Robert Quitta
Operetta Research Center
20. April 2024
Irgendwie stehen die in Amerika entstandenen Werke emigrierter Komponisten (ob Korngold, Weill oder Kálmán etc.) in unseren Landen immer noch unter Generalverdacht: Verrat an der deutschen Hochkultur, Ausverkauf an die „minderwerige“ amerikanische Unterhaltungsindustrie (Korngold! Filmmusik!!) und, um das Maß voll zu machen, auch noch die Chutzpe, damit Erfolg gehabt und sogar („geldgierige Juden!“) Geld verdient zu haben …
Diese Vorurteile erschwerten bis verunmöglichten es bis heute, selbst ausgewiesenen Meisterwerken wie Kurt Weills Lady in the Dark nach dem Krieg in Deutschland und Österreich wirklich Fuß zu fassen (Arizona Lady wurde ja in der Schweiz uraufgeführt).
Emmerich Kálmáns „romantic musical“ Marinka erging und ergeht es nicht anders. Trotz oder wegen der Tatsache, dass es die erfolgreichste Exil-Operette war (21 Wochen am Broadway!), harrt es bis heute einer würdigen szenischen Aufführung in unseren Breitengradn.
Nun ist es ja Ulrich Lenz, dem neuen Intendanten der Grazer Oper, hoch anzurechnen, den Marinka-Abend von der Komischen Oper (wo er früher Chefdramaturg war) in leicht veränderter Besetzung nach Österreich – leider wieder nur für zwei Vorstellungen – übernommen zu haben.
Allerdings nur in der in Berlin erstellten Schrumpffassung: nur vier Protagonisten, maximal die Hälfte der Musik, halbszenisches „Getue“ vor dem Orchester frontal an der Rampe.
Verdienst hin oder her: Ich werde es nie verstehen, warum gerade jene Intendanten (in Ischl, Berlin, Baden oder eben in Graz), die diesen vernachlässigten Werken (Schön ist die Welt, Sternengucker etc.) Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, sie sozusagen wie den armen räudigen Vetter aus Dingsbumsda behandeln und ihn quasi beim Gesinde auf dem Boden im Stall schlafen lassen. Es ist wie eine self-fulfilling prophecy: denn danach kann man dann rechtschaffen erstaunt und entrüstet darüber sein, dass z.B. die Grazer Oper dabei trotz dieses populären Sujets (= Mayerling) und der wahrlich nicht publikumsunfreundlichen Musik gähnende Leere im Zuschauerraum aufwies. Ein Jammer.
Wie man es nicht nur gut meint, sondern auch gut macht, hat erst unlängst Sebastian Ritschel am Theater Regensburg mit seiner Prinz von Schiras-Produktion bewiesen: wenn man in ein vernachlässigtes und eher unbekanntes Werk genauso viel Liebe, Leidenschaft und auch Geldmittel steckt wie in eine x-beliebige Fledermaus, dann schlägt es völlig zu Recht ein wie eine Bombe, begeistert auch die Unwissenden – und wird in Regensburg der Nachfrage nach zu beurteilen, auch noch laaaange laufen.
Aber kehren wir zurück zu Marinka: Nach all dem wenigen zu beurteilen, das wir in dieser „Trockenmilch“-Fassung gesehen und gehört haben, handelt es sich um ein wirklich großartiges „romantic musical“. Marinka ist der Kosename für Baronin Mary Vetsera, und die Geschichte ist die der (oftmals verfilmten) Tragödie von Mayerling. Niemand geringerer als Karl Farkas versah die blutige Geschichte hier mit einem Happy-End. (Ich liebe Happy Ends! Es gibt sogar Fassungen von Aida, Otello und Romeo und Julia, die gut ausgehen).
Kaiser Franz Joseph tritt hier jedenfalls höchstpersönlich auf, veranlasst Sohn und Geliebte, einen Doppelselbstmord nur „vorzutäuschen“ und schickt das Pärchen stattdessen nach Amerika, wo es in Connecticut (of all places!) ein spießiges, aber glückliches und vor allem langes Leben führen kann.
Also allein diese Story ist schon sehr lustig, nicht minder lustig sind aber auch die Gesangstexte von George Marion Jr.: Reime wie „the amazon with its pyjamas on“ brauchen sich hinter solchen wie „Leidenschaft/ heiß wie Gulaschsaft“) keineswegs zu verstecken. Erwähnenswert ist auch „Old Danube River“: der Song eine hinreißende Hommage und Persiflage auf den weltberühmten „Ol‘ Man River“ aus Show Boat, Text von Oscar Hammerstein II, mit dem Kálmán 1927 das Broadwaymusical Golden Dawn geschrieben hatte. Da schließen sich viele Kreise.
Der absolute Showstopper des ganzen Stücks ist aber die gefühlte 15 Minuten lange Comedy-Nummer „When I auditioned for the harem of the Shah“. Die in ihren Anzüglichkeiten unübertroffenen Lyrics wirken ein wenig wie die Vorwegnahme der großen Arie der Alten Dame aus Bernsteins Candide, zehn Jahre später. Vielleicht saß Lenny ja im Winter Garden Theatre bei einer der Vorstellungen von Marinka…
Leider wurde dieses Highlight in Graz versemmelt, indem man es Anna Brull anvertraute. Die sieht zwar blendend aus und singt auch hervorragend, ist aber eine Opernsängerin, sodass man trotz Mikrofonverstärkung kein Wort verstand… was den ganzen Harem-Witz hinfällig machte.
Ruth Brauer-Kvam als Mary Vetsera, Matthias Koziorowski als Kronprinz Rudolph und Peter Bording als „Bratfisch“ taten ihr Bestes, standen aber in diesem Kontext letztlich auf verlorenem Posten.
Nur Musicalfachmann Koen Schoots rettete, was zu retten war und bereitete Kálmáns Musik – der hier seinen 1928 mit Herzogin von Chicago eingeschlagenen Weg konsequent fortsetzt – einen prachtvollen orchestralen Rahmen.
Lieber Herr Lenz, danke für diese Kostprobe! Bei der nächsten Rarität, auf die wir uns schon jetzt freuen, bitte nicht am falschen Platz sparen, sondern uns ungekürzte Originalfassungen mit Nägeln und Köpfen präsentieren, in dem ursprünglichem Glanz, mit der ursprünglichen Glorie, die sich diese Stiefkinder der Operetten nach ihrer langen Leidensgeschichte nun wahrlich verdient haben. Danke im Voraus.
Weitere Informationen finden sich hier.
Ik heb beide voorstellingen gezien en mijn man en ik hebben juist een tegengestelde mening. Venus in Seide haalt het niet bij Marinka, dramaturgisch noch muzikaal. Venus in Seide zorgt er voor dat operette in Nederland als “oubollig” wordt beschouwd terwijl ik verwacht dat een jong publiek Marinka juist zeer zou waarderen mede gezien de tijdsduur . Maar ieder heeft zijn eigen mening natuurlijk.