrisierender Knaller ist.) Stattdessen werden in Salzburg einzelne Ballettmusiken aus der 74er-Fassung eingefügt, ohne so recht zu passen oder Sinn zu machen. Quasi nichts Halbes und nichts Ganzes (Dramaturgie: Susanna Goldberg).

The EMI recording of "Orphée aux enfers" conducted by Michel Plasson. (Photo: EMI)

The EMI recording of “Orphée aux enfers” conducted by Michel Plasson. (Photo: EMI)

Denkbar wäre es auch gewesen, in Österreich zum Offenbach-Jubiläum die berühmte Nestroy-Fassung des Orpheus in der Unterwelt aufzuführen, jene Version von 1860, mit der Offenbach einst in Wien etabliert wurde, mit Nestroy höchstselbst als Jupiter (mit Wiener Dialekt) und mit einer neuen Einleitung von Karl Binder, die die meisten Menschen heute als Orpheus in der Unterwelt-Ouvertüre kennen; sie ist seit über 150 Jahren ein Konzertklassiker. Die Wienbibliothek im Rathaus hat die Originalpartitur Binders – der auch das restliche Werk neu instrumentierte und arrangierte für Nestroy – kürzlich als Handschrift erworben und ausgestellt. Diese Fassung zu spielen, statt letztlich nur das zu wiederholen, was Marc Minkowski bereits 1997 in Lyon exakt so getan hat, wie’s Mazzola/Kosky nun nachmachen, wäre innovativer gewesen, vor allem weil es aus Lyon bereits eine DVD gibt, die exzellent besetzt ist mit Dessay, Naouri und Podles.

Show statt Spieloper

Koskys Erfolgsgeheimnis bei seiner von der Komischen Oper Berlin ausgehenden Operettenrevolution ist seit 2013, dass er auf jegliche fehlgeleitete ‚Veredelungsstrategien‘ verzichtet und ‚Show‘ statt ‚Spieloper‘ macht. Teil der verweigerten Veredelung ist, dass sich bei Kosky keine Opernsänger mit dahinplänkelnder ‚schöner‘ Musik produzieren und mit den Dialogen abmühen, sondern dass er Schauspiel- und Musicalstars holte, die mit ganz anderem dramatischen Gespür an die Rollen rangehen, sie wirklich gestalten über Text, Darstellung and Tanz. Wodurch man erstmals (wieder) begriff, wie großartig die Libretti vieler Operetten sind, wie toll die Charaktere gezeichnet werden, was man da mit Witz und Bravour alles herausholen kann. In Salzburg stehen Kosky allerdings nicht seine Musen Dagmar Manzel, Max Hopp oder Katharine Mehrling zur Verfügung, sondern eine recht bunt zusammengewürfelte internationale Opernsängerriege. Die nie und nimmer durch die cleveren Dialoge von Ludovic Halévy und Hector Crémieux kommen könnten. Also fügt der Regisseur einen Erzähler ein: Max Hopp spricht alle Dialoge auf Deutsch, während die Sänger dazu den Mund auf und zu machen und sich pantomimisch bewegen. Wenn sie dann auf Französisch singen, setzt Hopp sich an den Bühnenrand und wartet. Das ist das ‚Konzept‘ dieser Produktion.

Marcel Beekman as Aristée/Pluton (left) with Kathryn Lewek and Max Hopp in "Orpée aux enfers" at the Salzburg Festival, 2019. (Photo: SF/Monika Rittershaus)

Marcel Beekman as Aristée/Pluton (left) with Kathryn Lewek and Max Hopp in “Orpée aux enfers” at the Salzburg Festival, 2019. (Photo: SF/Monika Rittershaus)

Da Max Hopp ein großartiger Schauspieler und Entertainer ist, funktioniert das halbwegs. Aber man merkt dank Hopp auch doppelt intensiv, was er (!) kann und was alle anderen offensichtlich nicht (!) können: mit komischem Timing Witze servieren, mit Unterstatement maximale Effekte herausholen und im Gesang (Hopp singt den Prinz von Arkadien) eine Geschichte zu erzählen. Und zwar eine interessante Geschichte, der man durch sämtliche Strophen gebannt lauscht!

Miss Piggy auf Speed

Der semi-prominente Opernnachwuchs – Kathryn Lewek als Eurydice und Joel Prieto als Orphée – singt in einem angenehmen Einheitston, aber ohne Gespür für Nuancen, an denen Mazzola offensichtlich mit niemandem gefeilt hat. Und besonders Lewek rennt dazu wie eine Miss Piggy auf Speed durch die Kulissen, wodurch dieser Versuch einer Muppet-Show-Ästhetik sehr schnell sehr ermüdend wird. Und das sage ich als absoluter Muppet-Show-Fan. Auch sonst: große Töne (Lea Deandre als Vénus et al.), die dem Sex im Wege stehen, um den es im Stück um eheliche Untreue und Vergnügungssucht geht und den Kosky auch explizit betonen will. So turnt denn Martin Winkler mit üppigem Wagner-Bassbariton und heraushängendem Mini-Glied als zur Fliege verwandelter Göttervater durchs Fliegenduett mit Eurydice. Beide chargieren dabei so stark, dass man vor lauter Kopulation und Bespringen nicht mehr mitbekommt, worum es sonst noch geht. Denn so eindimensional ist Offenbachs Musik nie, wie hier vorgeführt. Trotz der Drastik und bis zum Exzess gesteigerten Tollheit, die Zeitgenossen am Komponisten und einen Ur-Darstellern schätzten bzw. verteufelten.

Watch out for the Swarovski: the cancan dancers in "Orphée aux enfers" at the Salzburg Festival, 2019. (Photo: SF/Monika Rittershaus)

Watch out for the Swarovski: the cancan dancers in “Orphée aux enfers” at the Salzburg Festival, 2019. (Photo: SF/Monika Rittershaus)

Später trägt die Tanzgruppe für den Höllengalopp mit Swarovski-Steinen besetzte Genitalien unter den Cancan-Röcken, vermutlich ein Verweis auf Cora Pearl, die als berühmteste Kurtisane des Zweiten Kaiserreichs einst im Orphée auftrat als Cupido: nackt und nur mit Diamanten besetzten Sandalen. Während Miss Pearl jedoch eine Sensation war, über die sogar die Zeitungen in England berichteten und für deren Auftritte Offenbachs Théâtre des Bouffes-Parisiens vielfach erhöhte Eintrittspreise verlangte, die die High Society bereitwillig zahlte, bekommt man in Salzburg zwar auch hohe Eintrittspreise und viel High Society, aber trotz Swarovski ‚nur‘ Nadine Weissmann als Cupido. Sicherlich kein Vergleich zu Miss Pearl.

Famed courtesan Cora Pearl as Cupid in the "Orphée" revival, Paris 1867.

Famed courtesan Cora Pearl as Cupid in the “Orphée” revival, Paris 1867.

Bleiben Marcel Beekman als Aristée/Pluton, der zumindest Ansätze von Gestaltung erkennen lässt, während Anne Sofie von Otter als L’Opinion publique vor allem eins ist: langweilig. (Sie hat im zweiten Teil noch ein eingefügtes Chanson, auf das man bei dieser Art der Interpretation getrost hätte verzichten können.)

Schlammschlacht auf Twitter

Was bleibt? Musikalisch ist diese Aufführung mit den Wiener Philharmonikern und einer Sängerschar, die keinen interessanten Offenbach-Stil findet, eine beliebige Allerweltsvorstellung. Max Hopp ist der Star, der den Abend aber im Alleingang nicht retten kann. Und Kosky/Pichler bemühen sich um Drive und Frechheit, scheitern aber an einer Besetzung, die keine Ahnung hat, wie so etwas umzusetzen wäre. Die Versuche, es trotzdem mit Hyperenergie zu tun, führten 2019 zu einer ‚Fat Shaming‘-Twitterschlammschlacht zwischen Lewek und Kritiker Manuel Brug, die aber nur vom Eigentlichen ablenkte… dass schön singen eben nicht reicht, wenn man Offenbach zum Festspielereignis machen will. (Die Schlammschlacht wurde übrigens von Lewek entfacht und befeuert, nicht von Brug.)

Insofern empfehle ich eher die Produktion aus Lyon für alle, die den Orphée auf Französisch sehen wollen. Es gibt aus der Deutschen Oper Berlin eine Aufzeichnung auf DVD, wo zwar nicht die komplette 1874er-Fassung gespielt wird, aber sehr viel mehr davon als in Salzburg/Lyon. In der Regie von Götz Friedrich erlebt man eine beindruckende Besetzung mit Hans Beirer, Astrid Varnay, Julia Migenes et al., die deutlich Spaß an der Sache und mehr Bühnenpräsenz haben als die Salzburger Crew.

DVD cover of the Berlin "Orpheus" production by Götz Friedrich.

DVD cover of the Berlin “Orpheus” production by Götz Friedrich.

Faszinierender Ansatz

Vom eigentlichen Kosky-Operettenzauber und seinem faszinierenden Ansatz, das Genre ernst zu nehmen und neuerlich interessant zu machen, spürt man auf der DVD dieses Orphée aux enfers nur eingeschränkt etwas. Dabei wäre das Stück an sich perfekt für eine Kosky-Lesart. Dann hätte aber Adam Benzwi die musikalische Leitung übernehmen und mit den Solisten tatsächlich an der musikalischen Ausgestaltung der Partien arbeiten müssen (wie in Berlin), und dann hätten wohl auch Manzel & Co. als Unterstützung für Hopp anrücken müssen, um zu zeigen, wie man Operette ‚spielt‘, und zwar rundum, nicht nur als ‚Erzähler‘.

Das nachzuholen würde lohnen, denn hübsch anzusehen sind die Dekors von Rufus Didwiszus und Kostüme von Victoria Behr durchaus. Warum jetzt ausgerechnet dieser Orphée auf DVD rauskommt, während von den Kosky-Operettengroßtaten Ball im Savoy, Die Perlen der Cleopatra und Eine Frau, die weiß, was sie will nach wie vor keine DVDs erhältlich sind, bleibt ein Geheimnis der Musikindustrie.

Den Originalartikel auf klassik.com kann man hier lesen.

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