Operette und Musicals in der DDR: Ein Gespräch mit Werner P. Seiferth vom Metropoltheater

Kevin Clarke
Operetta Research Center
7. Februar 2021

Übers Thema Operette in der DDR wird in letzter Zeit wieder mehr gesprochen. 2012 gab es in der Ausstellung Welt der Operette erstmals eine eigene Abteilung dazu, im Katalog einen Grundsatzaufsatz von Roland Dippel. Neben diversen Einzelartikeln in den Folgejahren erschien dann im Dezember 2020 das von Wolfgang Jansen herausgegebene Buch Popular Musical Theater under Socialism, während Anfang 2020 die Semperoper Dresden vorm Corona-Lockdown eine Matinee zum Heiteren Musiktheater der DDR anbot, die vom MDR übertragen wurde. Wir wollten mehr zu den praktischen Hintergründen der DDR-Spielplangestaltung wissen und sprachen darüber mit Werner P. Seiferth. Der aus Leipzig stammende Sänger, Regisseur und Theaterleiter war ab 1958 an den Theatern Halle, Meiningen, Borna, Karl-Marx-Stadt, Stralsund tätig. 1980 wechselte er zunächst als Orchesterdirektor ans Metropoltheater in Ost-Berlin, dem er bis 1997 verbunden blieb und wo er später Intendant wurde. Seiferth lebt heute als über 80-Jähriger in der Nähe von Berlin.

Gisela May als in "Hello Dolly" am Metropoltheater, 1970. (Foto aus Jost Lehnes "Admiralspalast: Die Geschichte eines Berliner 'Gebrauchs' Theaters", be.bra Verlag)

Gisela May in “Hello Dolly” am Metropoltheater, 1970. (Foto aus Jost Lehnes “Admiralspalast: Die Geschichte eines Berliner ‘Gebrauchs’ Theaters”, be.bra Verlag)

Hallo Herr Seiferth. In der Spielzeit 1964/65 wurde am Metropoltheater Kiss Me, Kate erstmals aufgeführt, 1966 folgte My Fair Lady als Broadway-Import, 1970 Hello Dolly – alles Musicals aus dem kapitalistisch-imperialistischen Westen, die nicht wirklich zum Ideal des propagierten Sozialistischen Realismus passten. Von wem wurden solche Stücke damals ausgesucht, wer musste sie genehmigen, und wer bezahlte die West-Tantiemen?
Zunächst wurde so etwas mit den künstlerischen Vorständen im Haus besprochen. Wenn jemand z.B. den Wunsch äußerte, Hello Dolly zu spielen, wurde das im Hause geklärt. Und dann kam es auf den Spielplanentwurf. Der ging wiederum an die sogenannte Repertoirekommission beim Ministerium. Die musste entscheiden: ja oder nein.

Es gibt ja wahnsinnig viele Broadway-Musicals, wonach wurde ausgewählt?
Das war ganz unterschiedlich. In den frühen Jahren der DDR ging bekanntlich überhaupt nichts. Das erste Stück, das ans Metropoltheater kam, war Kiss Me, Kate: ein Durchfall. Dann folgte 1966 My Fair Lady als großer Erfolg, der das Genre etablierte. Wieso dieser Titel? Es ging hauptsächlich darum, dass man von der anderen Seite, von der man ja nichts hören durfte, doch gehört hatte, dass das ein Bestseller war. Schließlich kam My Fair Lady schon 1961 – kurz nach Mauerbau – im West-Berliner Theater des Westens raus und schlug ein wie eine Bombe. Man kannte in der DDR die Melodien. Und natürlich ist My Fair Lady ein sehr gutes Stück, nach der Vorlage von George Bernard Shaw. Da hat das Metropoltheater gesagt, da müssen wir uns auch drum bemühen.

Poster für die "My Fair Lady"-Produktion am Metropoltheater, 1966.

Poster für die “My Fair Lady”-Produktion am Metropoltheater, 1966.

Welches Ministerium musste ja sagen?
Für die Spielplangenehmigung war das MfK zuständig, das Ministerium für Kultur. Wenn die zustimmten, führten sie auch selbst die Verhandlungen mit den West-Verlagen. Im Fall von My Fair Lady gab es mehrere Interessenten in der DDR, nicht nur das Metropoltheater. Das Ministerium trat also an den Verlag heran und erklärte, es gäbe sechs bis sieben DDR-Theater, die das Stück gern spielen würden. Daraufhin wurde geklärt, welche Konditionen heraus zu handeln wären. Solche Verhandlungen liefen sehr unterschiedlich. Im Fall von Felix Bloch Erben ging es relativ reibungslos, bei amerikanischen Verlagen nicht. Uns als Einzeltheater ging das Ganze in diesem Stadium nichts an, weil das Ministerium sich um die finanziellen Rahmenbedingungen kümmerte. Später hatten die Finanzen dann in unserem Fall nichts mit dem MfK zu tun, sondern mit unserer nächsten übergeordneten Dienststelle. Das war der Magistrat von Ost-Berlin, Abteilung Kultur bzw. Abteilung Finanzen. Die teilten uns pro Kalenderjahr ein bestimmtes Kontingent Westgeld zu, in dessen Rahmen wir uns bewegen durften.

Als ich in den 1980er-Jahren am Metropoltheater war, bewegte sich das in einer Größenordnung von 30.000 Mark im Jahr. Wir hatten ein großes Haus, und die Tantieme richtet sich bekanntlich nach der Anzahl der Zuschauer. Bei fast 1.500 Sitzplätzen wird das bei einer ausverkauften Vorstellung ziemlich teuer. Also konnten wir uns ausrechnen, wie oft wir einen West-Titel spielen konnten. Bei günstigeren Konditionen natürlich öfter.

Poster für die "My Fair Lady"-Produktion in Gera, 1967.

Poster für die “My Fair Lady”-Produktion in Gera, 1967.

Am schwierigsten war es bei Anatevka. Darauf hatte viele Jahre Walter Felsenstein ein Vorrecht für die Komische Oper, da war überhaupt nichts zu machen. Deshalb haben wir am Metropoltheater das Stück erst spät gespielt, 1993 in einer Inszenierung von Joachim Franke. In dem Fall hatte das nichts mit Geld zu tun, sondern damit, dass der US-amerikanische Originalverlag mit Felsenstein eine Exklusivabmachung hatte.

Wie kam denn Felsenstein zu solch einem Direktvertrag?
Felsenstein hat sich selbst drum gekümmert, der ist nach Amerika gefahren. Der konnte das ja. Er hat das persönlich ausgehandelt und für die Komische Oper gekriegt. Zu den besonderen Bedingungen zählte der Titel. An der Komischen Oper lief das Stück als Der Fiedler auf dem Dach, er durfte den Titel Anatevka nicht benutzen. Grundsätzlich waren solche Vereinbarungen von Stück zu Stück verschieden, man kann da nichts generalisieren. Außer, dass man sagen kann: Wenn Sie das Geld hatten, konnten Sie ein Stück machen, wenn Sie kein Geld hatten, dann halt nicht. Wenn man an Hello Dolly mit Gisela May denkt, dann war das ein Bestseller. Allein schon von der Besetzung her. Aber manchmal war einfach Schluss, weil das Geld ausging. Dann wurden Dolly-Aufführungen ausgesetzt für die letzten drei Monate des Jahres, und der Titel kam erst im Januar zurück, vorausgesetzt dass es neues West-Geld gab.

Waren die bewilligten 30.000 Mark vom Magistrat zu Ihrer Zeit eine feste Summe oder schwankte das von Jahr zu Jahr?
Das schwankte. Aber es war meist um die 30.000 Mark. Das kam immer darauf an, was der Magistrat selbst für Möglichkeiten hatten. Der musste mit Devisen ja alles Mögliche finanzieren, nicht nur das Metropoltheater. An der Staatsoper Unter den Linden mussten die ganzen Richard-Strauss- und Puccini-Aufführungen abgegolten werden, das war damals alles noch nicht rechtefrei, das kostete Devisen. Bei der Staatsoper kam hinzu, dass die auch noch West-Gäste hatten, Sänger und Dirigenten, die bezahlte werden mussten. Das Problem hatten wir nicht, mit unseren 30.000 Mark wäre das auch gar nicht zu machen gewesen. Wir hatten das Geld nur für Tantiemen und Materialleihgebühren, die auch nicht gerade billig waren und pro Monat abgerechnet wurden. D.h. die 30.000 Mark waren schnell weg. Mehr als maximal zwei Weststücke im Jahr gingen nicht.

Wie oft konnten Sie die dann ungefähr spielen?
Solange bis das Geld alle war. (lacht) Der Verwaltungsdirektor war manchmal froh, wenn Vorstellungen nicht ausverkauft waren, dann war nämlich die Tantieme niedriger.

Wie mussten Sie denn im Ministerium Stücke verteidigen, die Sie ausgewählt hatten? Und kamen manche West-Stück nur in „sozialistischer“ Umarbeitung in Frage?
Mit Umarbeitungen ist das so eine Sache, denn da muss der Verlag einverstanden sein, sonst geht das nicht. Da es sich bei Musicals fast immer um neuere Werke handelte, gab es Urheber- und Leistungsschutzrechte. Sie konnten also My Fair Lady nicht einfach bearbeiten, das war vertraglich verboten. Die Verträge waren meist so abgefasst, dass man nicht in das Werk eingreifen durfte, was man ja teilweise mit klassischen Werken machte oder in der Oper, denen eine neue Handlung übergestülpt wurde. Wir mussten uns im Normalfall an die Version und Inszenierungsvorgaben der Uraufführung in Amerika halten.

Maria Alexander und Horst Schulze in "My Fair Lady" am Metropoltheater, 1966. (Foto: Horst E. Schulze, aus dem Buch "Theater in Berlin nach 1945: Musiktheater", Stiftung Stadtmuseum Berlin / Henschel Verlag)

Maria Alexander und Horst Schulze in “My Fair Lady” am Metropoltheater, 1966. (Foto: Horst E. Schulze, aus dem Buch “Theater in Berlin nach 1945: Musiktheater”, Stiftung Stadtmuseum Berlin / Henschel Verlag)

Heißt das, dass Sie bei der Auswahl von amerikanischen Stücken darauf geachtet haben, besonders unpolitische Stücke zu nehmen?
Politische Stücke hätten wir bei der Repertoirekommission gar nicht erst vorgeschlagen, wir lebten schließlich in der realen Welt und wussten, was eventuell genehmigt wird und was weltfremd wäre. Also haben wir manche Vorschläge gar nicht erst gemacht. Wir hatten allerdings auch gar keinen richtigen Überblick, was es auf dem US-Markt gab. Es war sehr schwierig zu erfahren, was am Broadway gemacht wurde. In der DDR gab es bekanntlich keinen Zugang zu westlichen Publikationsorganen. Man kriegte keine Kataloge, keine Fachzeitschriften, nichts. Das Ganze lief übers Hörensagen. Manchmal kamen Regisseure mit Musical-Wünschen, die wurden überprüft. Oft war’s aber schon schwer Ansichtsmaterial zu bekommen, um das Stück wenigstens zu lesen. Anschließend wurde ein begründeter Antrag eingereicht, und dann musste man warten. Wir haben beispielsweise lange Zeit nicht die West Side Story bekommen. Am Metropoltheater ist das Stück erst Ende Januar 1990 rausgekommen. Leipzig durfte es aber schon 1984 machen, d.h. die Situation war auch innerhalb der DDR unterschiedlich.

Lag das am Verlag oder Kultusministerium?
Im Fall von West Side Story war es vermutlich so: Leipzig hatte einen Generalintendanten namens Karl Kayser, der war Mitglied des ZK. Wenn der das Stück für sein Theater durchsetzen konnte und es für andere blockierte, dann konnten sie es halt nicht spielen. (lacht)

The famous DDR production of "West Side Story" with Dagmar Schellenberger as Maria and Stephan Spiewok as Tony. (Photo: Dagmar Schellenberger)

“West Side Story” in Leipzig mit Dagmar Schellenberger als Maria und Stephan Spiewok als Tony. (Foto: Archiv Dagmar Schellenberger)

Warum wurde denn West Side Story vor den 1980er-Jahren so lange abgelehnt? Die Botschaft im Stück würde ja gut zu den Amerika-kritischen Idealen der DDR passen, außerdem wird der Rassismus der US-Gesellschaft thematisiert…
Das wussten wir natürlich, und das haben wir auch alles in unsere Begründung geschrieben. Aber es gab keine Rechte für West Side Story bzw. erst sehr spät. Wir haben die West Side Story Anfang 1989 genehmigt gekriegt. Bis die Verträge abgeschlossen waren und die Besetzung stand, Bühnenbilder fertig waren usw., war’s dann Januar 1990 als die Premiere stattfand.

Das heißt, die Genehmigung kam noch vorm Mauerfall?
Ja, sie kam kurz vorm Ende der DDR. Wir haben nie genau erfahren, warum Leipzig das Stück spielen durfte und wir so lange warten mussten. Es wurde vom Ministerium nein gesagt, und das hieß nein. Das musste nicht begründet werden.

Das heißt, die Ablehnung von West Side Story hatte nichts damit zu tun, dass das Stück zu teuer war?
Die Tantiemen waren eigentlich immer gleich bei US-Werken, obwohl ich zugeben muss, dass sie bei West Side Story besonders hoch lagen. Weil Leonard Bernstein Sonderkonditionen hatte. Dadurch waren die Tantiemen bei 12 Prozent statt zehn. Das wurde normalerweise in der DDR nicht gezahlt.

Wer hat denn die Stücke vorstellen müssen beim Ministerium?
Das war der Intendant mit dem Chefdramaturgen an seiner Seite. Diese Gespräche waren sicherlich oft sehr „lustig“. Aber ich kann nur spekulieren, was den Herren alles abgelehnt wurde.

Das Metropoltheater im Admiralspalast, 1968. (Foto aus Jost Lehnes "Admiralspalast: Die Geschichte eines Berliner 'Gebrauchs' Theaters", be.bra Verlag)

Das Metropoltheater im Admiralspalast, 1968. (Foto aus Jost Lehnes “Admiralspalast: Die Geschichte eines Berliner ‘Gebrauchs’ Theaters”, be.bra Verlag)

Wieso kam denn ausgerechnet Hello Dolly auf den Spielplan? Das ist ja ein sehr altmodisches Stück…
Das hatte einen ganz einfachen Grund. Es gab den berühmten Kessel Buntes im Fernsehen. Und da war Louis Armstrong 1965 Gast und sang den Titelsong. Das kam sehr gut an. Und da hat Gisela May wohl gesagt, das würde sie auch gerne mal singen.

In der DDR kam es darauf an, wer für wen wo kämpfen konnte. Die May hatte viele Widersacher, aber sie hatte auch Fürsprecher. Es war klar, dass wenn Hello Dolly bei uns kommt, dann nur mit der May. Obwohl sie gar nicht bei uns engagiert war. Sie war Gast, und das war eigentlich bei uns nicht üblich. Trotzdem war die Produktion an Gisela May gebunden. Erst später – nach der Wende – wurde das Werk ohne diese Prämisse nochmal neu gespielt.

Wie wurden denn Stücke verteilt, wenn verschiedene DDR-Bühnen in unterschiedlichen Städten sich darum bemühten?
Das war ganz unterschiedlich. Bei My Fair Lady war es so, dass das Stück am Anfang beschränkt war auf vier oder fünf Theater. Denen wurde gesagt, dass sie’s jetzt spielen könnten, aber nicht ewig. My Fair Lady ist ja ein Stück, das man nie absetzen muss. Das läuft immer gut. Trotzdem mussten Bühnen es irgendwann vom Spielplan nehmen, weil die nächsten fünf Bühnen dran waren. Das legte das Ministerium fest. Ich hatte z.B. Annie Get Your Gun in Stralsund geplant, und dann musste ich zwei Jahre warten, weil insgesamt nur drei DDR-Theater das Werk spielen durften. Und andere waren schneller. Ich musste also die erste Aufführungsserie anderswo abwarten, bevor ich dran kam. Das hing manchmal mit den West-Verlagen zusammen: Wenn die merkten, dass ein Stück nicht mehr so lief im Westen, waren sie großzügiger bezüglicher der Konditionen, weil sie dachten, dann könnten sie wenigstens noch im Osten etwas Geld machen. Das waren teilweise willkürliche marktwirtschaftliche Überlegungen. Manchmal gab’s einfach kein Material, weil das anderswo unterwegs war und die Verlage kein neues herstellen wollten.

Otto Schneidereit war lange Jahre Dramaturg am Metropoltheater und einer der wichtigsten Vordenker fürs Genre Operette und Heiteres Musiktheater in der DDR. 1978 ist er in Leipzig gestorben. Ich habe mal gelesen, es sei Selbstmord gewesen. Wissen Sie dazu mehr?
Nein, ich kann nur sagen: Otto Schneidereit war natürlich eine Instanz. Von ihm war das erste Operettenbuch, das es in der DDR gab. Er hat auch verschiedene Biografien geschrieben zu Richard Tauber, Fritzi Massary, Franz Lehár und Eduard Künneke. Mit ihm gab es irgendwann am Metropoltheater Zoff, er ist also im Krach weggegangen. Allerdings lange vor meiner Zeit, deshalb kenne ich die Zusammenhänge nicht. Ihm wurde unterstellt, er habe das Metropol-Archiv kopiert und in Privatbesitz überführt. Das kann ich nicht beurteilen. Natürlich hatte er die Finger überall drin. Und es stimmt, er war dann plötzlich tot. Aber ob das Selbstmord war, kann ich nicht sagen.

Otto Schneidereit im Jahr 1956.

Otto Schneidereit im Jahr 1956.

Schneidereit hat sich theoretisch mit dem Heiteren Musiktheater auseinandergesetzt. Wie viel haben Sie als Theaterleiter von solchen theoretischen Debatten mitbekommen?
Das wurde ja in allen Dienstberatungen durchgekaut. Natürlich habe ich das mitbekommen. (lacht) Was das Heitere Musiktheater betrifft, war ja das Metropoltheater mehr oder weniger das Zentrum. Es ging hauptsächlich ums zeitgenössische DDR-Schaffen. Wir hatten mehrere „Wochen des DDR-Musicals“ am Metropoltheater. Wir haben etwa 20 Stücke in der DDR entwickelt, bei denen es darum ging, sich von West-Importen frei zu machen. Die Partei hätte es am liebsten gesehen, wenn wir ausschließlich selbst entwickelte Stücke gespielt hätten, als Spiegel der sozialistischen Gesellschaft. Und diese Stücke mussten besser sein als das, was aus dem Westen kam. Denn dann bräuchten wir den Westen erst gar nicht! Das war aber ein Trugschluss, denn das Publikum wollte trotzdem My Fair Lady sehen und Hello Dolly. Es gab in der DDR im Prinzip nur drei erfolgreiche eigene Stücke. Das waren Gerd Natschinskis Messeschlager Gisela und Mein Freund Bunbury sowie von Guido Masanetz In Frisco ist der Teufel los, vielleicht noch von Gerhard Kneifel Bretter, die die Welt bedeuten. Alles andere lief nicht gut. Das waren zeitgenössische Werke, wo die Leute nicht reingingen. D.h. die DDR-Musicals waren nicht besonders erfolgreich, obwohl es Sommertourneen gab und Aufführungen für Arbeitergruppen…

A scene from "In Frisco ist der Teufel los," 1962.

Szene aus “In Frisco ist der Teufel los”, 1962.

Wie kann man Erfolg in der DDR messen, wenn es keinen freien Kartenverkauf gab?
Doch, doch, es gab freien Kartenverkauf. Es gab natürlich „Anrecht“, das war die Grundsäule. Es gab mehrere Anrechtsreihen, aber selbst da merkte man, dass die Reihen dünner wurden bei bestimmten Titeln. Es gab jedoch keine Vorstellung, wo nur Anrecht-Besucher drin waren. Das war immer mit freiem Verkauf gemischt. Und da kann man Erfolg ganz schnell messen. Wir hatten zum Beispiel ein Stück von Béla Szakcsi-Lakatos und Géza Csemer, das hieß Die rote Karawane: Leben und Traum der Zigeuner, das war gar nicht aus der DDR, sondern ein Import aus einem befreundeten sozialistischen Nachbarland. Ein schreckliches Stück. Man hat sofort am Kassenrapport gesehen, dass das nicht ging. Ich glaube, das schaffte nicht mal zehn Abende, bevor es abgesetzt wurde. Heute würden wir sagen, es rechnet es sich nicht. Den Begriff gab’s aber in der DDR nicht, denn da ging’s nach Kulturpolitik. Und kulturpolitisch musste die Rote Karawane eben gespielt werden, das war klar.

Welchen Einfluss hatte die Kulturpolitik darauf, wie lange solche Stücke im Spielplan blieben?
So was wurde immer im Kollektiv besprochen. Da gab’s eine Theaterleitung, zu der der Intendant zählte, seine Stellvertreter, der ökonomische Direktor, die Regisseure und die Dramaturgen. Die haben zusammen gefragt: Was machen wir mit dem Stück? Manchmal entschieden wir uns für „Alibi“-Aktionen: Wir setzten einen Titel im Monat nur einmal an, damit er nach außen auf den Spielplan blieb. Da war’s dann zwar genauso leer wie vorher. Aber wenn man daneben noch andere populäre Stücke hatte, funktionierte das einigermaßen. Da wir ein Repertoiretheater waren und immer zirka 12 bis 14 Titel im Spielplan hatten, konnten wir einen Ausfall wie Rote Karawane 1979 in der Inszenierung von Hans-Joachim Martens verkraften.

Wie funktionierte in der DDR die Absprache mit den anderen Theatern, besonders was neue Werke anging?
Wenn ein Stück wie In Frisco ist der Teufel los sich durchsetzte – also ein Titel, der am Metropoltheater entwickelt und uraufgeführt wurde –, dann musste das in der DDR nicht weiter abgesprochen werden. Das war eher eine Frage des Verlages, ob der genug Material hatte für weitere Aufführungen. Denn in der DDR gab’s auch das Problem der Papierkontingente, Druckgenehmigungen usw. Das waren heikle Fragen. Wenn der Verlag kein Papier hatte, konnte er auch nicht nochmal 20 Klavierauszüge nachdrucken. Frisco ist im Laufe der Jahre mehrmals nachgedruckt worden, weil das Stück von allen Theatern permanent gespielt wurde, ebenso Messeschlager Gisela und vor allem Mein Freund Bunbury. Das waren die DDR-Bestseller, da war die Materialfrage irgendwann geklärt.

Aber wenn man anfangs noch nicht genau wusste, wie ein Stück einschlägt, das man an seinem Haus entwickelte, dann gab’s erst mal nur hauseigenes Material, das wir unter vorsintflutlichen Verhältnissen vervielfältigt haben. Die Textbücher usw. kann man heute teils nicht mehr lesen, weil alles verblichen ist. Es gab viele Eintagsfliegen, die nach zwei Spielzeiten vergessen waren und wo das Material nicht wirklich aufbereitet wurde, um Verbreitung zu finden.

Poster for "Mein Freund Bunbury" at the Metropol Theater in East-Berlin, 1973.

Poster für die “Mein Freund Bunbury”-Neuproduktion am Metropoltheater, 1973.

War es bei der Entwicklung von neuen Stücken ein Thema, wie nahe (oder nicht nahe) Komponisten bzw. Autoren der SED standen?
Das Kriterium war: Wer wollte und konnte Heiteres Musiktheater schreiben? Und zwar so, dass wir’s auch aufführen konnten. Manche Sachen haben unsere Dramaturgie nie verlassen, weil wir dachten, das konnten die Autoren nicht ernst meinen. Das waren jedoch künstlerische Kriterien, das hatte mit der Partei nichts zu tun. Und dann gab’s neu entwickelte Stücke, die uns interessierten, wo wir über Details diskutieren mussten, die genehmigt werden mussten, beispielweise Orchesterbesetzungen. Ich erinnere mich an eine Runde mit einem Komponisten, wo unser Orchesterdirektor sagte, er hätte bestimmte Instrumente gar nicht, die vorgesehen waren. Also ging das so nicht. Das hatte aber nichts mit Parteinähe zu tun. Wenn Leonard Bernstein allerdings für die DDR ein Musical mit fünf Trompeten geschrieben hätte, hätten wir die fünfte Trompete sicher auch von ganz oben genehmigt gekriegt. (lacht)

Hat das Kulturministerium während einer laufenden Spielzeit kontrolliert, was am Theater gemacht wurde?
Es kann sein, dass sie bei der Staatsoper Einwände bei einzelnen Inszenierungen hatten und der Intendant genötigt wurde, Produktionen aus dem Spielplan zu nehmen. Das ist bei uns aber nie der Fall gewesen. Denn bei uns hätte das Ministerium gar keinen direkten Zugriff gehabt, das hätte wie gesagt über den Magistrat gehen müssen. Da gab’s schon mal Quälereien wie „Warum spielt ihr das so wenig und jenes so viel?“ Da konnte man aber ganz einfach sagen: „Schau dir das Kassenbuch an, und dann weißt du warum!“ Man konnte keine Diskussionsbeiträge in dieser Richtung ablehnen, da wäre man sofort angeeckt. Jeder wusste, wie die Partei die Dinge gerne wollte; das war die eine Sache. Die andere Sache war, was an der Kasse ging.

Wir haben uns damit arrangiert, dass es zwischendurch immer wieder Abende geben würde, wo an der Kasse nichts ging. Das wurde eingeplant und nicht weiter drüber gesprochen. Was sollte man dazu auch sagen? Wir hatten zum Beispiel 1976 einen Riesenerfolg mit Orpheus in der Unterwelt, das hatte kein Mensch vorausgesehen. Das gleiche gilt für Frau Luna 1975, übrigens in der alten Schneidereit-Fassung. Und dann gab’s andere Stücke wie Bolero von Eberhard Schmidt, eine sogenannte neue sozialistische Operette – schrecklich! Die Musik war noch schrecklicher. (lacht) Das Stück kam im September 1974 zurück ans Metropoltheater in einer Inszenierung von Wilfried Serauky, direkt vor Show Boat im Dezember 1974 in der Inszenierung von Hans-Joachim Martens. Da ist das Publikum weggeblieben. Da konnte man Pamphlete schreiben und Diskussionen veranstaltet, so viel man wollte. Wenn die Kasse mitteilte, es wurden wieder nur zehn Karten verkauft, konnte man nichts machen. Außer als Maßnahme Vertreter der Nationalen Volksarmee in die Vorstellung setzen. Aber das war eine ganz große Ausnahme.

Man konnte an der Realität, dass der werktätige Mensch sagte, dafür gebe ich mein Geld nicht aus, nichts ändern. Und das, obwohl in der DDR Theaterkarten spottbillig waren. Eigentlich waren Eintrittspreise kein Thema, und mit Anrecht war es noch billiger. Man konnte für 4 Mark jeden ordentlichen Platz im Haus bekommen. Vergleichen Sie das mal mit heutigen Eintrittspreisen für Musicals!

Poster für di Originalproduktion von "Bolero" am Metropoltheater, 1952.

Poster für die Originalproduktion von “Bolero” am Metropoltheater, 1952.

Viele Historiker haben die 1980er-Jahren in Bezug aufs Heitere Musiktheater und die Operette als „Ausverkauf der Werte“ beschrieben, weil plötzlich Titel auftauchten, die lange verpönt waren – weil in der Nazi-Zeit uraufgeführt oder als dekadent eingestuft.
Als ich 1980 ans Metropoltheater kam war Natschinski noch Intendant, aber nicht mehr lange. 1981 kam schon Peter Czerny. Und er hat den Spielplan in Richtung spätbürgerliche Operette geöffnet. Wir spielten dann plötzlich Im weißen Rössl, Gräfin Mariza, Graf von Luxemburg, Zwei Herzen im Dreivierteltakt und solche Sachen, die zu Hans Pitras Zeiten weitgehend aus dem Repertoire verschwunden waren. Aber das war nun gewollt!

Von wem war es gewollt?
Von der Partei. Das steht zwar in keinem Lehrbuch, aber es war so: Wenn wir eine spätbürgerliche Operette spielten, dann wollten die Parteistellen alle Premierenkarten. Bei klassischen Operetten oder zeitgenössischen DDR-Werken war deren Interesse sehr beschränkt. Aber wenn wir Im weißen Rössl spielten, dann wollten sie plötzlich alle kommen. Entsprechend war das einer der ersten Titel, den Czerny im März 1982 ansetzte. Das Stück lief bei uns jahrelang als Bestseller, obwohl es – genau wie all die anderen spätbürgerlichen Operetten – West-Geld kostete, denn die Rechteinhaber saßen im Westen.

Haben Sie dafür mehr Geld vom Magistrat bekommen?
Die 30.000 Mark, die ich vorhin erwähnte, beziehen sich auf diese Zeit. Das Metropoltheater hatte vorher sicher weniger. Das hing immer damit zusammen, wie die DDR bei Kasse war – und sie war meistens schlecht bei Devisen-Kasse. (lacht)

Würden Sie sagen, dass es zwischen 1980 und 1989 eine bestimmte allgemeine Entwicklung am Haus gab, die Ihnen auffiel?
Der Czerny hat die spätbürgerliche Operette wieder installiert. Das amerikanische Musical wollte er lange Zeit verhindern bzw. an die Peripherie drücken. Dass wir 1989 die West Side Story erst so spät genehmigt bekamen, hatte garantiert etwas mit Czerny zu tun. Denn er liebte diese amerikanische Richtung nicht. Das ging soweit, dass unser Oberspielleiter daraufhin seine Position zur Verfügung stellte, weil der diesen Kurs nicht mitmachen wollte. Er sagte immer wieder, wir bräuchten die spätbürgerliche Operette nicht mehr! Ansonsten ist es richtig, die Jahre 1980-89 waren Jahre des Niedergangs. Es passiere nichts mehr. Jeder hielt sich an seiner Stelle fest. Das war eine schreckliche Zeit.

Woran merkten Sie den Niedergang?
Schauen Sie doch nur auf unsere Oberste Heeresleitung: das Politbüro. Das waren alles Greise, die wollten, dass sich um Gottes Willen nichts ändert. Und dass bloß nichts Revolutionäres aufkommt. Die untergeordneten subalternen Beamten haben sich derweil gesagt: Nur nicht auffallen, damit wir unsere Pfründe sichern können. Das war eine allgemeine Entwicklung und hatte nicht speziell etwas mit Kultur zu tun. Die DDR ging systematisch ihrem Ende entgegen, es hat nur niemand gesagt. Erich Honecker behauptete, die Mauer stünde noch in 100 Jahren und der Sozialismus sei das Beste, was es gäbe. Es hat ihm bloß niemand mehr geglaubt. Aber vor 1988 ist deswegen kein Mensch auf die Straße gegangen, um etwas zu verändern.

Gingen mit dem Siegeszug der spätbürgerlichen Operette die Werke des Heiteren Musiktheaters am Metropoltheater zurück?
Wir haben diese Bezeichnung selbst nicht verwendet. Es gab die Repertoireblöcke „Klassische Operette“, „Klassisches Musical“ und „Zeitgenössische Werke“. Letztere sind nie zurückgegangen, weil die Partei immer Wert darauf legte, dass diese Sparte bedient wurde. Auch wenn dabei manchmal ganz furchtbare Sachen herauskamen. Ich habe zum Beispiel eine Uraufführung zum 40. Jahrestag der DDR verhindert, weil das Stück so schlecht war: Es war eine Musical-Version von Ein irrer Duft von frischem Heu, basierend auf der DEFA-Filmkomödie von 1977, die wiederum auf dem erfolgreichen Lustspiel von Rudi Strahl basierte. Es gab darin singende Parteisekretäre usw. – wirklich grässlich.

Da kamen während der Proben die Darsteller zu mir und sagten, es könne doch nicht unser Ernst sein, so etwas zu spielen. Ich habe mir daraufhin zwei Proben angeschaut und mit dem Regisseur sowie Dramaturgen diskutiert. Und anschließend entschieden, das Stück abzusetzen. Damals war Czerny zur Kur, der hätte das natürlich nie so entschieden. Denn die Absetzung eines solchen Stücks war politisch hochbrisant. Als Czerny zurückkam, gab es eine große Auseinandersetzung. Aber es war schon 1989, da fielen keine Entscheidungen mehr, bei denen Köpfe rollten.

Wenn im Oktober 1989 die Mauer gefallen ist und die Wiedervereinigung erst Ende 1990 stattfand: Wer war in der Zwischenzeit fürs Metropoltheater zuständig?
Theoretisch war es noch der Magistrat von Ost-Berlin, den gab’s ja noch. Aber der stand unter Anleitung des Senats von West-Berlin. Das nannten wir damals „Maggie-Senat“. D.h. eigentlich hatte der Magistrat das Sagen, aber wenn jemand vom Westberliner Senat kam und anordnete, dass etwas nicht stattfinden sollte, dann fand es nicht statt. Es war eine irrwitzige Situation. Czerny war da schon weg. Stattdessen hatte ich als sein Nachfolger deswegen schlaflose Nächte.

Wieso war Czerny weg?
Er ist ihm Rahmen der allgemeinen revolutionären Erhebungen rund um den Mauerfall gegangen. Er hat im Winter 1989/90 bei einer Vollversammlung im Haus die Vertrauensfrage gestellt und ist eindeutig entpflichtet worden vom Ensemble. Daraufhin wurde er krank und kam nicht wieder. Aus der Krankheit wurde er schließlich in die Rente geschickt. Ich war sein Stellvertreter, deshalb rückte ich 1990 auf. Nach der Wende – die ja eher war als die Wiedervereinigung – sorgte der West-Berliner Senat dafür, dass beim Ost-Berliner Magistrat die Köpfe rollten. Da flog der gesamte SED-Kader raus, und Anfang 1990 wurden neue Leute eingesetzt.

1989 wurde Eberhard Diepgen (CDU) als Regierender Bürgermeister von West-Berlin abgewählt, und plötzlich gab’s einen rot-grünen Senat. Da wehte ein völlig anderer Wind. Der neue Kultursenator war der parteilose Ulrich Roloff-Momin, der von der SPD nominiert worden war. Mit ihm habe ich gern zusammengearbeitet. Viele wissen nicht, dass von Anfang an beschlossen war, dass das Metropol kein staatliches Theater bleibt. Es gab verschiedene Versuche, das Haus zu verkaufen oder zu privatisieren. Das hat alles nicht geklappt. Wir haben uns nur dadurch so lange über Wasser gehalten, dass ich zu Roloff-Momin einen guten Draht hatte und weil ich den Bogen nie überspannt habe. Ich habe niemals Forderungen gestellt, zu denen er nein hätte sagen müssen. Ich wusste schließlich, was ich mir ungefähr leisten konnte und was nicht. Dadurch haben wir die Zeit überstanden, bis 1996 René Kollo kam. Er hat das Haus dann als Privatunternehmer geführt, aber nach elf Monaten das Handtuch geworfen. Das war vorauszusehen.

In vielen Theatern der DDR wurden die Intendanten nach der Wende ausgetauscht und oft mit West-Leuten ersetzt. Wie konnte das so schnell funktionieren, wenn Deutschland noch gar nicht wiedervereinigt war?
Es war damals ein gesetzesfreier Raum. Die DDR-Gesetze galten nicht mehr. Die neuen Gesetze galten noch nicht, weil wir noch nicht Teil der Bundesrepublik waren. Und letztlich waren es die Ensembles selbst, die Revolution spielten. Die Forderung, dass die SED-Intendanten verschwinden mussten, die kam aus den Ensembles. Und zwar in der gesamten Republik. Das wurde oft bei Vollversammlungen beschlossen, und dann waren die Herren auf einmal weg. Bei uns am Metropol habe ich immer vom „Revolutionsrat“ gesprochen. Es gab ja keinen Personalrat, die Gewerkschaft gab’s auch nicht mehr, der FDGB (Freie Deutsche Gewerkschaftsbund) war sofort erledigt mit Mauerfall. Der hauptamtliche BGL-Vorsitzende (Betriebsgewerkschaftsleitung) musste das Theater verlassen, ebenso der hauptamtliche Parteisekretär. Das ging ganz fix. Die Kaderabteilungen, die mehr oder weniger Erich Mielke unterstanden, wurden abgeschafft, daraus wurden später Personalabteilungen. Und die Intendanten, die mehrheitlich SED-Leute waren, wurden raus gedrängt. Das war eigentlich völlig ungesetzmäßig. Aber es wurde Tabula rasa gemacht.

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